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Titel2314

Bemerkungen

FAZ-Feldjäger
»Neutralität« eines Bundespräsidenten sei keineswegs zu wünschen, wenn »Haltung zu Zwang und Unterdrückung« zu zeigen sei – so leitartikelnd Reinhard Müller, FAZ-Redakteur für »Zeitgeschehen«. Er meint damit Gauck und die Koalitionsfrage in Thüringen. Die »SED-Nachfolgepartei« werde »geprägt von vermufften Gewerkschaftsbürokraten und DDR-Nostalgikern«. Ihre Wähler gewinne sie durch »Beschönigung der DDR«, die Ostdeutschen seien leider dafür empfänglich ...

Analytische Bemühungen? Keine Spur davon. Das »bürgerliche« Leitblatt, ständig Abonnenten verlierend, befleißigt sich zunehmend einer Hau-drauf-Kommentierung, oft in einer Plumpheit, die in früheren FAZ-Zeiten nicht üblich war. Panikverhalten? Reinhard Müller ist Reserve-Feldjäger. Militärhistorisch diente diese Truppe der Jagd auf Soldaten, die im Verdacht auf Desertion standen.

M. W.


Fachhochschulniveau?
»Hakenkreuz und Sympathie für NSU« lautete ein Untertitel auf Seite 1 der Magdeburger Volksstimme vom 30. Oktober. Die Hakenkreuze und die dokumentierte Sympathie für den neonazistischen Untergrund fanden sich nicht irgendwo an einer Häuserwand, sondern in der Mensa der Fachhochschule der Polizei in Aschersleben. Diese Ungeheuerlichkeit und wohl bewußte Provokation wurde zwei Tage zuvor in einer dort gezeigten Ausstellung zu den Verbrechen des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) entdeckt. Wie die Zeitung berichtet, gab es in der genannten Zeit keine Besucher. Wer kann das gewesen sein? Wer wagt in so eklatanter und frecher Weise diese offene Sympathie für die Neonazis und ihre Verbrechen?

An der Fachhochschule der Polizei in Aschersleben gibt es gegenwärtig 181 Studierende und 188 Auszubildende für den mittleren und gehobenen Polizeivollzugsdienst plus Lehrpersonal. Eine Ermittlungsgruppe des Staatsschutzes hat die Untersuchung übernommen.

Auf Seite 2 der Magdeburger Volksstimme desselben Tages finden wir Informationen über eine weitere Ungeheuerlichkeit, nämlich über den demonstrativen Hitlergruß am Gymnasium Landsberg bei Halle und die Verteilung von Fotos dieser Zurschaustellung. Der Neuntklässler stellte auf dem Landesschulamt seine Aktion als Dummejungenstreich hin. Doch braunes Gedankengut scheint an dieser Schule schon um sich gegriffen zu haben, Staatsanwaltschaft und Staatsschutz ermitteln derzeit gegen weitere Schüler »wegen Verbreitung rechtsradikaler Parolen«. Nach Mitteilung des Gymnasiums will sich nun eine außerordentliche Elternversammlung »unter anderem« mit dem Vorfall des 15jährigen beschäftigen. Was muß eigentlich noch alles geschehen, daß es nicht nur zu einer sachlichen Feststellung derartiger offenkundiger neonazistischer Untaten kommt und dem Bericht, daß sich Institutionen und der Staatsschutz damit beschäftigen?
Sind wir schon derart tief in diesen braunen Morast eingesunken, daß wir das hinnehmen können (müssen)? Es fordert unser aller Mut, Aufbegehren gegen derartige Umtriebe und geschlossenes Dagegenhalten.
Manfred Uesseler


Das »Staatswohl«
Das Grundgesetz der Bundesrepublik, es ist ja nicht immer eindeutig, bedarf häufig der Ausdeutung. Zuständig dafür ist in letzter Instanz »Karlsruhe«, also das Bundesverfassungsgericht. Mal fühlt sich die regierende deutsche Politik durch dessen Urteile belästigt, mal bestätigt; bekanntlich ist man vor Gericht und auf hoher See in Gottes Hand.

Jetzt haben die hohen Richter entschieden, daß die »Informationspflicht« der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag »nicht grenzenlos« sei; in der Sache ging es um Auskünfte über geplante und zu genehmigende Rüstungsexporte. Hier dürfe sich, so das Urteil, die Regierung der Wißbegier von Parlamentariern (sofern diese aufritt) durchaus verweigern.

