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Erinnerung an eine Zukunft  (Jonas Christopher Höpken)

Hat irgendjemand eine positive politische Vision für den November 2045? Glaubt jemand, dass die Welt in 25 Jahren besser aussehen könnte als heute? Oder ist nicht fast jeder davon überzeugt, dass dann alles noch schlimmer sein wird? Das Klima, die internationale Ordnung, die soziale Stabilität?

 

Für die Entwicklung von Demokratie ist eine solche Negativsicht verheerend. Der politische Wettbewerb im demokratischen Gemeinwesen lebt von alternativen politischen Visionen und Konzeptionen, die eine Perspektive geben, eine mögliche positive Zukunft aufweisen.

 

Gehen wir doch mal umgekehrt 25 Jahre zurück – in den November 1995. Gab es da eine positive politische Vision – vielleicht bis in den November 2020 hineinreichend?

 

Wir schreiben den 15. November 1995. In Mannheim regnet es. Ein SPD-Parteitag findet statt, an den keine größeren Erwartungen geknüpft werden. Rudolf Scharping will als Parteivorsitzender wiedergewählt werden, um in drei Jahren ein zweites Mal als Kanzlerkandidat gegen Kohl anzutreten – und wahrscheinlich wieder zu verlieren. Das Internet gibt es schon; sehr präsent ist es im Parteitagssaal aber noch nicht. Auch Handys sieht man kaum; nur Exoten haben schon eins. Aber es soll ein Leitantrag verabschiedet werden – ein politisches Konzept für die Zukunft.

 

Der Vorsitzende der Antragskommission geht ans Rednerpult: Oskar Lafontaine, als guter Redner bekannt. Gleichwohl prägt zunächst noch Gemurmel den Saal. Langsam wird es ruhiger. Nach einem Rededesaster von Rudolf Scharping am Vortag hoffen die Delegierten auf Besseres.

 

Der Redner kündigt an, zur Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, zur geplanten Europäischen Währungsunion sowie zur Außenpolitik zu reden. Er spricht sich für eine nachfrageorientierte Politik und für Arbeitszeitverkürzung aus, was zunächst wenig überraschend, aber ein klares Gegenkonzept zur dominierenden angebotsorientierten Sichtweise ist. Rasch wird deutlich, dass über die klassischen sozialdemokratischen Grundsatzforderungen hinaus im Zentrum der Rede alternative Konzepte stehen.

 

25 Jahre später muss man sagen: Die zentralen Vorschläge, die der Parteitag bejubelte, wurden später nicht umgesetzt, obwohl es Gelegenheit dazu gegeben hätte. Wie sähe die Welt heute aus, hätte man das Konzept der Mannheimer Rede reale Politik werden lassen? Schauen wir uns die Aussagen im Einzelnen an:

 

Lafontaine beklagt die beträchtliche Umverteilung, das dramatische Absinken der Lohnquote sowie den deutlichen Anstieg der Gewinnquote in Deutschland, zu dem die interessengeleitete Standortdebatte geführt habe, und plädiert für eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik. Das hier benannte Problem einer Spirale von Lohnzurückhaltung und Handelsüberschuss, die zu einem ungerechten Export von Arbeitslosigkeit in andere EU-Staaten führt, verstärkte sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten und führte zu den massiven Ungleichgewichten innerhalb der Europäischen Union, die entscheidend mit zur Euro-Krise geführt haben. Eine solche Entwicklung wäre vermeidbar gewesen, hätte sich die wirtschaftspolitische Argumentation aus Mannheim durchgesetzt.

 

Dieses Thema bettet der saarländische Ministerpräsident in den Gesamtzusammenhang der europäischen Wirtschaftspolitik ein, die nur auf mikroökonomische Faktoren abziele und die makroökonomischen Faktoren vernachlässige: »Wirtschaft findet heute bei bestimmten Wechselkursen, bei bestimmten Zinsen und bei bestimmter Lohnhöhe statt. Nur wer das Zusammenwirken dieser drei Faktoren erkennt – ich rufe die Partei auf, sich diesen Ansatz zu eigen zu machen und ihn noch stärker in die praktische Politik einzubringen! –, wird zu mehr Beschäftigung beitragen können.« Das klare Plädoyer verhallt in der EU leider ungehört – und als der Bundesfinanzminister es 1999 umsetzen will, schlägt ihm geballter Widerstand entgegen, was sich später bitter rächen wird.

