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Titel614

Ein Mann ohne Zwielicht  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Es starb ein Geistesriese von klarer Vernunft und gar nicht zwielichtig – und doch hatte er seine Autobiographie »Im Zwielicht« genannt: Der Brechtforscher Werner Mittenzwei bezog den Titel auf die Zeit, genauer: die Gesellschaftsordnungen, in deren Zwielicht er gelebt hatte.

1927 geboren, also in der bereits angeschlagenen Weimarer Republik, kämpfte er sich durch jene halbmilitärische Jugendorganisation, war im Arbeitsdienst und als Flakhelfer des sogenannten Dritten Reiches tätig, das sich national-sozialistisch genannt hatte und faschistisch war, bis es in Dreck und Feuer unterging. So hatte der Arbeitersohn Faschismus kennengelernt und wußte, daß es andere Wege geben mußte, die er dann auch gegangen war: den Weg zu einem und durch einen Arbeiterstaat und dort bis zur akademischen Spitze: Doktor aller Grade, Professor, Institutsdirektor, Akademie-Mitglied und anderes mehr. Seine Publikationen sind umfassend, zahlenmäßig noch überschaubar, doch fundamental. Frühzeitig entdeckte er das dramatische Genre für sich und sein Forschen, stieß auf die entscheidenden Unterschiede und Widersprüche zwischen bürgerlichen und sozialistischen Anliegen und Stoßrichtungen, Stoffen, Funktionen, Genre-Ausprägungen. Der Großdichter, an dem sich das alles bestens ausmachen ließ, hieß Brecht, und dieser beherrschte Mittenzweis Arbeit (nicht ausschließlich) bis hin zur Tätigkeit als Editor an der dreißigbändigen Werkausgabe und seiner großen zweibändigen Biografie »Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln« – rund 1000 Seiten, die Rätsel noch immer nicht gelöst, aber spannend zu lesen.

Mittenzwei stand seinen Gegenständen beziehungsweise den Werkstätten von Literatur und Theater stets sehr nahe, so dem Berliner Ensemble; nicht nur Literaturhistoriker und Kritiker, sondern auch Theatermacher waren ihm Kollegen und Freunde. Mittenzwei hat immer die Arbeit, gemeinsame Arbeit gereizt, so mit Regisseur Manfred Wekwerth.

Erinnert sei hier an ein großes Anliegen, das zu Projekt und Werk führte. Zwar gibt es etliche Geschichten der deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert, mehr im 19. und auch im 20., selbst die kleine DDR hatte es zu einer zwölfbändigen Edition gebracht. Nicht so in der Theatergeschichte. Es gab einige Einzelversuche zu Handbüchern wie Joseph Gregors »Weltgeschichte des Theaters« (1933), das »Atlantisbuch des Theaters« von Martin Hürlimann (1966), auch Handbücher von Kosch und Kürschner sowie etliche Lexika, kleine Versuche zu theatergeschichtlichen Darstellungen; dafür um so mehr Entwürfe zu solchem Werk. In meiner Zeit als leitender Lektor des Lektorates Darstellende Künste im Berliner Henschelverlag flatterten solche Konzepte zahlreich über meinen Schreibtisch. Keines ließ sich realisieren – es gab keine Autoren dafür. Die wenigen Theaterhistoriker der DDR waren mit Lehrtätigkeit überlastet und konnten auch ihre Konzepte nicht aufeinander abstimmen. Schließlich startete einer doch einen Versuch: Werner Mittenzwei, dessen Lebenssinn Arbeit hieß. Er versammelte um 1968 fünf Doktoranden und weitere Mitarbeiter (Manfred Berger, Manfred Nössig, Fritz Rödel, Liane Pfelling, Volker Kurzweg sowie Inge Münz-Koenen und Christel Hoffmann) und stellte ein Konzept und Thesen zum Theater der frühen DDR zur Debatte. Als um 1970 die Arbeiten einigermaßen gediehen waren, doch auch kritischen Gesprächsbedarf mit sich brachten, begab sich Mittenzwei mit dieser Gruppe für drei Wochen in ein uckermärkisches Heim der Akademie in Klausur. Das geplante Werk war für den Henschelverlag bestimmt. Ich betreute es bis zum Erscheinen 1972 und war daher in jener Klausur mit dabei und lernte Mittenzweis Arbeitsstil kennen. Die Tage waren genau geplant, jeder kannte alles von jedem, kritisierte jeden, und jeder trug bei. Es ging, obwohl vom Chef nicht so geplant, bis tief in die Nacht. Wer müde war, ging – nach 22 Uhr – zu Bett, die anderen debattierten bis Mitternacht, manchmal darüber hinaus. So entstand ein theatergeschichtliches Hauptwerk – zumindest für das erste Vierteljahrhundert nach 1945 – mit dem Namen »Theater in der Zeitenwende«. Es gehörte zu jenen ernsthaft gedachten Versuchen derer, die nach dem schauerlichen Alptraum bis 1945 sich erkühnt hatten, etwas Neues zu schaffen. Die DDR scheiterte unreif und tragisch bis lächerlich, der alte Alptraum in moderner Verkleidung lastet weiter auf uns; einige Kulturleistungen sind geblieben, auch Mittenzweis Werk, das aus einem besseren Traum geboren und Gestalt geworden war – im Zwielicht der Zeiten!