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Titel319

Sarrazynismus mit Hilferding erklärt  (Michael Klundt)

Nicht nur die sozialen Spaltungsprozesse und deren Auswirkungen auf junge Generationen, sondern auch deren ideologische Ausdrucksformen in den aktuellen Ungleichheitsdebatten sowie die Ursachen sind zu ergründen. Dabei wird die These vertreten, dass es eine historisch-gesellschaftliche Notwendigkeit des rechtspopulistischen Sarrazynismus gibt. Wer Europa nach standortnationalistischen Kriterien ordnet, hier und da Kriege führt und mit den EU-Krisenstaaten in wohlstandschauvinistischer Weise umgeht, findet mit Sarrazin und AfD die passende Ideologie.

 

Fast 100 Jahre vor dem ressentimentgeladenen Hetzbuch »Deutschland schafft sich ab« des SPD-Mitglieds Thilo Sarrazin erforschte der Sozialdemokrat Rudolf Hilferding (1877–1941) sozioökonomische Grundlagen des Kapitalismus und des imperialistischen Weltsystems seit Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In seinem Buch »Finanzkapital« von 1910 untersuchte er die immer monopolistischer auftretenden Vereinigungen von Industrie- und Bankkapital. Deren gegenseitige Verschmelzung bezeichnete er als »Finanzkapital« und analysierte dessen politische, ökonomische und ideologische Strukturen sowie Begleiterscheinungen. Hilferding verfasste damit eines der ersten Grundlagenwerke über den Wandel des Kapitalismus der freien Konkurrenz zum monopolistischen Kapitalismus des imperialistischen Zeitalters – quasi eine der ersten Imperialismustheorien. So verwies er nicht nur auf die systemischen Kriegsgefahren durch Kolonialexpansion und Aufrüstung, sondern auch auf die finanzkapitalistisch notwendigen Expansionsbestrebungen sowie ideologischen Veränderungen zur Legitimation direkter oder indirekter Gewaltpolitik in den internationalen Beziehungen.

 

Die alten Freiheitsideale, die Ideologie des Liberalismus seien vom Bürgertum des imperialistischen Zeitalters über Bord geworfen worden, denn »das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft«, konstatiert Hilferding (»Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus«, 1910/1947, S. 502). Kurz: Wer anderen Menschen Menschenwürde und Menschenrechte, ja sogar das Recht auf Leben abstreitet, braucht dazu eine wirksame Begründung. Rassistische Ideologien und nationalistische Konzeptionen bieten sich dafür vorzüglich an.

 

»Als Ideal erscheint es jetzt, der eigenen Nation die Herrschaft über die Welt zu sichern, ein Streben, ebenso unbegrenzt wie das Profitstreben des Kapitals, dem es entsprang. Das Kapital wird zum Eroberer der Welt, und mit jedem neuen Lande erobert es die neue Grenze, die es zu überschreiten gilt. Dieses Streben wird zur ökonomischen Notwendigkeit, da jedes Zurückbleiben den Profit des Finanzkapitals senkt, seine Konkurrenzfähigkeit verringert und schließlich das kleinere Wirtschaftsgebiet zum Tributpflichtigen des größeren machen kann. Ökonomisch begründet, wird es ideologisch gerechtfertigt durch jene merkwürdige Umbiegung des nationalen Gedankens, der nicht mehr das Recht jeder Nation auf politische Selbstbestimmung und Unabhängigkeit anerkennt und der nicht mehr Ausdruck ist des demokratischen Glaubenssatzes von der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, auf nationalem Maßstab. Vielmehr spiegelt sich die ökonomische Bevorzugung des Monopols wider in der bevorzugten Stellung, die der eigenen Nation zukommen muß. Diese erscheint als auserwählt vor allen anderen. Da die Unterwerfung fremder Nationen mit Gewalt, also auf sehr natürlichem Wege vor sich geht, scheint die herrschende Nation diese Herrschaft ihren besonderen natürlichen Eigenschaften zu verdanken, also ihren Rasseneigenschaften. In der Rassenideologie ersteht so eine naturwissenschaftlich verkleidete Begründung des Machtstrebens des Finanzkapitals, das so die naturwissenschaftliche Bedingtheit und Notwendigkeit seiner Handlungen nachweist. An Stelle des demokratischen Gleichheitsideals ist ein oligarchisches Herrschaftsideal getreten.« (S. 504.) Dessen aggressive und antidemokratische Auswirkungen bis hin zu autoritären Regimebildungen wie dem Faschismus sah Hilferding damit schon lange voraus, bevor faschistische Regimes tatsächlich ihre Machtaufstiege in den 1920er und 1930er Jahren feierten. Die Analysen sind auch heute noch relevant und berücksichtigenswert für alle diejenigen, denen Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Frieden wichtig sind. Damit könnte das SPD-Mitglied Hilferding nebenbei auch leicht zur Aufklärung über Ideologie und Funktion des SPD-Mitglieds Sarrazin beitragen.

