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Ein politisches Festival  (Heinz Kersten)

Die Berlinale geriert sich gern als politisches Festival, schon um sich damit gegenüber den zahlreichen Konkurrenten, als die sie vor allem Cannes und Venedig empfindet, zu profilieren. Begreift man auch das Private als politisch und berücksichtigt außer dem diesmal auf 16 Beiträge abgespeckten Wettbewerb ebenso die verschiedenen Nebenreihen, auf die ich hier nicht eingehen kann, so wurde die Berlinale wieder ihrem Anspruch gerecht.

Gleich der Auftakt setzte einen deutlichen Akzent mit der Verlesung eines Briefes des in seiner Heimat zu Haft, Berufs- und Ausreiseverbot verurteilten iranischen Regisseurs Jafar Panafi, für den ein Stuhl als Jurymitglied frei blieb. Am Ende konnte man auch die Verleihung des Goldenen Bären für den iranischen Film »Jadaeiye Nader az Simin« (Nader und Simin, eine Trennung) von Asghar Farhad und seinem Schauspielerensemble als demonstrative Geste verstehen: ein Familiendrama, das auch Einblicke in die Gesellschaft des Landes gewährte, freilich mit allzu großer Geschwätzigkeit hinter den gewohnten formalen Qualitäten des iranischen Kinos zurückblieb. Der zwei Jahre zuvor mit einem Silbernen Bären ausgezeichnete Film »Darbareye Elly« des gleichen Regisseurs hatte mich mehr überzeugt.

Zur Festivaleröffnung lief außer Konkurrenz das Remake eines Western von 1969 (»Der Marshall« mit John Wayne nach einem Roman von Charles Portis): »True Grit« von Joel und Ethan Coen. Eine Vierzehnjährige (die Entdeckung: Hailee Steinfeld) will den Mörder ihres Vaters aufspüren, um ihn vor Gericht zu bringen, und engagiert für die Verfolgungsjagd durch die Weiten der Prärie einen versoffenen alten Marshall, der sich für diese Aufgabe mit 23 Toten in vier Dienstjahren empfiehlt. Auch beim Ritt durch die faszinierende Landschaft wird viel geballert, Leichen pflastern den Weg des ungleichen Paares. Für mich ist dieser inzwischen in unseren Kinos angelaufene Genrefilm ein Politikum, führt doch die Spur des US-amerikanischen Gründungsmythos bis in die Gegenwart einer waffengeilen Gesellschaft.

Der Zufall wollte, daß gerade am Abend der Berlinale-Gala mit »True Grit« ein Panorama-Beitrag in der ARD an den GI Bradley Manning erinnerte, der Anfang Mai 2010 im Irak verhaftet worden war wurde, weil er angeblich ein Video, das die Erschießung von Zivilisten und zwei Reuters-Reportern durch Piloten eines US-Hubschraubers zeigt, Wikileaks zugespielt haben soll. Dem in Isolationshaft gehaltenen Manning drohen 50 Jahre Zuchthaus; Konservative in den USA fordern die Todesstrafe für den »Verräter«.

Während Panorama verdienstvoll diesen Skandal aufdeckte, posierten unter dem Beifall der stets zahlreichen Zaungäste die Kult-Status genießenden Coen-Brüder und ihr Hauptdarsteller Jeff Bridges auf dem roten Teppich vor dem Berlinale-Palast. Bei der Entscheidung, welche Filme eingeladen werden, spielt auch die Frage eine Rolle, welche Stars mit ihnen kommen. Die sind dann oft wichtiger als die (»True Grit« nicht bestrittene) Festivaltauglichkeit der von ihnen präsentierten Arbeiten. Die Anwesenheit bekannter Schauspieler läßt man sich auch einiges kosten: ab 3400 Euro für das Hotellogis pro Nacht. Den Gästen ist der Jubel ihrer Fans sicher. Die langen Warteschlangen vor den Ticket-Schaltern und die bis auf den letzten Platz gefüllten Vorstellungen bestätigten die Berlinale wieder als Publikumsfestival. 300.000 Karten wurden verkauft.

