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Titel2218

Bemerkungen

Vision: Hambi und RWE besetzen

Die Demonstrationen von IG Bergbau, Chemie, Energie und Ver.di für die Rodung des Hambacher Forstes kommen einem wie eine Zeitreise in die 1980er und 1990er Jahre vor, in denen Energiekonzerne Demos ihrer Belegschaften für den Erhalt von Arbeitsplätzen in Atomkraftwerken organisierten. Während der Arbeitszeit und wahrscheinlich auch mit Überstundenzuschlägen und Verpflegung durch das Unternehmen.

 

Dabei ist klar: Sorgen haben die RWE-Arbeiter nicht ohne Grund. »Wie werden Arbeitsplätze erhalten?« – die Frage ist berechtigt. Aber es stellen sich noch andere Fragen: Warum verkürzt RWE nicht die Arbeitszeit auf 30 Stunden pro Woche bei vollem Lohnausgleich, wenn der Konzern den Beschäftigten etwas Gutes tun will? Warum kann die Arbeitszeit nicht für Ideenwerkstätten genutzt werden, um Alternativen zum Kohlestrom und so Konzepte für nachhaltige Arbeitsplätze zu entwickeln?

 

In der Energiebranche geht es aber um mehr – um die Frage, »was« produziert wird: Welche Produkte, welche Dienstleistungen sollen angeboten werden? Eine Energieversorgung, die in dieser Form von den Kunden nicht gewünscht wird, gefährdet Arbeitsplätze. Auch in anderen Branchen gibt es wenige Mutige, die diese Diskussion führen wollen: Warum soll Kunden Software zur Überwachung angeboten werden? Warum sollen wir Programme erarbeiten, mit denen gesetzliche Bestimmungen umgangen werden wie etwa beim Diesel-Software-Skandal? Warum sollen Maschinen hergestellt werden, die Militärs dienen?

 

Sind diese Ideen naiv? Nicht naiver als die Hoffnung, durch Demonstrationen während der Arbeitszeit auf »sichere Arbeitsplätze« zu hoffen. Oder, um mit Bertolt Brecht zu antworten: »Sollten Sie dies für utopisch halten, so bitte ich Sie, darüber nachzudenken, warum es utopisch ist.«                

 

Marcus Schwarzbach

 

 

 

Repatriierung

Von hunderten Afrikanern, die den sechs Meter hohen, von der EU bezahlten Grenzzaun zwischen Marokko und der spanischen Enklave Melilla am 21. Oktober überwunden hatten, repatriierte Spanien 55 umgehend am Folgetag nach Marokko – eine vornehme Umschreibung für die Abschiebepraktiken der Regierung der Partido Socialista Obrero Español (PSOE) des Ministerpräsidenten Pedro Sánchez.

 

Bei der Überwindung des Zauns kam ein Migrant durch Herzstillstand ums Leben. Weitere mussten wegen schwerer Verletzungen im Krankenhaus von Melilla behandelt werden. Mehr als 300 Afrikaner, vor allem aus Staaten südlich der Sahara, hatten den Zaun gestürmt. 140 von ihnen stellten einen Asylantrag.

 

Bereits am 20. Oktober hatte der spanische Innenminister Fernando Grande-Marloska mit seinem marokkanischen Kollegen Abdelouafi Laftit verhandelt, um den Migrationsdruck von den Enklaven Ceuta und Melilla zu nehmen. Ein Abkommen über eine »legale und geordnete Einwanderung« ist geplant.                    

 

Karl-H. Walloch

 

 

 

Wir wissen, was geschieht

In den vergangenen 25 Jahren sind mehr als 35.000 Menschen auf der Flucht nach oder in Europa gestorben. Die Liste der belegten Fälle wird von dem Bündnis UNITED for Intercultural Action in Amsterdam geführt, verzeichnet werden Asylsuchende, Geflüchtete und Migrant*innen, »die aufgrund der restriktiven Politik der Festung Europas zu Tode kamen«. Die meisten der aufgelisteten Menschen ertranken im Mittelmeer, es werden aber auch solche verzeichnet, die sich in Europa selbst getötet haben, weil sie durch die Fallstricke der Bürokratie, durch zu lange Wartezeiten oder Angst vor Abschiebung zermürbt worden sind.