 

Noch gegen Ende des Ersten Weltkrieges zogen klügere Vertreter imperialistischer Innen- und Außenpolitik die Konsequenz, dass sie ihre Interessen und Motive ethisch verschleiern müssten, um sie auch unter demokratischen Bedingungen weiterhin durchsetzen zu können. Der badische Thronfolger Max von Baden entwarf hierzu im Frühjahr 1918 das Konzept eines »ethischen Imperialismus«, um dem »Ansturm der Demokratie« standzuhalten. »Will der deutsche Imperialismus dem Ansturm der Demokratie mit ihrem Anspruch auf Weltverbesserung Stand halten, so muss er sich ethisch fundamentieren. Wir können nunmehr getrost Menschheitsziele in unser Programm aufnehmen. Das Recht war mit uns[,] als wir das russische Reich in Stücke schlugen; das Recht war mit uns[,] als wir den befreiten Völkern ihre nationale Freiheit verbürgten.« (Max von Baden: »Denkschrift über den ethischen Imperialismus«, 20. März 1918, zit. nach: Reinhard Opitz: »Europastrategien des deutschen Kapitals«, S. 436 f.)

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es dann beispielsweise für den US-Imperialismus ähnliche Legitimationsprobleme. Der Leiter des Planungsstabs im US-Außenministerium, George Kennan, entwarf daher 1948 ein Geheim-Memo zur geopolitischen Interessensbestimmung der USA. Darin wird deutlich, warum (Kinder-)Armuts- und Reichtumsfragen immer auch im gesellschaftlichen und globalen Kontext mit weltpolitischen Interessen verknüpft betrachtet werden müssen. So heißt es bei Kennan ganz unverblümt: »Darüber hinaus haben wir ungefähr 50 Prozent des Reichtums der Welt, aber nur 6,3 Prozent der Weltbevölkerung. Diese Disparität ist besonders groß in Bezug auf die Völker Asiens. In dieser Situation können wir es nicht vermeiden, Gegenstand des Neids und des Ressentiments zu sein. Unsere wesentliche Aufgabe in der kommenden Zeit ist es, eine Konstellation der Beziehungen zu konzipieren, die es uns erlaubt, diese Position der Disparität aufrechtzuerhalten, ohne unsere nationale Sicherheit zu beeinträchtigen. Um dies zu tun, werden wir auf alle Sentimentalität und alle Tagträume verzichten müssen, und unsere Aufmerksamkeit wird sich überall auf unsere unmittelbaren nationalen Ziele richten. Wir brauchen uns nicht darüber zu täuschen, dass wir uns den Luxus des Altruismus und der weltweiten Wohltätigkeit leisten können. […] Wir sollten aufhören von vagen — und für den Fernen Osten — unrealistischen Zielen wie Menschenrechten, Anhebung von Lebensstandards und Demokratisierung zu reden. Der Tag ist nicht mehr fern, an dem unser Handeln von nüchternem Machtdenken geleitet sein muss. Je weniger wir dann von idealistischen Parolen behindert werden, desto besser.« (George F. Kennan, Memo PPS23, 28. Februar 1948, freigegeben 17. Juni 1974, zit. nach: Diana Johnstone: Die Chaos-Königin. Hillary Clinton und die Außenpolitik der selbsternannten Weltmacht. Aus dem Englischen von Michael Schiffmann. Westend Verlag Frankfurt a.M. 2016, S. 13).

 

Und lange nach dem Ende des Kalten Krieges, 1990/91, sowie kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde NATO-General Wesley Clark Zeuge von Aussagen über Kriegspläne der US-Führung, die bis heute reichen. Demnach plante das Pentagon bereits im September 2001 einen fünf Jahre andauernden Feldzug, worin insgesamt sieben Länder – angefangen mit dem Irak, dann Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, Sudan und, abschließend, Iran – angegriffen werden sollten (vgl. Winfried Wolk: »Ursache und Wirkung«, in: Ossietzky 18/2015).