Groß war auch das Interesse an der Möglichkeit, Produktionen aus Ländern zu sehen, die sonst nie im Kinoalltag auftauchen. Leider war Osteuropa, wie bei der Berlinale gewohnt, nur schwach vertreten. Ein Film aus der Ukraine zum 25. Jahrestag der Kernkraftwerk-Katastrophe von Tschernobyl, »V Subbotu« (An einem Samstag), erwies sich allerdings selbst als Katastrophe. Regisseur Alexander Mindadse verlor sich in die musikalische Begleitung einer Hochzeitsfeier und in Dispute zum Wiedersehen alter Freunde, wobei er das auch angesichts der Auseinandersetzungen um Atomkraft bei uns ganz aktuelle Thema aus den Augen verlor. Da hatten wohl viele verschwendete deutsche Fördergelder den Weg in den Wettbewerb gebahnt.

Hier konkurrierten auch zwei deutsche Beiträge. In »Schlafkrankheit« erzählt der mit einem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnete und durch zwei der »Berliner Schule« zugerechnete Filme bekannt gewordene Ulrich Köhler erzählt, autobiographisch legitimiert, in »Schlafkrankheit« von Entwicklungshelfern in Afrika und problematisiert dabei auch den Nutzen mancher Projekte.

Inzwischen schon ein halbes Jahrhundert zurück blendet Andres Veiel mit seinem Spielfilmdebüt »Wer wenn nicht wir«. Ausgewiesen als Dokumentarist (»Black Box BRD«) für einen genauen Umgang mit dem immer noch nicht beruhigten Thema RAF, gräbt der Regisseur tiefer und legt die Wurzeln des sonst meist nur oberflächlich behandelten Engagements eines Teils der Nachkriegsgeneration gegen die NS-Vergeßlichkeit der Eltern und den Vietnam-Krieg bloß. Bei ihm stehen dafür das Paar Gudrun Ensslin und Bernward Vesper. Er, der Sohn des unbelehrbaren Nazi-Dichters Will Vesper, von dem er sich doch nicht ganz lösen kann, sie, die Tochter einer bei aller Ablehnung der braunen Diktatur doch passiv gebliebenen Pfarrerfamilie. Gudrun will es besser machen, besser als die Familie, auch als Bernward, der nur als Verleger und Schriftsteller rebelliert. Sie verläßt ihn und ihr gemeinsames Kind und geht mit Andreas Baader in den Untergrund. Der Film endet aber schon mit dem Frankfurter Kaufhausbrand. Von Bernward Vespers Selbstmord erfährt man nur durch ein Insert am Schluß.
Veiels Psychogramm eines Aufbegehrens besticht durch die genaue Milieuzeichnung. Er erzählt auch eine Liebesgeschichte. Baader wird nicht dem üblichen Klischee ausgeliefert, und zur politischen Revolte gehört auch die sexuelle Emanzipation. In einem Interview sagte Veiel: »Baader besaß eine Skrupellosigkeit, die Ensslin nicht hatte, und sie hatte die intellektuelle Durchdringung, die ihm fehlte. Das war ein kongeniales Paar – und ein symbiotisches Abhängigkeitsverhältnis.« (epd Film, 3/11)

Am 10. März kommt »Wer wenn nicht wir« in die Kinos. Die Jury verlieh dem Film den nach dem ersten Berlinale-Leiter benannten Alfred-Bauer-Preis. Dazu hätte sich eigentlich die bisher unbekannte Lena Lauzemis für ihre Verkörperung Gundrun Ensslins den Preis als beste Darstellerin verdient. In einem sonst schwachen Festival-Jahrgang war – abgesehen von »A Torinói Ló« (Das Turiner Pferd), dem gewohnt überlangen, minimalistischen Film des Ungarn Béla Tarr, der mit einem Silbernen Bären gewürdigt wurde – Veiels Beitrag im Wettbewerb einer der wenigen Lichtblicke. Für die Auseinandersetzung mit einem immer »unbewältigten« Kapitel BRD-Vergangenheit unverzichtbar.