Interessant ist die Begründung: erstens wegen der Gewaltenteilung, zweitens aus Rücksicht auf das »Staatswohl«, drittens weil »Grundrechte Dritter« verletzt werden könnten. Das »Staatswohl« – was mag das sein? Im Grundgesetz kommt es gar nicht vor. Womöglich finden wir in diesem Fall eine Erklärung bei den »Grundrechten Dritter« – die Verfassungsrichter erläuterten nämlich, Informationen über Waffenausfuhrpläne könnten ein unzulässiger Eingriff »in die Berufsfreiheit der Unternehmen der deutschen Rüstungsindustrie« sein. So wissen wir nun aus Karlsruhe, das Grundgesetz selbst wußte es noch nicht, was im politischen System der Bundesrepublik als sakrosankt zu gelten hat.
A. K.


Kampfplatz Ukraine
Ein Gefühl der Erleichterung bei der friedlich gesonnenen Mehrheit des Publikums: Die Regierungen in Kiew und Moskau verhandeln, in der Ukraine finden weiterhin militärische Auseinandersetzungen im Kleinformat statt, aber der Große Krieg ist nicht ausgebrochen. Obwohl gerade deutsche Leitmedien sich alle Mühe gegeben haben, ihn herbeizureden. Jetzt noch einmal die öffentlich-rechtlichen Anstalten – dort wurden Übungsflüge russischer Militärflugzeuge so dargestellt, als sei eine kriegerische »Antwort« der NATO legitim und nahezu zwangsläufig; tatsächlich hingegen zeigten NATO und Rußland gleichermaßen und in den üblichen Formen ihr flugkämpferisches Potential vor.

Weniger militant ist inzwischen zumeist der Ton in den Print- und Onlinemedien; ernüchternd haben hier vor allem wirtschaftliche Fakten gewirkt: Die Sanktionspolitik gegenüber Rußland schädigt nachhaltig die Exportbilanzen vor allem deutscher Unternehmen, und die Assoziierung der Ukraine wird für die EU dauerhaft teuer. Zufrieden kann die US-amerikanische Regierungspolitik sein. Ihr entstehen durch die Operation Ukraine keine ökonomischen Nachteile; die NATO rückt weiter gen Osten; der kleine Bruder EU ist in seinen politischen Ambitionen zurechtgestutzt, er wurde daran erinnert, wo das Machtzentrum liegt. Und der Konflikt um die Ukraine läßt sich, wenn der Winter vorüber ist, wieder verschärfen, damit auch der Druck auf die innere Lage in Rußland. Inwieweit die aggressiven Akteure auf der Kiewer Seite den Konflikt schon kurzfristig wieder zuspitzen, ist nicht berechenbar. Die Ukraine bleibt weiterhin geopolitischer Kampfplatz.

Wer auf solche Realitäten hinweist, wird gern des Antiamerikanismus beschuldigt, besonders tun sich dabei grüne Politiker hervor. Sie sind offenbar nicht in der Lage, zwischen den weltweiten Machtwünschen der Eliten und den sozialen Interessen der Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern in den USA zu unterscheiden – der nämlich würde eine Politik der internationalen Entspannung das Leben leichter machen.
P. S.


Alles wird gut
Thinktanks haben es herausgefunden: Wenn die kapitalistische Wirtschaftsweise, obwohl sie doch die denkbar beste ist, immer noch von massenhafter Armut und beruflicher Aussichtslosigkeit begleitet ist, so habe das eine behebbare Ursache: Bildungsrückstand. Der wiederum sei durch den immer noch verbreiteten Irrglauben verursacht, Wissensvermittlung und Lernprozesse könnten abseits des Marktes durch öffentliche Einrichtungen organisiert werden. Allgemeiner Wohlstand sei hingegen nur erreichbar, wenn das Bildungswesen in private Hände überführt werde. Eine der Denkfabriken, die uns diese Einsicht verschaffen, ist die gemeinnützige, steuerbegünstigte Bertelsmann Stiftung.

Damit in dieser Angelegenheit der Reformeifer sich praktisch umsetzt, engagiert sich jetzt die kommerziell tätige Bertelsmann Aktiengesellschaft auf dem internationalen Bildungsmarkt: Sie kauft sich in US-amerikanische Online-Plattformen für elektronische Bildungs- und Weiterbildungscurricula ein. Selbstverständlich müssen die Nutzer zahlen. Wie der Volksmund sagt: Was nichts kostet, taugt auch nichts.

Der Bedarf ist groß und läßt sich durch Überzeugungsarbeit noch enorm ausweiten; auf eine Milliarde Euro schätzt der Bertelsmannchef den möglichen Ertrag schon in wenigen Jahren.