 

Lafontaine warnt nämlich schon 1995 in Mannheim vor einer falsch konstruierten europäischen Währungsunion. Er bekennt sich klar zur europäischen Einigung (»Jeder Zungenschlag, wir würden uns von Europa verabschieden, ist falsch; wir bleiben die Europapartei Deutschlands!«), bezeichnet es aber als »Fehler, die Währungsunion nicht stärker als bisher mit der politischen Union Europas zu verbinden«. Die Währungsunion könne nicht funktionieren, »wenn die Wirtschaftspolitiken der teilnehmenden Staaten nicht aufeinander abgestimmt sind«, und Lafontaine sagt voraus: »Dann dient die Währungsunion nicht der europäischen Einigung, sondern dann ist sie eher ein Rohrkrepierer für die europäische Einigung, und das dürfen wir nicht wollen.« Er schlägt vor, die nicht an der Währungsunion teilnehmenden Staaten wieder am europäischen Währungssystem mit geringen Bandbreiten zu beteiligen, um einen Abwertungswettbewerb zu vermeiden. Um das Problem deutlich zu machen, weist er auf die Aufwertung der D-Mark gegenüber Pfund, Franc und Lira hin und erläutert: »Ich wage mir nicht auszumalen, liebe Genossinnen und Genossen, was passiert wäre, wenn bei dieser ökonomischen Entwicklung die Lira beispielsweise nicht die Möglichkeit gehabt hätte, währungsmäßig zu reagieren.« Heute, 2020, wissen wir es!

 

Hier sagt Lafontaine geradezu prophetisch die massiven Probleme des Euros voraus, die uns heute beschäftigen, und erklärt genau, wie sie zu verhindern gewesen wären. Hätte man seine Vorschläge umgesetzt, wäre es zur Euro-Krise mit den verheerenden Folgen für die europäische Stabilität so nicht gekommen – nebenbei wohl auch nicht zur Gründung der AfD.

 

Lafontaine spricht sich für eine stärkere Konzentration auf Forschungspolitik und die Förderung von Innovationen aus, bezeichnet es als »wichtig, dass wir Sozialdemokraten in das Zentrum unserer Wirtschaftspolitik nicht den Kostensenkungswettlauf, sondern die Entwicklung neuer Produkte und neuer Verfahren stellen«, und formuliert als Zielsetzung, »die Brücke in das Solarzeitalter zu bauen. Die Photovoltaik ist das Produkt, das wir weltweit zum führenden Exportartikel unserer Industrienation machen wollen!« Auch hier: Hätte man nur auf ihn gehört! Von einer führenden Rolle in der Entwicklung der Photovoltaik ist Deutschland heute weit entfernt. Aktuell verschläft die hiesige Autoindustrie den Übergang ins Wasserstoffzeitalter. Lauter traurige Kapitel der Industriepolitik in Deutschland, die nicht hätten aufgeschlagen werden müssen, wenn man Lafontaines Vorschläge von 1995 umgesetzt hätte.

 

Der Vorsitzende der Antragskommission spricht sich im Folgenden dagegen aus, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – er betont vor allem die dadurch entstehende Benachteiligung von Frauen – aus der Sozialversicherungspflicht herauszudrängen, und warnt vor einer »Fehlentwicklung« hin zu einem Niedriglohnsektor. Genau den hat die rot-grüne Bundesregierung später im Rahmen der Hartz-Reformen und der Agenda 2010 geschaffen – mit negativen Folgen für das soziale Klima – entscheidend für den darauffolgenden Bedeutungsverlust der SPD und die damit verbundene heutige Krise der Demokratie.