 

Die Dunkelziffer der Ertrunkenen ist mindestens um ein Dreifaches höher, wie verschiedene Seenotrettungsorganisationen vermuten. Noch einmal doppelt so hoch wird laut Richard Danziger, Direktor der U.N. International Organization for Migration für West- und Zentralafrika, die Zahl der Menschen vermutet, die in der Sahara (vor allem in Niger und Mali) auf dem Weg nach Norden sterben und keine Spur hinterlassen. Hinzurechnen muss man auch die Toten, die in den Milizen- und Schlepperlagern und in den Gefängnissen der von Europa und den Vereinten Nationen anerkannten Teilregierung Libyens sterben.

 

Das Hauptaugenmerk der europäischen und deutschen Politik scheint weniger auf der zur Worthülse gewordenen »Bekämpfung der Fluchtursachen« als vielmehr vorrangig in der Bekämpfung von flüchtenden Menschen und ihren Fluchtbewegungen zu liegen.

 

Das Abkommen mit der Türkei ist ein Beispiel dafür, wie die Europäische Union riesige Summen zahlt, um Menschen fernzuhalten. Wenn aber die Lebensbedingungen unerträglich sind, bleiben Menschen auf der Flucht nicht einfach stehen, sondern suchen sich neue Aus-Wege, darunter inzwischen auch viele türkische Staatsbürger.

 

Zum Scheinheiligsten gehören die Abkommen der EU mit der libyschen Regierung, die nur einen Teil des Landes regiert, zum Ausbau der Küstenwache. Schutzsuchende und Schutzbedürftige sind Gewalt, Hunger, Vergewaltigung, Sklaverei ausgesetzt. Sie werden erpresst und ausgeraubt. »Die Menschen, die die libysche Küstenwache abfängt, werden fast ausnahmslos in die Gefangenenlager gebracht. Das führt dazu, dass noch mehr Menschen in Libyen unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten werden. Das darf die EU nicht verstärken. [...] Libyen ist kein sicherer Ort für die Menschen. [...] Libyen ist ein rechtsfreier Raum, es herrscht völlige Straflosigkeit. Die EU muss da klare Maßstäbe vorgeben. Es darf keine Toleranz für Folter geben.« Das sagt Hanan Salah von Human Rights Watch in einem Interview mit der Zeit. Aber es darf auch nicht sein, dass unschuldige Männer, Frauen und Kinder überhaupt in Gefängnissen (und in Libyen auf unbestimmte Zeit) festgehalten werden, nur weil sie schutzlos sind. In welchem Zustand der 22-jährige Segen Tesfalidet Tesfon im März 2018 nach 18 Monaten in Libyen mit anderen auf dem Mittelmeer gerettet wurde, ist unfassbar. Der Bürgermeister der Stadt Pozallo sagte: »Sie waren alle Haut und Knochen, es war, als ob sie aus einem Konzentrationslager der Nazis gekommen seien. Verzweifelte Menschen, unterernährt: es war schrecklich. Ihr körperlicher Zustand machte uns wirklich sprachlos: Skelette, Männer, Frauen und Kinder ohne ein bisschen Fett, nur noch Knochen.« Segen wurde vom Schiff ins Krankenhaus geflogen, aber konnte nicht mehr gerettet werden.

 

Europa, das sind deine Toten!

 

Niemand soll einmal sagen: Wir haben es nicht gewusst.

 

Dass die Gefahren, denen Menschen auf der Flucht ausgesetzt sind, bekannt sind, zeigt der Globale Pakt für Migration der UNO-Vollversammlung, der im Dezember unterzeichnet werden soll. Er setzt sich für den Schutz und die Menschenrechte von Flüchtlingen und Migranten ein, ist aber rechtlich nicht bindend.

 

Die komplette Liste der bis 30. September 2018 registrierten 35.597 Toten wird nun als Buch beim Berliner Hirnkost Verlag herauskommen. Hinter jeder Zahl steht ein Mensch. Die meisten Toten sind ohne Namen verzeichnet. Im Gespräch mit Geflüchteten haben Kristina Milz und ich Namen recherchiert, über einige der Toten Porträts geschrieben und Berichte von Überlebenden und einige Fotos der Gestorbenen aus Lebzeiten eingefügt.

 

Am Internationalen Tag der Menschenrechte, dem 10. Dezember, soll das Buch deutschlandweit kostenlos verteilt werden, in Buchhandlungen, Bibliotheken, Kirchen, von Initiativen, im Einzelhandel. Begleitend dazu veranstalten Initiativen, Kirchen, Universitätsinstitute und die Seenotrettungsorganisation Sea-Eye unter anderem Marathonlesungen, Andachten und Messen, Podiumsdiskussionen.

 

Auf der Website https://flucht.hirnkost.de sind weitere Informationen, ein Blog zum Thema, alle Verkaufs- und Ausgabestellen, die Termine der Veranstaltungen und die Projektbeschreibung (auch auf Arabisch, Italienisch, Englisch und Französisch) zu finden.