Bei den Käufern dieser Lehrgänge wird Investitionsbereitschaft vorausgesetzt. Wenn sich diese nicht rentiert und trotz Bertelsmann-Zertifikat ein lukrativer Job nicht zu bekommen ist – woran liegt das dann? Das kann dann wieder die Bertelsmann Stiftung untersuchen. Marktkonform wird ihr Ergebnis gewiß sein, sie ist ja Hauptaktionärin der Bertelsmann AG.
M. W.


Kapitalismus – wegdigitalisiert?
Bald wären wir dann soweit. Der globale Kapitalismus hätte, sagen wir mal so um das Jahr 2050, ausgedient oder wäre zumindest auf eine kümmerliche Nischenexistenz zusammengeschrumpft. Denn zu verdienen gäbe es dann nichts mehr. Wir lebten nicht länger in einer Welt knapper Ressourcen, sondern im Überfluß. Freundliche, hochkluge Maschinen, kostenlos anzufertigen oder gleich selbstreplizierend, böten immerbereit ihre Dienste an: Der mitdenkende Kühlschrank orderte etwa Lebensmittel; und sollte er einmal nicht mehr funktionieren, stünde schon ein 3-D-Drucker bereit, »der in einem Arbeitsgang aus dem Plastik alter Kühlschränke maßgefertigte Möbel druckt«. Das erste 3-D-gedruckte Plastikauto »Strati« gibt es schon jetzt.

Der einflußreiche US-amerikanische Ökonom und Soziologe Jeremy Rifkin zeichnet in seinem neuen Buch das Bild einer nicht allzu fernen postkapitalistischen Gesellschaft, die dem ökonomischen Primat des Teilens und Schenkens folgen werde. Konsumentenmanipulation und Profitmacherei gehörten dann einer »barbarischen«, konkurrenzgetriebenen Vergangenheit an.

Möglich werde dies, meint Rifkin, durch eine exponentiell wachsende digitale Vernetzung »von allem und jedem«, die Rifkin unter dem Schlagwort des »Internets der Dinge« zusammenfaßt. Gemeint ist damit ein intelligentes dezentrales Netzwerk aus Minicomputern und Sensoren, deren Fertigungspläne für alle in einem Super-Internet mit Zugang zu Big Data verfügbar seien. Aus vormaligen Verbrauchern industriell hergestellter Güter und Dienstleistungen würden zunehmend »Prosumenten«, selbst lebendige Datenknotenpunkte, denen vornehmlich an kollaborativem Informationsaustausch in einer weltumspannenden digitalen Community gelegen sei.

Rifkins Phantasie kennt keine Grenzen, wenn es um die Art der beschworenen »infogefertigten« Produkte geht: Vom Designerglas aus Sand und Sonnenlicht über medizinische Meßinstrumente bis zur Solaranlage und zum Mehrfamilienhaus werde in Eigenproduktion so ziemlich alles herstellbar sein. Selbstverständlich bedürfe es, räumt Rifkin ein, beträchtlicher anfänglicher Investitionen, um die Infrastruktur des »Internets der Dinge« aufzubauen. Doch, einmal ins Leben gerufen, tendierten die Grenzkosten, das heißt, die Kosten, die für die Erzeugung jedes zusätzlichen Produktes anfallen, gegen Null. Für kapitalistische Profitabschöpfung verbliebe kaum noch Raum, schlußfolgert Rifkin.

Fast religiöse Züge nehmen Rifkins Ausführungen an, wenn er den mit der neuen Ökonomie des Teilens aufkommenden Menschentypus, den »Homo Empathicus« beschreibt.

Bis es irgendwann soweit ist, wird – so muß man befürchten – weiter kräftig Profit gemacht, ganz eigennütziger. Die Sharing Economy, deren Anfänge wir unbestreitbar erleben, eröffnet kapitalistischer Verwertung ganz im Unterschied zu Rifkins optimistischer Prognose völlig neue Betätigungsfelder – und vermutlich noch ein längeres Überleben. Harald Staun schrieb dazu in der FAZ: »Die Sharing Economy ist nichts anderes als die totale Dienstleistungsgesellschaft … Das war schon immer der Trick des Kapitalismus: Uns zu verkaufen, was es vorher umsonst gab. Jetzt hat er die neueste Marktlücke entdeckt: den Kommunismus.«

Auch wenn man Rifkins beinahe durchgängigen Optimismus zur weltumspannenden Heraufkunft einer empathischen Sozialwirtschaft nicht teilt, bleibt sein neues Buch aufgrund vieler Detailbeobachtungen zu aktuellen digitalen Entwicklungstrends lesenswert.
Carsten Schmitt

