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Titel0610

Des Schattens neues Kleid  (Monika Köhler)

Wenn nur die Musik nicht gewesen wäre – es hätte gelingen können Warum müssen heute Theaterstücke unbedingt musikalisch begleitet werden? Es kann gut gehen – siehe »Woyzeck« im Hamburger Thalia-Theater (Ossietzky 3/10). Jetzt am gleichen Ort: »Andersen. Trip zwischen Welten«, ein »Projekt« von Stefan Pucher, Dramaturgie: Benjamin von Blomberg. Für die Musik verantwortlich: Carsten »Erobique« Meyer, laut Thalia-Angabe »in Hamburg ein Begriff«.

Pucher versucht, mit dem Stück Hans Christian Andersens Biografie und Psyche, an dessen Märchen vom »Schatten« beispielhaft dargestellt, als Musical auf die Bühne zu bringen. Angereichert durch Versatzstücke aus anderen Märchen Andersens, »Die roten Schuhe« und »Des Kaisers neue Kleider«. Ein häßliches Entlein, das eher an einen Vogel Strauß denken läßt, steht als Requisit herum.

Die Bühne (Barbara Ehnes) erzeugt Claustrophobie. Sie besteht aus einem großbürgerlichen Wohnzimmer des 19. Jahrhunderts, das nur im Relief vorhanden und wie mit einfarbigem Stoff überzogen ist. Die Fenster sind geschlossen. Später flimmern durch die zerbrochenen Scheiben Video-Ausschnitte (Meika Dresenkamp) von außen herein und bedrohen die Idylle. Die Schauspieler, zuerst Mirco Kreibich und Daniel Lommatzsch, die den jungen Andersen und den Gelehrten aus dem Schatten-Märchen darstellen und die Geschichte erzählen – sie hangeln sich virtuos und akrobatisch gekonnt an den Relief-Möbeln entlang. Im schwarzen Biedermeier-Kostüm eine Leistung. Das Auge kann schmausen – aber das Ohr! Ständig wabert die Musik (Keyboard: Carsten Meyer, Schlagzeug: Matthias Strzoda) durch den Raum und zerstört die schönen, herrlich ironischen Sätze des Andersen-Märchens. Bindet sie mit einer süßlichen Einbrennsoße, die zu hanseatischem Labskaus aufquillt. Kitsch – auch wenn Texte von Rolf Dieter Brinkmannn verwendet werden und Hildegard Knef aus der Ferne grüßt.

Bruno Cathomas als alter Gelehrter des Märchens, im Nachthemd, mit Filzpantoffeln, jammert: »Ich bin krank. Wäre ich doch früher nur jung gewesen« und zählt all seine Leiden auf. Der junge Gelehrte (oder Andersen) drückt die Qualen, seelische und körperliche, in artistischer Pantomime aus. Versucht sich auf einen Tisch zu retten, den er kaum erreicht, hängt mit dem Kopf nach unten, zappelt hilflos wie der Käfer in Kafkas »Verwandlung«.

Sein Schatten, der eine Schättin ist (Karin Neuhäuser), sitzt als eleganter Herr oben im Fenster und sieht mitleidlos zu. Singt: »Der Schatten war nun Herr und der Herr war Schatten.« Zur Schnulze wird der Gesang des Gelehrten: »Er ist ein Sie und ich nur ein Du«. Der Schatten-Herr lädt seinen früheren Herrn ein, mit ihm eine Reise zu unternehmen – nun als sein Schatten. Der alte Schatten, der weggeschickt wurde, bekam Macht durch einen Zauber, der ihm all das Üble beim Nachbarn sichtbar machte. Diese Gabe wußte er für sich zu nutzen ( »Hätte ich eine Zeitung geschrieben, sie wäre gelesen worden«), aber er schrieb an die Person selbst und bekam alles, was er wollte. Ein Märchen von heute. »Du mußt zu meinen Füßen liegen, wie es sich für einen Schatten gehört«, bestimmt der Schatten, der nun in eleganter Robe mit Hut als Herr erscheint. Der alte Gelehrte, der sich nur dem Wahren, Schönen, Guten hingab, heult, schreit durch den Raum: »Ich bin ein Mensch!« – das, was niemand erfahren soll. Und schon setzen die Musiker ein, singen störend: »Angst, Angst, Angst«.

Auf der Reise treffen Herr und (Schatten)-Knecht auf eine Königstochter (Birte Schnöink), die die Welt um sich herum allzu scharf sieht – was sie stört. Auch den schattenlosen Schatten erkennt sie gleich. Er aber ist raffiniert, gibt den Gelehrten als seinen Schatten aus, der sich als Mensch geriert. Er will sie eiskalt für sich gewinnen, sie, die Einfluß hat wie niemand sonst. Hier steht sie im Prinzessinnenkleid ganz oben und spricht aufgeregt und enthusiastisch über Kranke, über Schmutz, Ratten, über alles Böse. Wie angetörnt von all dem. Der elegante Schatten steht hinter ihr und bewundert sie. Sie heiraten – im Märchen – mit großem Pomp. Im Stück geht alles im Gesinge unter. Der Schluß bei Andersen lakonisch: »Der gelehrte Mann hörte nichts von all dem, denn ihm hatten sie das Leben genommen.«