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Titel2510

Das neue Konzept der NATO  (Alexander S. Neu)

Auf ihrer Gipfelkonferenz am 19. November in Lissabon verabschiedete die NATO ihr neues »Neues Strategisches Konzept« (NSK), das dritte seit dem Ende der Systemkonkurrenz. Das erste NSK hatte sie 1991 beschlossen, in einer Zeit, als sie zwischen Siegestaumel und Identitätskrise schwankte. 1999, mitten in ihrem Bombenkrieg gegen Jugoslawien, holte die NATO in ihrem zweiten NSK programmatisch nach, was sie inzwischen schon jahrelang praktiziert hatte: »Out of area«-Einsätze zur Durchsetzung imperialistischer oder, wie man heute vornehmer sagt, geopolitischer Interessen. Damals befand sich die NATO dank ihres bündnispolitischen Zusammenhalts und der ökonomischen und finanziellen Potenz ihrer Mitgliedsstaaten auf dem Zenit ihrer Macht.

In dem zurückliegenden Jahrzehnt haben der völkerrechtswidrige gewaltsame Regimewechsel in Afghanistan, der anschließende »nicht-internationale bewaffnete Konflikt« am Hindukusch sowie die NATO-internen Auseinandersetzungen um den US-geführten Überfall auf den Irak die zentrifugalen Kräfte erstarken lassen. In dieser Situation hat das dritte NSK für die NATO auch eine sinn- und identitätsstiftende Funktion.

Seit dem Ende des Kalten Krieges hält die NATO ein breites Bedrohungsspektrum parat, das vom Konkreten zum Abstrakten reicht, um den Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten à la carte Begründungen für die Unabdingbarkeit des Bündnisses und seines jeweiligen Vorgehens liefern zu können.

Das NSK 2010 räumt zwar ein, daß das Bündnisgebiet keiner konventionellen Bedrohung ausgesetzt sei, betrachtet indes das Entstehen neuer ökonomischer und militärischer Machtzentren als potentielle Bedrohung der »euro-atlantischen Sicherheit«. Das ist aber nur ein scheinbarer Widerspruch: Mit »euro-atlantischer Sicherheit« ist nämlich nicht die Sicherheit des westeuropäischen und nordamerikanischen Territoriums gemeint, sondern die Sicherung materieller und strategischer Interessen jenseits der Bündnisgrenzen.

Der seit Jahren zu beobachtende Wandel von der monopolaren hin zu multipolaren Weltordnung bedroht unzweifelhaft die globale Hegemonie der US-geführten euro-atlantischen Strukturen. Die NATO wehrt sich dagegen, daß westliche Vorherrschaft eingeschränkt, westlicher Kapitalismus und seine Wertekodizes zurückgewiesen werden. Andere Risiko- und Bedrohungsfelder sind in diesem Kontext zu sehen: internationaler Terrorismus, Proliferation von Massenvernichtungswaffen, Angriffe aufs Internet, Unterbrechung von Handels- und Energietransitrouten, wachsender Energiebedarf, Klimaveränderungen, Wasserverknappung und so weiter.

Unter den Überschriften »Sicherheit durch Krisenmanagement« und »Förderung internationaler Sicherheit durch Kooperation« unterstreicht die Nordatlantikpakt-Organisation ihren Anspruch als imperialistische Weltordnungsmacht. Zugleich gibt sie indirekt zu, daß ihre Potentiale abnehmen, indem sie einschränkend formuliert, die NATO werde sich engagieren, »wo möglich und wenn nötig«. Darüber hinaus signalisiert sie großzügig einen kooperativen Multilateralismus gegenüber anderen relevanten Staaten, der UNO und der EU, und auch das deutet darauf hin, daß sie schwächer geworden ist. Zu echtem Multilateralismus ist sie aber nicht bereit. Was sie wünscht, ist vielmehr bilaterale Kooperation – ad hoc oder permanent, je nach Bedarf der NATO und immer unter ihrer Führung.

Die EU erhält nun endlich ihre Aufwertung als »strategischer Partner« der NATO. Selbst die von den USA bislang skeptisch betrachtete Militarisierung der EU als Konkurrenzprojekt zur NATO (wenn nicht gar als europäischer Versuch, sich von der NATO zu emanzipieren) wird angesichts der angeschlagenen Hegemonialstellung der USA nun ausdrücklich begrüßt. Im Vordergrund steht hierbei die Lastenteilung – die USA sind imperial »overstretched«.