 

Gleichzeitig zum Buch erscheinen im Hörbuchverlag DerDiwan die Liste sowie alle Porträts und Gastbeiträge, gesprochen von 25 Schauspieler*innen, den Herausgeberinnen, sowie den Autor*innen der 18 Gastbeiträge. Einer der Gastbeiträge stammt vom Ossietzky-Mitherausgeber Rolf Gössner.

 

Anja Tuckermann

 

Kristina Milz/Anja Tuckermann (Hg.): »Todesursache: Flucht. Eine unvollständige Liste«, Hirnkost Verlag, 462 Seiten, 3,99 €, Erstverkaufstag: 1. Dezember 2018

 

 

 

Walter Kaufmanns Lektüre

Ich stelle mir vor, wie junge Leser, die jüngst erst den Roman »Das siebte Kreuz« entdeckt haben (es dürften jährlich nicht wenige sein, denn dieser Roman bleibt jung), auf Monika Melcherts kleine Monographie »Wilde und zarte Träume« reagieren werden: wohl mit Bewunderung für Anna Seghers, mit Hochachtung, mit Staunen über ihren Mut und ihre literarische Leistung angesichts der tödlichen Gefahren, denen sie sich nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Paris ausgesetzt sah, sie, die aus Deutschland geflüchtete Kommunistin, Jüdin und Frau eines Kommunisten.

 

Was Monika Melchert in schönem, schlichtem Deutsch geschrieben hat, erzählt von Ängsten, von schlaflosen Nächten in zahllosen Verstecken, von den Nöten einer Mutter zweier Kinder, deren Vater die französischen Behörden festgenommen und als feindlichen Ausländer interniert hatten, und zeigt, wie Anna Seghers bei all dem künstlerisch tätig blieb, ihr die Schreibarbeit wie ein Schutzschild wurde, sie in überfüllten Pariser Cafés, inmitten von Stimmengewirr die Abläufe von »Das siebte Kreuz« gestaltete, dessen Drucklegung ungewiss war und von dem sie nicht ahnte, nicht zu ahnen wagte, dass ein Welterfolg im Werden war. Beim Lesen von Monika Melcherts Monographie werden die jungen Bewunderer des Romans auch auf Sagen und Märchen stoßen, die Anna Seghers damals geschrieben hat, sie werden von jenen Sagengestalten wie der Göttin Artemis oder dem Räuber Woynok hören und erkennen, wie gegenwärtig sie waren und geblieben sind. Und ganz sicher werden sie erstarren (wie ich erstarrte), wenn sie lesen, dass Anna Seghers’ vierzehnjähriger Sohn den einzigen in Paris verbliebenen Schreibmaschinendurchschlag des Romans »Das siebte Kreuz« verbrannte, um seine Mutter vor möglichen Repressalien der in Paris patrouillierenden Nazis zu schützen. Es war das erste Mal, so schildert es Monika Melchert, dass der Junge die Mutter weinen sah – sie wusste, dass ein anderer Durchschlag schon verloren war, und sie befürchtete, dass die Originalfassung, die sie nach Amerika geschickt hatte, den Empfänger nie erreichen und darum das gesamte Werk vernichtet sein würde. (Tatsächlich jedoch lag das Original schon in New York zur Übersetzung und Veröffentlichung vor und sollte bald in Hollywood verfilmt werden – wovon Anna Seghers keinerlei Mitteilung hatte.) Aufatmen werden die jungen Leser erst, wenn sie erfahren, dass sie mit ihrem Mann und den Kindern schließlich aus Frankreich über die Meere nach Mexiko fliehen konnte – in ein Land, wo schon viele antifaschistische Flüchtlinge freundliche Aufnahme gefunden hatten und Anna Seghers den Roman »Transit« vollenden konnte und eine Reihe von Erzählungen, darunter »Der Ausflug der toten Mädchen« – ein zu Herzen gehender Rückblick auf ihre Jungmädchenjahre am Rhein.                                             

 

W. K.

 

 

Monika Melchert: »Wilde und zarte Träume. Anna Seghers – Jahre im Pariser Exil 1933-1940«, Bübül Verlag, 94 Seiten, 15 €

 

 

 

Dreitausend Tulpen

Wenn früher, also in jener Epoche, die inzwischen fast dreißig Jahre zurückliegt, an einem Samstag Menschen aus freien Stücken zusammenkamen, um gemeinschaftlich zu arbeiten, hieß das Subbotnik. Das kam aus der Mode wie das Land, aus dem der Begriff stammte. Subbota (суббота) heißt nämlich Sonnabend, und den Subbotnik hatte Lenin 1919 als Bezeichnung für einen unbezahlten Arbeitseinsatz am Wochenende erfunden. Natürlich erfolgten auch in der DDR diese Subbotniks nicht freiwillig, wie wir inzwischen belehrt wurden, es herrschte »ein beträchtlicher Druck« (Wikipedia).