 

Als letzten großen Punkt thematisiert der Redner die außenpolitische Debatte, die damals geprägt war durch die Diskussion um den Kampfeinsatz von Tornados. Lafontaine plädiert dafür, sich stattdessen auf Willy Brandt und Helmut Schmidt zu besinnen: »Wo kommen wir denn hin, wenn die Partei, die die Entspannungspolitik und den KSZE-Prozess vorangetrieben hat, jetzt ihre außenpolitische Debatte auf einen Flugzeugtyp reduziert? Wo kommen wir denn da hin?« Er wirbt für ein Festhalten an der Freundschaft zu Frankreich – die heute längst nicht mehr so selbstverständlich ist wie noch 1995. Mit gleicher Vehemenz plädiert er für ein gutes Verhältnis zu Russland und dafür, »jetzt eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa unter Einschluss Russlands zu bewerkstelligen. Das ist die große Zukunftsaufgabe, der wir uns widmen müssen, liebe Genossinnen und Genossen!«

 

1995 wäre es in der Tat noch realistisch und möglich gewesen, eine solche gesamteuropäische Friedensordnung auf den Weg zu bringen, statt gegenüber Russland den Pfad der Konfrontation und Provokation einzuschlagen. Es liegt nicht nur, aber zu einem erheblichen Teil an der unsensiblen und rücksichtslosen Politik der NATO-Osterweiterung, die zur heutigen prekären weltpolitischen Situation des neuen kalten Krieges geführt hat.

 

Im weiteren Verlauf kritisiert Lafontaine den auch durch die deutsche Anerkennungspolitik geförderten Kurs des Nationalismus im Balkan und verbindet dies mit seiner außenpolitischen Vision einer auf Freiheit und Gleichheit beruhenden Weltgesellschaft: »Es ist eine Fehlentwicklung, wenn, wie in Jugoslawien, Teilstaaten auf völkischer Grundlage kreiert werden. Das verträgt sich nicht mit europäischer Einigung und der Weltgesellschaft der Freien und Gleichen! Nein, das verträgt sich nicht! Unser sozialdemokratisches Konzept, das immer Grenzen überwinden wollte und das immer von dem Modell der Aufklärung, der Weltgesellschaft der Freien und Gleichen ausging, muss auf eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit hinarbeiten. Es muss die Gleichheit – jawohl, die Gleichheit der Menschen, ihr gleiches Glück! – anstreben und darf niemals nach Rassen, Religionen und nach welchen Kriterien auch immer trennen. Dies ist ein schwerer konzeptioneller Fehler der Jugoslawienpolitik der Bundesregierung!« Vier Jahre später kam es zum völkerrechtswidrigen NATO-Krieg unter maßgeblicher Beteiligung der Regierung Schröder.

 

Von einer internationalistischen Zielvorstellung ausgehend, spricht Lafontaine sich im Folgenden nachdrücklich für eine gewaltfreie Außenpolitik, für die Befreiung der Welt von der atomaren Bedrohung und die Ablehnung von Nuklearwaffen aus. Leidenschaftlich ist sein Plädoyer für eine Politik der militärischen Zurückhaltung Deutschlands: »Deshalb sind Parolen wie: ›Wir müssen herunter von den Zuschauerbänken!‹ eine Beleidigung vieler Frauen und Männer, die in den letzten Jahren Politik gemacht haben! Saß denn Willy Brandt auf der Zuschauerbank, saß Helmut Schmidt auf der Zuschauerbank? Haben wir nicht Verantwortung für die Welt übernommen mit unseren Vorschlägen zur Entspannungspolitik und zum KSZE-Prozess? War das nur Zuschauen […]?« Der Noch-Nicht-SPD-Vorsitzende appelliert an das sozialdemokratische Selbstbewusstsein, um davon ausgehend zu der klaren Aussage zu kommen: »Wir wollen Friedensmacht bleiben! Wir sind bereit, beim Aufbau und bei der Friedenssicherung zu helfen. Aber wir sind zurückhaltend, wenn es um militärische Kampfeinsätze geht! Und so soll es bleiben!«

 

Man stelle sich vor, Deutschland wäre diesen Weg gegangen – was wäre uns alles an schlimmem Elend erspart geblieben? Deutschland hätte sich nicht am völkerrechtswidrigen Jugoslawien-Krieg beteiligt, wäre nicht verstrickt in den sinnlosen Afghanistan-Einsatz, sondern hätte Vorbildcharakter als Nation, die sich nicht militärisch, sondern humanitär hervortut.