Die Partnerschaftsofferte an die UNO ist nicht als Anerkennung der UNO als bestimmender Weltorganisation zur Wahrung und Wiederherstellung kollektiver Sicherheit zu verstehen. Die NATO sieht die UNO als einen Akteur unter vielen: Bei Bedarf kooperiert man mit ihm und stimmt sich mit ihm ab. Wer Koch und wer Kellner sein soll, ist klar.

Offerten an Rußland finden sich sowohl im NSK als auch in der »Gemeinsamen Erklärung des NATO-Rußland-Rates«. Beide Dokumente sprechen von »strategischer Bedeutung« der Kooperation und von einer »Kooperationsstufe hin zu einer wahren strategischen Partnerschaft«. Weitere Schritte zur »strategischen Partnerschaft« macht das NSK vom Wohlverhalten Rußlands gegenüber der NATO abhängig. Die Bündnisorganisation bescheinigt sich selbst, alle Bedingungen zu erfüllen, während gegenüber Rußland noch Erwartungen beständen, darunter die, daß Moskau die Politik der »offenen Tür« akzeptiere, womit die Osterweiterung der NATO unter Einschluß der Ukraine und Georgiens gemeint ist.

Die Raketenabwehr, ursprünglich als nationales Projekt der USA geplant, soll nun NATO-weit aufgebaut werden. An der Erforschung und Entwicklung eines solchen Projekts arbeitet die NATO schon seit Jahren, aber bisher war noch nicht endgültig geklärt, ob eine das ganze NATO-Territorium abdeckende Raketenabwehr technisch machbar erscheint. Im NSK hat man sich nun darauf verständigt, daß ein solches Abwehrsystem errichtet werden soll. Aber ob es technisch realisierbar ist (Schätzungen gehen von mehr als 20 Milliarden Euro aus), gilt nach wie vor als zweifelhaft. Wie auch immer, der politische Zweck zählt: Die NATO soll durch das gemeinsame Projekt gefestigt werden. Funktioniert es aber technisch nicht, wofür die bisherigen Erfahrungen sprechen, oder steigen Mitgliedsstaaten wegen der enormen finanziellen Belastungen aus, könnte es sich als Bumerang erweisen: Der Zusammenhalt des Bündnisses könnte weiteren Schaden nehmen.

Auch ist nicht geklärt, wie Rußland einbezogen werden könnte. In der »Gemeinsamen Erklärung des NATO-Rußland-Rates« wurde lediglich vereinbart, eine umfassende gemeinsame Analyse über einen künftigen Kooperationsrahmen für die Raketenabwehr zu entwickeln. Rußland wird sich sicher nicht auf ein kostenintensives technisches Abenteuer einlassen. Bleibt Rußland jedoch draußen, könnte damit die derzeitige Annäherung zwischen der NATO und Rußland enden und das nordatlantische Bündnis weitere Sprünge bekommen.

Die Atomwaffenpolitik mit dem Ziel einer »global zero« ist mit der NSK begraben: Solange es Atomwaffen in der Welt gebe, solange werde die NATO auch eine nukleare Allianz sein, heißt es jetzt. Bei genauerer Betrachtung hatten Barack Obamas »global zero«-Phrasen von vorn herein nichts anderes als eine atomwaffenfreie Welt minus USA bedeutet. In Lissabon wurde sein eigenwilliges Verständnis von weltweiter nuklearer Abrüstung auf die NATO übertragen. Da sie so lange über Nuklearwaffen verfügen will, wie es diese Waffen gibt, wird es so lange Nuklearwaffen geben, wie die NATO über sie verfügt. Zu nuklearer Abrüstung wird diese Politik nicht führen.

Ob die NATO in zehn Jahren erneut ein neues »Neues Strategisches Konzept« verabschieden wird? Mir erscheint das fraglich. Ich sehe Anzeichen dafür, daß die NATO zur leeren Hülle verkommen könnte. Wenn die Ökonomie und die Reputation der USA weiter schwächeln, wird sich das auf ihre Führungsrolle im Bündnis auswirken. Die schärfer werdende Konkurrenz zwischen Deutschland und den EU-Partnern einerseits und den USA andererseits kann nicht auf Dauer aus dem außen- und sicherheitspolitischen Diskurs ausgeblendet werden. Rußland als Rohstoffexporteur gewinnt an Einfluß und Akzeptanz in Westeuropa. Putins Vorschlag einer Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok wird vom deutschen Industrie- und Finanzkapital begrüßt. Lediglich der transatlantische Konservatismus in Teilen der deutschen Politik weigert sich noch, die Zeichen der Zeit zu erkennen.