 

Mit diesen gewaltvollen Entwicklungen bis heute hat sich auch Papst Franziskus auseinandergesetzt. Interessanterweise lässt dabei seine Kapitalismus- und Kriegskritik von 2014 nichts an Deutlichkeit vermissen. Er sagte: »Der Kapitalismus braucht Krieg« (Tagesspiegel vom 13.6.2014). »Damit das System fortbestehen kann, müssen Kriege geführt werden, wie es die großen Imperien immer getan haben. Einen Dritten Weltkrieg kann man jedoch nicht führen, und so greift man eben zu regionalen Kriegen.« (Papst Franziskus, Handelsblatt vom 13.6.2014)

 

Wenn sich in der Gegenwart zurecht kritisch mit dem Rassismus und dem Sexismus des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, mit seiner Behindertenfeindlichkeit und völligen Verachtung für die Mehrheit der Menschheit auseinander gesetzt wird, geht leider häufig eine analytische Kategorie verloren. Denn durch Trumps Agitieren und Agieren erlangt der realexistierende (US-)Imperialismus endlich wieder eine durchschaubarere Kontur. Anders als viele seiner Vorgänger lässt der US-Präsident einfach alle verlogenen ideologischen Vorwände für US-Interessen (»Freiheit«, »Demokratie«, »Menschenrechte«, »humanitäre Interventionen«) rhetorisch weg und spricht Klartext über sogenannte shithole countries des Südens; Länder, deren Bevölkerung er das eine oder andere Mal nur rassistisch angreift oder ihnen auch militärische Vernichtung (das heißt Völkermord) androht. So klar und deutlich wurde schon lange nicht mehr der Imperialismus für alle Menschen dargestellt. Wer glaubt, dass irgendein Vorgänger Trumps – mit welcher Rhetorik auch immer – auch nur einen Millimeter von den Bedarfen des militärisch-finanz-industriellen Komplexes der USA abwich und keine imperialistischen Ziele und Methoden angewandt hat, befindet sich immer noch in einer illusionären Phantasieblase.

 

Sofern also Donald Trump die Menschheit in seiner Amtszeit nicht ausrottet (was nicht sicher ist, aber zu hoffen wäre), kann er uns als Lerngegenstand dienen für den Zustand einer imperialistischen Gesellschaft, die jemanden mit genau seinen Eigenschaften an ihre ökonomische und politische Spitze setzt. Genau dieser Sexismus, Rassismus und Nationalismus von Trump hat in den USA gesiegt. Genau diesen Millionärserben hat die US-Gesellschaft durch Immobilienspekulationen und diverse Steuerpraktiken zum Milliardär gemacht, also zum Herrscher über die Arbeitskraft und das Schicksal von hunderttausenden von Menschen – lange vor dem Beginn seiner Präsidentschaft. Die Mentalität eines Vergewaltigers, der sich noch damit brüstet, Frauen wann er will zwischen die Beine greifen zu können (vgl. »Video erschüttert US-Wahlkampf. Donald Trump prahlte mit sexuellen Übergriffen« in: Spiegel.de vom 8.10.2016) und dabei unangreifbar zu sein, weil er Milliardär ist. Der Rassist, der über Mexikaner, Muslime und andere Angehörige von »shithole countries« so verachtungsvoll spricht und Behinderte sowie Vergewaltigungsopfer nachäfft. Der Verkommenheitsgrad und die Überwindungsnotwendigkeit des imperialistischen Kapitalismus werden mit jedem Tweet, jeder Rede und jedem Handeln des US-Präsidenten offenbar für alle Welt. Die Schlüsse müssen die Menschen (zuerst die US-Bürger/innen) allerdings selbst ziehen (vgl. Michael Lüders: »Saudi Connection«, C.H. Beck, 2018). Viele Schülerinnen und Schüler, die sich zum Beispiel gegen die Waffengesetze der USA wenden, sind dabei vielleicht schon auf dem richtigen Weg.

 

Insofern lassen sich Sarrazynismus und Trumpismus als Denk- und Handlungsformen auch mit Hilferdings Hilfe erklären. Warum und inwiefern sie sogar im Zusammenhang mit nationalen und internationalen (Kinder-)Armuts- und Reichtumsverhältnissen betrachtet werden müssen, habe ich in dem Band »Gestohlenes Leben. Kinderarmut in Deutschland« untersucht, der in Kürze beim PapyRossa Verlag Köln erscheint.