erstellt mit easyCMS
Titel2320

Monatsrückblick: Trübe Tage  (Jane Zahn)

»Im traurigen Monat November war’s …«, so beginnt Heinrich Heines Reisebericht »Deutschland. Ein Wintermärchen«. Dieses Jahr ist der November besonders traurig. Kultur darf nicht stattfinden, touristische Übernachtungen sind verboten, Essen im Restaurant untersagt. Kontakte müssen eingeschränkt werden, heißt es. »Jeder Kontakt, der nicht stattfindet, ist gut für die Bekämpfung der Pandemie«, sagte Angela Merkel am 16. November. Die Gesundheitsämter kommen nicht nach mit der Kontaktverfolgung positiv getesteter Menschen. Und die Intensivbetten stoßen an ihre Grenzen. Wie jeden Herbst. Anfang 2015 hatte die Deutsche Welle davon berichtet, dass Kliniken wegen akuter Engpässe in der Intensivmedizin Operationen verschoben hätten. Von überfüllten Notaufnahmen, Patienten, die auf Klinikfluren liegen mussten, und abgeblasenen medizinischen Eingriffen war im Februar 2017 im Focus zu lesen. Auch Anfang 2018 schoben viele Einrichtungen laut Westdeutscher Allgemeiner Zeitung Operationen auf die lange Bank, um die Intensivmedizin vor dem Kollaps zu bewahren. Gleiches berichtete die Augsburger Allgemeine ein Jahr später. Sie warnte: Die Lage sei »brutal«. Noch im Februar 2020 hatte der NDR eine Datenauswertung publiziert. Danach waren zwischen September und Dezember 2019 die Intensivstationen in der Region Hannover in mehr als der Hälfte der Zeit überfüllt, so dass sie Patienten abweisen mussten. In Bremen habe sogar in drei von vier Monaten ein solcher Notstand geherrscht. Im Spätsommer 2019 warnte die Deutsche Krankenhausgesellschaft vor einem Kollaps: 37 Prozent aller Kliniken mussten bereits damals wegen fehlenden Personals Intensivbetten sperren, viele davon die Notfallversorgung zeitweise abmelden – Tendenz steigend. Hätten nicht spätestens da Politiker umsteuern müssen, um heute Lockdowns zu vermeiden?

 

Akut bedroht: die Kultur- und Veranstaltungsbranche, die Künstler und Kulturschaffenden. Immerhin soll es für den November eine 75-prozentige Erstattung des Umsatzausfalls geben; wenn man Glück hat, kommt die sogar bis Ende November, aber die Monate davor waren auch schon für viele komplett umsatzfrei, und dafür gibt es nichts. Im Gegenteil: Die Künstlersozialkasse kappt die Krankenversicherung aller Künstler, die den Beitrag nicht mehr zahlen können. (jW, 17.11.20) Wer braucht schon Künstler?

 

Die sachliche Reportage »Corona: Sicherheit kontra Freiheit« auf arte (https://www.arte.tv/de/videos/098118-000-A/corona-sicherheit-kontra-freiheit/) vergleicht Frankreich, Deutschland und Schweden in ihren Hygienemaßnahmen und den Ergebnissen und muss feststellen, dass Frankreich mit den striktesten Maßnahmen die zweithöchste Sterblichkeit in Europa aufweist und Schweden mit den mildesten (Isolation der Altenheime und Krankenhäuser, Aufrufe zur Zurückhaltung, aber keine Verbote von Veranstaltungen, Schließung von Restaurants und Schulen) die höchste. Auch Schweden setzt jetzt auf Einschränkungen durch Verbote: maximal acht Menschen für Versammlungen und Veranstaltungen im öffentlichen Raum. Ansonsten gilt die Bitte, die Bevölkerung solle darauf verzichten, Feste zu feiern, ins Fitnessstudio oder in die Bibliothek zu gehen.

 

Auch für Donald Trump und seine Anhänger war es ein trauriger Monat November. Verlieren tut weh, besonders Kindern. Und dem kleinen Donald tut es sehr weh, so sehr, dass er es nicht wahrhaben will und lieber Golf spielen fährt. Und natürlich sein Spielzeug dem Gewinner nicht übergeben will, obwohl er es nur für vier Jahre geliehen bekommen hatte. Um sich etwas abzureagieren, hat er noch schnell den Verteidigungsminister Mark Esper gefeuert. Der hatte wohl zu oft dem »besten Präsidenten aller Zeiten« widersprochen. Die Aussicht, dass jetzt ein Ja-Sager in das Pentagon einzieht, entlockte dem Ex-Minister Esper ein »Dann helfe uns Gott!« im Interview mit Military Times (zitiert nach MAZ, 13.11.20). Ob der hilft, wenn Trump die US-Besatzer aus Afghanistan abzieht? Nicht den Afghanen, aber den verbleibenden Bündnistreuen bis in den Tod? Da will dann hoffentlich keiner der letzte sein. Geht Trump als Friedensbringer in die Geschichte der Taliban ein?

 

Und was ist nun mit dem Brexit? Der 31. Oktober ist ergebnislos verstrichen, ein Ausstiegsabkommen nicht in Sicht. Regelloser Ausstieg? David Cummings, Chefberater in Johnsons Kabinett, ist jedenfalls jetzt sehr formlos ausgestiegen. Einer der Brexit-Drahtzieher. Davor nahm bereits Johnsons Kommunikationschef Lee Cain den Hut, der als Brexit-Antreiber galt. Die britische Presse munkelt von Intrigen. Offenbar muss Boris Johnson nun, da sein Kumpel Trump ihm nicht mehr den Rücken stärkt, doch wieder mit der EU verhandeln und die Scharfmacher loswerden. Immerhin hat das britische Oberhaus das »Binnenmarktgesetz« Johnsons abgelehnt, das ein Abkommen über eine zollfreie Grenze zwischen der Republik Irland und dem zu Britannien gehörenden Nordirland torpediert hätte. Die Lords waren mehrheitlich der Ansicht, es wären »beleidigende Klauseln«, wie Angela Smith, die Vorsitzende der oppositionellen Labour Partei im Oberhaus, es formulierte. (tagesschau.de, 10.11.20) Ein trauriger Monat für Boris Johnson!

 

Traurig macht auch, dass die Junge Union wieder mal bestätigt, dass sie die jüngsten alten Männer in Deutschland hat. Sie unterstützt Friedrich Merz bei seiner Kandidatur für den CDU-Vorsitz. Es scheint, der November wird diesmal sehr lang …

 

Aber ganz hoffnungslos brauchen wir nicht zu sein: »Derzeit redet alle Welt von einem Impfstoff gegen Corona. Vielleicht sind Initiativen wie ›Abrüsten statt Aufrüsten‹ ein Impfstoff für den Frieden«, schreibt Heribert Prantl in seiner Kolumne in der Süddeutschen Zeitung vom 15. November. Sehen wir ihn dann am 5. Dezember beim bundesweiten Aktionstag, der die Proteste gegen die Haushaltsberatungen des Bundestags einleiten soll, bei denen es unter anderem um die Steigerung der Rüstungsausgaben geht? Das wäre bitter nötig: Am 16. November berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung, noch in diesem Monat erhalte die Luftwaffe »die derzeit größte Einzelbewilligung für ein Luftfahrzeug«: 5,4 Milliarden Euro für 38 neue Eurofighter zur »Abschreckung« und angesichts der »Herausforderungen« an den NATO-Außengrenzen. Die SPD sei einverstanden und der Luftwaffeninspekteur spreche von einem »Quantensprung«. Richtung Russland, natürlich. Trauriger, langer Monat November.