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Titel2314

Stefan Heym im Deutschen Bundestag  (Therese Hörnigk)

Es gibt unter den Jahrestagen solche, an die man sich gerne erinnert, und es gibt andere, die in Erinnerung bleiben, weil sie Ereignisse wieder lebendig werden lassen, die man eigentlich hätte lieber missen wollen. So ein Tag war der 10. November 1994, an dem der Schriftsteller Stefan Heym als ältester Abgeordneter für die Fraktion der PDS die Legislaturperiode des 13. Deutschen Bundestages eröffnen sollte. Die CDU/CSU-Fraktion reagierte mit offen ausgestelltem Mißvergnügen. Wie die Bild-Zeitung zu berichten wußte – stand der 73jährige Abgeordnete Alfred Dregger mit seiner vorsorglich verfaßten Rede schon im Hintergrund bereit. Denn wie aus dem Hut gezaubert, war am Abend zuvor, am 9. November, über den Rundfunk und die Fernsehstationen eine aus dem Innenministerium unter Manfred Kanther autorisierte und über dpa verbreitete Botschaft öffentlich bekanntgemacht worden, nämlich daß Stefan Heym Kontakte zur Stasi gehabt habe. Die sich auf Recherchen der sogenannten Gauck-Behörde berufende Nachricht lautete: »Den Informationen zufolge sollte Heym 1958 dem Staatssicherheitsdienst Informationen über den nach Westberlin geflüchteten Gewerkschafter [gemeint war Heinz Brandt; T. H.] angeboten haben. Die Unterlagen sind jetzt im Zusammenhang mit dem Strafverfahren gegen den Entführer aufgetaucht, der in Berlin in Untersuchungshaft sitzt.« Als Quelle dieser Eröffnung wurde der Bericht eines Mitarbeiters der Zentralen Ermittlungsgruppe Regierungs- und Vereinigungskriminalität zitiert, der sich auf Kontakte der Stasi in Zusammenhang mit dem Entführungsfall Heinz Brandt aus dem Jahre 1961 berief. Heinz Brandt, als Kommunist und Antifaschist 1945 aus dem KZ befreit, hatte 1958 nach seiner Abkehr von der SED wegen der Ereignisse des Arbeiteraufstands am 17. Juni 1953 seinen Wohnort nach Westberlin verlegt. Drei Jahre später von der Stasi nach Ostberlin verschleppt, wurde er dort wegen angeblicher Spionage zu 13 Jahren Haft verurteilt und nach einer Begnadigung 1963 in die Bundesrepublik entlassen.

Bezug nehmend auf diese Nachricht rief am Abend die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth bei Heym an und legte ihm nahe, unter diesen Umständen vielleicht besser auf seine Rede vor dem Bundestag am nächsten Morgen zu verzichten. Empört wies Heym diese Anmutung zurück und erbat sich das angeblich belastende »Material«, das ihm dann zur Verfügung gestellt wurde. Mithilfe von Freunden versuchte er die halbe Nacht lang, die damaligen Vorgänge zu rekonstruieren. Er konnte sich erinnern, daß er bei den Recherchen zu seinem Roman »Fünf Tage im Juni«, vermittelt durch den Freund Robert Havemann, über Brandt Informationen zu den Vorgängen in der Machtzentrale der SED bekommen sollte. In diesem Zusammenhang hatte er einen hektographierten Brief aus Westberlin erhalten, der mit einer vermeintlich von Heinz Brandt stammenden handschriftlichen Anrede und Unterschrift versehen war. Heym, als ehemaliger Offizier für psychologische Kriegsführung der US Army gegen die Faschisten professionell geschult, schöpfte Verdacht und übergab dieses Papier seiner Sekretärin, deren Mann bei der Kriminalpolizei arbeitete. Am nächsten Tag meldete dieser sich persönlich bei Heym in Begleitung eines zweiten Mannes, der sich ebenfalls als Kriminalist ausgab. Tatsächlich aber, so geht es aus den Akten hervor, handelte es sich bei diesem Beamten um Oberst Kienberg, einem leitenden Offizier aus dem Ministerium für Staatssicherheit. Heym, der ohnehin davon ausging, daß seine Post überwacht wird, bat darum, daß man sich der anonymen Post annehmen möge und gab seiner Hoffnung Ausdruck, in Zukunft nicht mehr von derlei Unsinn belästigt zu werden. So steht es vermerkt in den Akten.

Nachdem Stefan Heym die ihm per Fax von Frau Süssmuth überstellten Unterlagen studiert hatte, machte der 81jährige sich nach vier Stunden Schlaf frühmorgens auf den Weg zum Bundestag. Inzwischen hatte sich der damalige Direktor der Stasi-Unterlagenbehörde, Hansjörg Geiger, ebenfalls noch einmal gründlich mit dem Vorgang vertraut gemacht und war zu dem Ergebnis gekommen, daß er »keine vorwerfbare Belastung« gegen Heym gefunden habe, sondern im Gegenteil einige Informationen »durchaus entlastende Wirkungen« gezeigt hätten. Diesen Sachverhalt teilte Geiger den Vertretern des Ältestenrates sowie dem Direktor des Bundestages unverzüglich mit. Für eine Korrektur der zuvor in die Welt gesetzten Falschmeldung, dem Ergebnis einer üblen Intrige, hat es offensichtlich nicht mehr gereicht.

