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Die Mär vom bestohlenen Sieger  (Conrad Taler)

Bekanntlich steckt, wer andern Menschen Schlechtes traut, oft selbst in einer schlechten Haut. Seit Donald Trump erfahren hatte, dass Demokraten bei Wahlen ihre Stimme häufiger per Brief abgeben als Republikaner, ließ der Präsident keine Gelegenheit ungenutzt, die sogenannten Briefwahlstimmen in Verruf zu bringen.

 

Bei einem Auftritt in Newton im US-Bundesstaat Pennsylvania wenige Tage vor der Wahl zeichnete Trump ein düsteres Szenario. Möglicherweise würden seine Anhänger mehrere Wochen auf ein Ergebnis warten müssen. Dann, kaum dass die ersten Resultate vorlagen, behauptete er allerdings: »Wir liegen klar in Führung, aber sie versuchen, die Wahlen zu stehlen.« Er werde die Auszählung der Stimmen durch den Supreme Court stoppen lassen. Das sei, so die Süddeutsche Zeitung, insofern eine ungeheuerliche Forderung gewesen, als zu dem Zeitpunkt Millionen Stimmen noch nicht einmal erfasst waren, so als würde eine Fußballmannschaft fordern, das Spiel in der 70. Minute abzupfeifen, weil sie gerade 2 : 1 in Führung gegangen sei.

 

Die Richter des Obersten Gerichtshofes wussten nach Ansicht des amerikanischen Historikers Timothy Snyder, dass sie für eine autoritäre Übernahme durch Trump benutzt werden sollen. Auch die kurz vor der Wahl auf Betreiben von Trump benannte konservative Richterin Amy Coney Barrett habe gewusst, dass sie »für einen Coup d’Etat«, also für einen Staatsstreich, nominiert worden sei. Ungeachtet des schockierenden Verhaltens der Leitfigur des freien Westens hatte in Deutschland kein einziger Regierungsvertreter den Mut, die Missachtung demokratischer Grundregeln durch den Berserker im Weißen Haus zu kritisieren. Das getrauen sie sich nur gegenüber dem weißrussischen Präsidenten Lukaschenko.

 

Immerhin geriet der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Johann Wadepuhl, ins Grübeln darüber, dass der konfrontative Politikstil von Trump nicht einen Wähler wirklich abgeschreckt habe. Darin liege eine »alarmierende Botschaft«. In dieser Verfassung könnten die USA einer Führungsaufgabe im Westen nicht nachkommen. Wird sich daran unter Joe Biden etwas ändern? Von heute auf morgen wohl kaum. Dass einer wie er überhaupt reüssieren konnte, grenzt an ein Wunder. Die sozial Abgehängten haben von ihm nichts zu erwarten. An die Ursachen der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich wird er sich ebenso wenig heranwagen wie seine Vorgänger, die wie er allesamt Fleisch vom Fleische der herrschenden Klasse waren.

 

Dass Trump Ruhe geben wird, ist kaum zu erwarten. Es sei denn, es mehrten sich bei den Republikanern die Stimmen, die auf einen Mann oder eine Frau hofften, denen nicht nachgesagt werde, sie könnten keine Minute reden, ohne zu lügen, die weder Werte noch Ideale hätten, die nie ein Buch läsen und mit Musik nichts anzufangen wüssten. Bemerkenswerter Weise hat sich bis auf seine eigene Familie niemand aus der Führungsriege der Republikaner an Trumps Seite gestellt, als er auf ebenso unglaubliche wie lächerliche Weise versuchte, das Märchen vom betrogenen Sieger in die Welt zu setzen.

 

Zu glauben, Deutschland müsse das Vakuum füllen, das durch den Ansehensverlust der Vereinigten Staaten von Amerika unter Führung von Donald Trump entstanden ist, wäre fatal. Das würde die Axt an die Wurzeln der Europäischen Union legen.