 

Den verspürten übrigens auch mehr als fünfzig Berliner, weshalb sie Anfang November zum Zentralfriedhof Friedrichsfelde zogen, um die ein wenig vernachlässigte Anlage für Opfer des Faschismus und Verfolgte des Naziregimes in Ordnung zu bringen. Sie entsorgten das Herbstlaub und steckten dreitausend Tulpenzwiebeln auf und zwischen die Gräber.

 

Der Druck, den sie verspürten, rührte allerdings nicht nur von der Verantwortung für das antifaschistische Erbe, sondern auch aus der Gegenwart. Man kann und muss auf die Straße gehen, um gegen Neonazis, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus laut zu demonstrieren. Es gibt aber auch andere, leisere Formen, um Protest und Haltung zu bekunden. Beispielsweise Tulpenzwiebeln stecken und an tote Antifaschisten erinnern und ihre Gräber pflegen. Das ist zwar wenig spektakulär und dennoch ein unmissverständliches Zeichen.

 

Auf diese Idee kam man in der Modrow-Stiftung, der sich der Förderkreis der deutschen Arbeiterbewegung und die Berliner VVN-Bund der Antifaschisten anschlossen. Und so zogen denn junge und alte engagierte Zeitgenossen an einem Samstag zu einem mehrstündigen – freiwilligen wie politischen – Arbeitseinsatz auf jenen Friedhof, auf dem sich auch die Gedenkstätte der Sozialisten befindet. Gekommen waren beispielsweise der ehemalige DDR-Botschafter in Japan, Nachkommen von KZ-Überlebenden und von Familien, die die Nazis ins Exil getrieben hatten, Honeckers Begleiter bei den Gipfeltreffen mit Breshnew auf der Krim, die juristische Beraterin der Bundestagsfraktion der Linken, der Chef einer Vereinigung, die sich der rechtlichen und humanitären Unterstützung von Ausgegrenzten und Verfolgten verpflichtet fühlt, sowie deren Geschäftsführer ... Natürlich beugte auch der 90-jährige einstige DDR-Ministerpräsident, der der Stiftung seinen Namen und die Idee für diese Aktion gab, seine Knie.

 

Am Rande des Gräberfeldes blies unterdessen einer die Trompete. Sein Repertoire war zwar erstaunlich umfangreich, doch weil sich der Einsatz hinzog, schmetterte er mehrmals die Marseillaise und andere motivierende und mobilisierende musikalische Botschaften, um Druck zu erzeugen.

 

Und zwischendurch, wie sich das für einen Subbotnik gehört, gab es – na, was wohl? – Soljanka.         

 

Frank Schumann

 

 

Eine Ohrfeige mit Folgen

Das Jahr 1968 war voller Ereignisse, welcher es sich zu erinnern lohnt. Hierzu gehört auch die wohl berühmteste Ohrfeige des 20. Jahrhunderts. Sie erhielt der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger auf dem CDU-Parteitag am 7. November in der Berliner Kongresshalle. Beate Klarsfeld, eine mutige junge Antifaschistin, die einige Jahre zuvor den französischen Rechtsanwalt und Holocaustüberlebenden Serge Klarsfeld in Paris geheiratet hatte, verpasste sie ihm mit den Worten: »Nazi! Nazi!« Bereits im April desselben Jahres hatte sie ihn von der Zuschauertribühne des Bonner Bundestages öffentlich zum Rücktritt aufgefordert. Kiesinger war schon im Februar 1933 der NSdAP beigetreten und ab 1940 im Außenministerium des faschistischen Staates stellvertretender Leiter der rundfunkpolitischen Abteilung sowie Verbindungsmann zum Reichspropagandaministerium von Goebbels.

 

Noch am selben Tag, an dem Kiesinger geohrfeigt wurde, verurteilte ein Gericht Beate Klarsfeld zu einem Jahr Gefängnis, die Strafe wurde im Berufungsverfahren 1969 auf vier Monate reduziert und zur Bewährung ausgesetzt. Eingeschüchtert hat Klarsfeld das in keiner Weise. Bis heute hält sie die Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden wach. Ihr und ihrem Mann ist es zu verdanken, dass die faschistischen Mörder Kurt Lischka und Klaus Barbie vor Gericht gestellt und für ihre Untaten verurteilt wurden. Die BRD brauchte lange, um ihr Engagement zu würdigen.