 

In was für einer Gesellschaft würden wir heute leben, wenn Lafontaines Vorschläge aus seiner Mannheimer Rede umgesetzt worden wären? Was für eine alternative Entwicklung hätte die Sozialdemokratie nehmen können, wenn sie die Inhalte der Rede nicht nur 1995 bejubelt, sondern sich hinterher in ihrem konkreten Handeln zu eigen gemacht hätte? Die Fragen sind hypothetisch, denn die Kräfteverhältnisse auf nationaler und internationaler Ebene waren nun mal andere – das lag nicht nur an Gerhard Schröder, dessen Hauptmerkmal es war, sich den jeweiligen Kräfteverhältnissen anzupassen.

 

Aber trotzdem: Was wäre, wenn die Worte der Mannheimer Rede Fleisch geworden wären? Sechs exemplarische Punkte:

 

Erstens: Das heutige Deutschland stände an vorderster Stelle für den solaren Umbau; dadurch wäre die Energiewende in Europa ungleich stärker vorangekommen.

 

Zweitens: Dem Land und zum großen Teil auch dem Kontinent wäre viel an neoliberaler Politik erspart geblieben. Es ginge ökonomisch vernünftiger und sozial gerechter zu: Statt durch einen Niedriglohnsektor wäre das Gemeinwesen heute durch nachfrageorientierte Politik und eine gerechte Verteilung der Arbeit geprägt. Die Gesellschaft wäre weniger gespalten.

 

Drittens: Europa wäre stabiler, der Euro in einer besseren Verfassung, das Vertrauen innerhalb Europas zu Deutschland größer, der Zusammenhalt innerhalb der EU stärker. Wahrscheinlich wäre es auf dieser Basis möglich geworden, zu einer gemeinsamen humanitären Flüchtlingspolitik zu kommen.

 

Viertens: Das Verhältnis des Westens zu Russland wäre ein besseres; es hätte entscheidende Schritte hin zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung unter Einschluss des Großstaates gegeben.

 

Fünftens: Dem Kontinent wären sinnlose Militäreinsätze mit deutscher Beteiligung erspart geblieben. Deutschland wäre stattdessen Friedensmacht und ein starker Faktor gegen globale Militarisierung.

 

Sechstens: Das Parteiensystem wäre übersichtlicher: geprägt durch eine starke Sozialdemokratie und einen stabilen konservativ-demokratischen Block; die AfD gäbe es vermutlich nicht.

 

Die Gesellschaft wäre nicht eine völlig andere. Aber die Verhältnisse wären weitaus bessere. Daraus würden sich weitere, noch stärkere Visionen entwickeln. Die Gesellschaft wäre mehr gewappnet für den Klimawandel und andere Herausforderungen der Gegenwart.

 

Aber auch 1995 war kurz vor dem Mannheimer Parteitag eine solche Vision nicht wirklich präsent. Die SPD mit ihrem Vorsitzenden Rudolf Scharping war in schlechter Verfassung. Die Mannheimer Rede, die vorher niemand auf dem Plan hatte, rüttelte die Delegierten des SPD-Parteitages auf. »Es gibt noch Politikentwürfe, für die wir uns begeistern können.« Lafontaine zeigte der Partei und der Öffentlichkeit, wie Sozialdemokratie auch aussehen könnte, ja wie sie eigentlich aussehen müsste – und wurde dann ihr Vorsitzender.

 

Leider waren später die Gegenkräfte stärker; die Kanzlerschaft Schröders bedeutete zunächst das Ende für die Option einer anderen Politik. Aber was in Mannheim passierte, wäre auch heute möglich: argumentativ und authentisch glaubhaft zu machen, dass die Wende hin zu einer wirtschaftspolitisch unterfütterten anderen Politik im Bereich der Realität liegt – und den Menschen dadurch Hoffnung zu geben. Solange eine andere Politik real möglich ist, stirbt die Hoffnung nicht.

 

 

Jonas Christopher Höpken ist Jahrgang 1972, katholischer Theologe aus Oldenburg, außerdem auch Ratsherr in der Stadt Oldenburg.