Als Stefan Heym dann morgens pünktlich den Plenarsaal betrat, blieb die gesamte CDU/CSU-Fraktion wie in Schockstarre verfallen sitzen, während sich die Mitglieder der anderen Fraktionen, wie es der parlamentarische Brauch gebietet, von den Plätzen erhoben. Auch Richard von Weizsäcker und Roman Herzog zollten Heym auf der Ehrentribüne ihren Respekt. Die Abgeordneten von SPD und Bündnis 90/Die Grünen erhoben sich, weil ihre Fraktionsspitzen mit Verweis auf Unschuldsvermutung und bisher nicht genügend geprüfte Meldungen die anempfohlenen sofortigen Konsequenzen abgelehnt hatten.

Die Nation konnte dieses unwürdige Schauspiel im Fernsehen verfolgen und beobachten, daß sich nicht alle CDU/CSU-Abgeordneten, soweit sie überhaupt im Saal saßen, an die zuvor ausgegebene Anordnung ihres Bundeskanzlers hielten, Heyms Rede mit »steinernen Mienen« zu quittieren. Einige von ihnen legten noch eine Schippe drauf. Sie unterhielten sich während der Rede demonstrativ oder blätterten in Akten herum. Ein Film dokumentiert den hämisch rundum blickenden Bundeskanzler Kohl. Gesten des Unwillens waren sichtbar, während Heym für eine »Koalition der Vernunft« im vereinten Deutschland warb. Rita Süssmuth indes applaudierte, als Heym sich in seiner Rede für Solidarität zwischen Ost und West, Oben und Unten, Arm und Reich aussprach, so daß ein »gutes Deutschland blühe«, wie Heym aus Bertolt Brechts »Kinderhymne« zitierte.

Stefan Heym mag sich angesichts der von der Mehrzahl der Konservativen im Bundestag offen zur Schau gestellten Ablehnung erneut wie ein Fremder im eigenen Land gefühlt haben. Sein Leben lang war er ein streitbarer und unangepaßter, nicht selten gegen den Strom des jeweiligen Zeitgeistes schwimmender Autor gewesen, der sich als Kosmopolit und kritischer Sozialist über alle Wenden hinweg von keiner Ideologie hatte vereinnahmen oder gar in den Dienst nehmen lassen. Bis zum Fall der Mauer war er als Schriftsteller in der Bundesrepublik landauf landab als einer der prominentesten Dissidenten der DDR gefeiert worden. Seine Bücher wurden allesamt zuerst in der Bundesrepublik verlegt und teilweise verfilmt. Doch auch im nunmehr vereinten Deutschland wollte er sich als sozialistischer Nonkonformist nicht von seinem Traum einer sozial gerechteren Gesellschaft verabschieden. Manchmal gefiel er sich wohl auch als Rufer in der Wüste, wenn es um die Bewahrung einstiger Ideale ging.

In seiner Rede vor dem Bundestag zeichnete er ein ungeschöntes Bild des deutschen Einigungsprozesses und rief die Deutschen in Ost und West zur Solidarität im eigenen Land auf, indem er angesichts der Krise der Industriegesellschaft an gegenseitige Toleranz appellierte: »Wie lange wird der Globus noch – der einzige, den wir haben! – sich die Art gefallen lassen, wie diese Menschheit ihre tausenderlei Güter produziert und konsumiert? Und wie lange wird die Menschheit sich die Art gefallen lassen, wie diese Güter verteilt werden … Die Menschheit kann nur in Solidarität überleben.« Nicht Lenin zitierte er, sondern Abraham Lincoln, den Helden des amerikanischen Bürgerkriegs und Sklavenbefreier.

Viele Menschen haben die Szene, die während dieser Rede im Bundestag ablief, später als außerordentlich peinlich empfunden. Politiker wie Egon Bahr, Hans-Otto Bräutigam, Gerhard Schröder und Gregor Gysi, Lothar Bisky, Friedrich Schorlemmer, Journalisten wie Fritz Pleitgen, Dirk Sager und Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Daniela Dahn und Christoph Hein würdigten dagegen die Rede des Alterspräsidenten Stefan Heym und erinnerten die Begleitumstände als die »Stunde tiefer Schmach« in der parlamentarischen Geschichte der Bundesrepublik.

Seine Heimatstadt Chemnitz trug Stefan Heym 2001 die Ehrenbürgerschaft an und benannte anläßlich seines 100. Geburtstages 2013 einen Platz nach ihm.

Auf Antrag der Partei Die Linke soll es zukünftig, so der Plan des Berliner Bezirks Lichtenberg, auch auf dem Berliner Stadtplan einen Stefan-Heym-Platz geben.

Therese Hörnigk war Literaturwissenschaftlerin an der Akademie der Wissenschaften der DDR, von 1992 bis 1997 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 1998 bis 2007 leitete sie das Literaturforum im Brecht-Haus. Zu Heyms 100. Geburtstag gab Therese Hörnigk das Buch »Ich habe mich immer eingemischt. Erinnerungen an Stefan Heym« heraus (Verlag für Berlin-Brandenburg, 190 Seiten, 18,95 €). Therese Hörnigk ist Vorsitzende der Internationalen Christa Wolf Gesellschaft (s. Ossietzky 9/14).