 

Erst im Jahr 2015 erhielt Klarsfeld das Bundesverdienstkreuz. Da hatte sie in ihrer Wahlheimat Frankreich schon manche staatliche Ehrung bekommen. Kiesinger überstand den Ohrfeigenskandal letztlich nicht. 1969 wurde Willi Brandt Bundeskanzler.                 

 

Ralph Dobrawa

 

 

 

Kurt-Tucholsky-Gesellschaft 30

Dass sich die Mitglieder des nach dem Satiriker, Publizisten und zeitweiligen Weltbühnen-Chefredakteur benannten Vereins jährlich zu einer Tagung mit einem anspruchsvollen Thema und aktuellen Bezugnahmen versammeln, ist längst Tradition. 2018 – nach 30-jährigem Stehvermögen – in Leipzig. Die Nützlichkeit der Gesellschaft beweist sich jedoch nicht nur anhand von Bestandsjubiläen. Davon zeugen Konferenzthemen nicht weniger als die Persönlichkeiten, die seit 1995 mit dem »Kurt Tucholsky-Preis für literarische Publizistik« geehrt worden sind: vom ersten Preisträger Konstantin Wecker über Daniela Dahn und Deniz Yücel bis Sönke Iwersen im Jahr 2017.

 

Just also Tagung in Leipzig, zu Lebzeiten des Dichters nicht gerade einer seiner häufigsten Aufenthaltsorte. Aber immerhin Bach-, Goethe-, Bücher-, Konferenz- und Messestadt, Theater- und Musikmetropole mit Völkerschlachtdenkmal und friedlichen Revolutionserfahrungen, Schauplatz heftiger juristischer Systemauseinandersetzungen zwischen Göring und Dimitroff im Reichstagsbrandprozess und bei der Verurteilung Carl von Ossietzkys und Walter Kreisers im »Weltbühnen-Prozess«. Und spitzzüngiges Kabarettzentrum in und zwischen den Zeiten. Außerdem Premierenort des im September 1932 von Hasenclever und Tucholsky verfassten Theaterstücks »Christoph Columbus«, das Eduard Schynol mit seiner Tucholsky-Bühne im neuen Jahrtausend in Minden und Berlin wieder auferstehen ließ. Das alles passte zum streitbaren Autor und zum verhinderten Juristen Tucholsky. Und es gehörte sich, die Atmosphäre des heutigen Bundesverwaltungsgerichtes einzufangen, auch wenn die Führung des originell-sachkundigen Vermittlers das Doppelte der veranschlagten Zeit einnahm.

 

So war dann auch das Konferenzthema »Was darf die Satire? Bemerkungen aus der Perspektive des deutschen Verfassungsrechts« kein Fehlgriff, und sowohl der Leipziger Verfassungsrechtler Kurt Faßbender als auch der Mindener Strafverteidiger Bernd Brüntrup gaben den Affen genügend Zucker. Die Begriffe Grundgesetz, Verfassungsschutz, Demokratie, Völkerrecht, Meinungs- und Kunstfreiheit, Menschenwürde und Schmähkritik wurden am Satiregegenstand geschliffen; ich kann allerdings nicht behaupten, dadurch sicherer und klüger geworden zu sein.

 

Besonders hervorheben möchte ich die Einbeziehung junger Wissenschaftler und Künstler, die offensichtlich ebenfalls einen historischen und aktuellen Draht zum Autor Tucholsky gefunden haben. Ihr Umgang mit seiner Sprache legt Sanftmut auf die Seele von Kurts Bewunderern im Seniorenalter. Warum allerdings junge Chanson-Interpreten in Tucholskys »Feldfrüchten« unbedingt aktuelle Namen gegen die Originalnennungen austauschen müssen, leuchtet mir nicht ein. Man sollte dem Publikum durchaus zumuten, aktuelle Bezüge selbst herzustellen, zumal sich die Personen heutzutage von Tag zu Tag ändern können.                     

 

Wolfgang Helfritsch

 

 

Ossietzky gratuliert zum 30.!

 

 

 

 

Hintergedanke

Nicht alles, was man tut, ist gutzuheißen.

Da möchte man sich manchmal in den Hintern beißen.

Jedoch infolge der menschlichen Anatomie

gelingt das nie.

Das ist das Missgeschick

der Selbstkritik.

 

Günter Krone