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Titel0610

Heinrich Fink zum 75.  (Manfred Wekwerth)

Ich muß Nietzsche widersprechen, daß es nur einen Christen gebe und der sei am Kreuz gestorben. Ich kenne noch einen, und sicher gibt es noch andere echte Christen. Der, von dem hier die Rede ist, hat sogar vieles gemeinsam mit jenem ersten. Auch er tritt, ohne sich zu schonen, für die Mühseligen und Beladenen ein, und wie der erste vor 2000 Jahren in Jerusalem einritt, nicht nur zu predigen, sondern seine Thesen unter den Menschen zu erproben, um ihnen zu helfen, so versäumt der, von dem hier die Rede ist, 2000 Jahre später auch keine Gelegenheit, unermüdlich die Botschaft unter die Menschen zu bringen, jene Botschaft, die da lautet: »alle Verhältnisse umzuwälzen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Doch halt. Das stammt von einem ganz anderen, der eigentlich im Menschen das höchste Wesen für den Menschen sieht. Heiner Müller nannte dies den nicht erlöschenden »Glutkern des Marxismus«. Der ihn prägte, war kein »Gottessucher«, sondern ein – wie Jesus den Petrus nennt – »Menschenfischer«. Und er hieß Karl Marx.

Und damit bin ich bei einer Frage, die oft gestellt wird, wenn von Heinrich Fink die Rede ist: Kann ein Christ Marxist sein? Ich stelle mir immer die Gegenfrage: Kann er es nicht sein? Denn auch um zu beten und zu glauben, müssen die Menschen essen und trinken, da sie sonst, wie das heute in weiten Teilen der Welt geschieht, verhungern und verdursten. Das zu verhindern, ist weniger eine Frage des Glaubens, sondern der Solidarität der Menschen untereinander.

Dem Menschen Solidarität in jeder Weise zu erweisen und, wenn nötig, durch unermüdlichen persönlichen Einsatz zu verschaffen, scheint mir – kurzgefaßt – die Lebensaufgabe jenes Mannes, von dem hier die Rede ist. Dazu gehört der persönliche Freund, den man zuverlässig in ihm hat, und dazu gehört sein Einstehen gegen die um sich greifende Barbarei, die unermüdliche Aufklärung der Menschen über den gefährlichsten Feind der Menschen, den alten und den neuen Faschismus.

Aber noch etwas hat der Mann, von dem hier die Rede ist. Was nützen die schönsten Worte und Meinungen, wenn die Menschen einem nicht zuhören. Heinrich Fink hört man zu, und man hört ihm gern zu, auch weil er selbst zuhören kann. Selbst in seiner zuweilen milden Art zu reden, vermittelt er Leidenschaften.

So erinnere ich mich seiner öffentlichen Berufung als gewählter Rektor der Humboldt-Universität 1989. Im Audimax hatte sich die ganze Universität mit vielen Gästen versammelt. Man saß und stand, sogar zwischen den Bänken, und man lagerte auf dem Fußboden bis vor das Katheder. Alles erinnert an alte Bilder aus der französischen Revolution. Gespannte Stille und explodierende Leidenschaft begleiteten die kurzen ruhigen Worte des neu gewählten Rektors, die von Vernunft, Verantwortung, von neuem Wissensdurst und von Freude am Lernen und Begreifen sprachen.

Heinrich Fink widerfuhr großes Unrecht: Der eben mit großer, leidenschaftlicher Zustimmung vor allem der Studenten zum Rektor Berufene wurde vom CDU-Senator für Wissenschaft unter der falschen Anschuldigung der Spitzeltätigkeit im wahrsten Sinne des Wortes rausgeschmissen – ohne die geringste Möglichkeit, sich zu verteidigen. Ich bewunderte, wie Heinrich Fink darauf nicht mit alttestamentarischem Zorn antwortete, was seine Gegner gefreut hätte, sondern mit kluger Gelassenheit, indem er seine Solidarität mit Menschen, die sie materiell und geistig dringend brauchten, verbreitete und verstärkte.

Den herzlichen Glückwunsch zu seinem 75. Möchte ich mit zwei großen Namen beschließen, die nicht gegensätzlicher sein können und trotzdem oder deshalb hierher passen.

Aurelius Augustinus, einer der Kirchenväter (um 397): »Wenn die Armut uns bedrängt, wenn Trauer uns niederdrückt, wenn körperliche Schmerzen uns die Ruhe rauben, so mögen gute Menschen kommen, die nicht bloß mit der Fröhlichkeit sich freuen, sondern auch mit den Weinenden zu weinen verstehen, die in tröstlicher Weise ansprechbar sind und ein Gespräch zu führen wissen.«

Bertolt Brecht, Schriftsteller (um 1940): »Je mehr es sind, die leiden, desto natürlicher erscheinen ihre Leiden also. Wer will verhindern, daß Fische im Meer naß werden. Und die Leidenden selber teilen diese Härte gegen sich und lassen es an Güte fehlen sich selber gegenüber. Es ist furchtbar, daß der Mensch sich mit dem Bestehenden so leicht abfindet, nicht nur mit fremdem Leiden, sondern auch mit seinem eigenen. Alle, die über die Mißstände nachgedacht haben, lehnen es ab, an das Mitleid der einen mit den anderen zu appellieren. Aber das Mitleid der Unterdrückten mit den Unterdrückten ist unentbehrlich. Es ist die Hoffnung der Welt.«

Die Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes / Bund der Antifaschisten ehrt ihren Bundessprecher Heinrich Fink am 31. März um 11 Uhr im Haus der Demokratie und Menschenrechte. Die Redaktion
Ossietzky gratuliert ihren Autoren Rolf Becker und Heinrich Fink, die am selben Tage 75 werden.