Jeremy Rifkin: »Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus«, Übersetzung Bernhard Schmid, Campus Verlag, 525 Seiten, 27 €



Abschreckung
Wenn demokratische Entscheidungen den Profitwünschen privater Großinvestoren in die Quere kommen, sollen »Schiedsgerichte« (außerhalb der regulären Gerichtsbarkeit) dafür sorgen, daß »Schadenersatz« geleistet wird. Diese Verfahrensweise wollen die Betreiber des TTIP, des »Freihandels«-Abkommens zwischen den USA und der EU, endgültig zur Regel machen. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang ein in den Medien kaum beachteter Bericht: Wegen »Gewinneinbuße« durch den unerwarteten Einstieg in den Ausstieg aus der Atomenergie klagt der Energiekonzern Vattenfall gegen die deutsche Bundesregierung vor dem »Schiedsgericht« in Washington. Das Verfahren wird sich eine Weile hinziehen. An Verfahrenskosten hat die deutsche Staatskasse bisher bereits 3,2 Millionen Euro aufbringen müssen, gerechnet wird mit insgesamt 9,5 Millionen. Auch wenn die Schadenersatzklage ohne Erfolg bleibt, werden solche Ausgaben nicht vom Kläger erstattet. Da wird sich eine finanziell klamme Kommune doch nicht mehr erdreisten, Entscheidungen zu treffen, die von privaten Investoren als geschäftsschädigend beklagt werden könnten. Schon die Verfahrenskosten wirken abschreckend. Dann besser gleich kapitulieren: Weg mit allen Gedanken an das Gemeinwohl – nichts tun, was private Investoren irgendwie ärgern könnte.
P. S.


Kein Held
Er liebte seine Pferde und Hunde abgöttisch. Um schreiben zu können, um gelesen, ja bewundert zu werden, war er ein Opportunist, denn über viele Jahre grollte er mit Staat und Partei, deren hohe Preise er entgegennahm. Er war ein schwieriger, keineswegs nur sympathischer Mensch und ein großer Schriftsteller. Die »kleinen« Leute kannte er gut – ihren Charme und ihre Feigheit, ihre Werte und ihre Verführbarkeit. Er war einer von ihnen, und wie er Heldenverehrung ablehnte, war auch er selbst kein Held. Die zwei nunmehr vorliegenden, hervorragend edierten Tagebuchbände enthüllen Strittmatters Dilemma eindrucksvoll: die Entstehung der Texte Strittmatters, die Kämpfe um seine Bücher, die familiären Spannungen auf Schulzenhof, die Eitelkeiten, Krankheiten, Widersprüche. Allein in der Natur und bei seinen Tieren war er ganz »bei sich«. Dazu finden sich wunderartige, tief berührende Schilderungen, während die Skrupel, mit denen sich der in der Öffentlichkeit allzu brave Genosse und im tiefsten Innern schon lange Abtrünnige herumschlug, selbst sprachlich viel ärmer wirken.
Christel Berger

Erwin Strittmatter: »Nachrichten aus meinem Leben. Aus den Tagebüchern 1954–1973«, hg. von Almut Giesecke. Aufbau Verlag, 600 Seiten, 24,99 €;
Erwin Strittmatter: »Der Zustand meiner Welt. Aus den Tagebüchern 1974–1994«, hg. von Almut Giesecke. Aufbau Verlag, 623 Seiten, 24,95 €



Erinnerungen
Am 9. November 1989 fiel die Mauer – jeder, der diesen historischen Tag miterlebte, verknüpft ganz persönliche Erinnerungen an die überraschende Öffnung der Berliner Mauer. Manche haben das unfaßbare Geschehen passiv am Fernseher verfolgt oder wollten in Berlin die Maueröffnung testen. Andere haben das Ereignis regelrecht verschlafen und erst am nächsten Tag davon gehört.

Die Journalistin Elke Bitterhof hat in dem Sammelband »Goodbye, DDR« Erinnerungen von Prominenten an die Maueröffnung zusammengetragen. Die ehemalige DDR-Fernsehmoderatorin wurde selbst erst durch Freunde darauf aufmerksam gemacht, »wie Leute durch die Mauer laufen«. Neben ihr erzählen noch weitere 29 Prominente aus Ost und West von ihren Erlebnissen.

So erfuhr die Fernsehproduzentin Regina Ziegler bei Freunden auf einer Geburtstagsfeier von dem Ereignis und eilte dann an die Berliner Mauer. Die Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld hatte am Vormittag die innerdeutsche Grenze gerade in umgekehrter Richtung (von West nach Ost) zur Verwunderung der völlig verwirrten Grenzer passiert. Der Schauspieler und Kabarettist Uwe Steimle spielte am Abend des 9. Novembers im Berliner Metropol-Theater und erfuhr von der Maueröffnung nach der Vorstellung. Der Rock-Poet Heinz Rudolf Kunze wurde von seinen Bandmusikern aus dem Schlaf gerissen, und die Gruppe »Karat« spielte im Rundfunk-Studio gerade eine neue Produktion ein.

Wie vielfältig die Erinnerungen sind, soll eine weitere Auswahl von Autoren verdeutlichen: Henry Hübchen, Hans-Dietrich Genscher, Jochen Kowalski, Wolfgang Niedecken, Emöke Pöstenyi, Rainer Eppelmann oder Wim Wenders. Die meisten Beiträge beschränken sich nicht allein auf den Abend des 9. November, sondern lassen die Wendezeit allgemein einfließen. Es sind sehr persönliche Erinnerungen von Zeitzeugen, die noch einmal die dramatischen Tage im Wendeherbst ´89 Revue passieren lassen – es ist eine Zurückschauen mit dem Abstand von einem Vierteljahrhundert und mit dem Wissen, was daraus geworden ist.
Manfred Orlick

Elke Bitterhof (Hrsg.): »Goodbye, DDR – Erinnerungen an den Mauerfall«, Aufbau Verlag, 272 Seiten, 14,95 €



Zuschrift an die Lokalpresse
Ich wohn‘ in Berlin und hab‘ seit 42 Jahren ‘ne Parzelle in der Kolonie Fröhlicher Blumenkohl e.V. Bis 1990 gehörten unsere Grundstücke zur »Sozialistischen Kleingartenanlage Hermann und Käte Duncker«, aber das ist nun schon lange vorbei, der Duncker soll ja Kommunist gewesen sein. Die Bestellung meiner Scholle macht mir Freude, man ist an der frischen Luft und bewegt die alten Gelenke. Und man kann mit etwas Geschick die mickrige Rente aufbessern:
Zu DDR-Zeiten verhökerte ich meine Äpfel und Pflaumen an unser Volkseigenes Gemüsekontor und kaufte sie im Konsum viel billiger wieder zurück, das Obst aus Kleingärten wurde im Handel vom Staat subventioniert. Nach der Wende sägte ich meine Obstbäume ab, dafür gab es hohe europäische Prämien wegen der Konkurrenz. Das lohnte sich, dafür konnte ich meine Laube renovieren, den Rasen mit Zementplatten versiegeln lassen und eine hohe Versicherung gegen Einbrüche abschließen.

Jetzt tragen die nachgepflanzten Jungbäume wieder. Doch was soll ich mit dem Obst machen, es wird einem an den Ständen auf dem Markt doch fast hinterhergeworfen? Als mich diese Frage gerade quälte, vergaß mein Enkel seine Zeitung bei mir, die junge Welt vom 1. Oktober. Ich wußte gar nicht, daß es die noch gibt! Und da hab‘ ich einen Artikel gefunden, der mir Hoffnung macht: Wir Obsterzeuger können unsere Früchte nach dem Abernten gleich kompostieren, und das wird von der EU bezuschußt. Die hat ein Programm beschlossen, das heißt »Marktstützung für verderbliches Obst und Gemüse«. Schuld daran ist natürlich wieder der Iwan im allgemeinen und der Putin im besonderen. Der hat in dem Konflikt um die Ukraine ein Einfuhrverbot für landwirtschaftliche Erzeugnisse erlassen, und zwar als Antwort auf die Sanktionen der Amerikaner gegen Rußland. Und darauf regiert nun die EU, damit die Sache rund wird. Nun ist die Pflaumenzeit zwar schon vorbei, aber mit den Äpfeln kann ich noch einen Reibach machen, wenn ich sie ordnungsgemäß verfaulen lasse.

Fazit: Auch ein Kleingärtner kann sein Schäfchen ins Trockene bringen, und das unter jeder Regierung. Wenn man zur richtigen Zeit die richtigen Entscheidungen trifft und die richtigen Formulare ausfüllt, kann man sich in die Politik einmischen und als Kleingärtner einen Beitrag für die Menschenrechte und gegen die Putins Machenschaften leisten. – Werner Hanebüchen (74), Rentner und Kleingärtner, 10318 Berlin-Karlshorst
Wolfgang Helfritsch