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Titel615

Von Zeit zu Zeit: Arbeitszeitverkürzung als Tabu  (Stephan Krull)

Schon in den 1970er Jahren beschlossen die Arbeitgeber tarifpolitische No-Gos. Zu ihnen zählt bis heute die tarifliche Arbeitszeitverkürzung auf weniger als 40 Wochenstunden. Heinz Dürr, damaliger Arbeitgeberpräsident, formulierte im Interview in der Zeit (2.2.1979), es gehe um »grundsätzliche Fragen, um kollektive Sicherung oder um die 40-Stunden-Woche«. Die Auseinandersetzung um die Arbeitszeitverkürzung haben die Arbeitgeber zunächst verloren – dank großer gewerkschaftlicher Streiks und öffentlicher Aktionen, dank breiter Unterstützung in der Bevölkerung; abgefunden mit der Niederlage haben sie sich nie! Der nächste Angriff der Arbeitgeber richtete sich gegen kollektive Sicherung, wie Dürr bereits im Interview deutlich machte, und en passant haben sie der IG Metall beim Kampf um die Angleichung der Arbeitszeiten in Ost und West eine Niederlage bereitet, von der die Gewerkschaft sich bis heute nicht erholt hat.


Inzwischen gibt es eine neue Dynamik in der Arbeitszeitdebatte (siehe Ossietzky Nr. 3/2015) und einen Konflikt auch unter denjenigen, die sich grundsätzlich für Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumfairteilung aussprechen: Geht es um kollektive Regelungen – neben der 40-Stunden-Woche das zweite Tabu der Arbeitgeber seit 100 Jahren –, oder geht es um differenzierte Arbeitszeitregeln entsprechend den unterschiedlichen Lebensphasen der Menschen? Bedeutsam in diesem Zusammenhang ein Werkstattbericht des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) aus dem Jahr 1998 unter der Überschrift »Agenda für mehr Beschäftigung in Deutschland«; ganz offensichtlich eine Vorarbeit für die Hartz-Kommission »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, mit den dann folgenden Hartz-Gesetzen. Im IAB-Text heißt es unter anderem:
»Dabei erscheint insbesondere eine Überwindung von Arbeitslosigkeit durch vermehrte Aufteilung von Vollzeitarbeitsverhältnissen in Teilzeitbeschäftigung auf freiwilliger Basis und in flexibler und reversibler Form als Ideallösung.« Dann läßt das Institut die Katze aus dem Sack: »Einer einheitlichen Arbeitszeitverkürzung (ob mit oder ohne Lohnausgleich) sind alle Möglichkeiten frei gewählter flexibler Teilzeitarbeit vorzuziehen, die zu einer höheren Teilzeitquote und einer Verminderung der durchschnittlichen Arbeitszeit führen.« Alles ist erlaubt, nur keine »einheitliche Arbeitszeitverkürzung« – selbst wenn wegen Produktivitätssteigerungen und Absatzbeschränkungen die Arbeitskräftenachfrage sinkt. Den Autoren und Protagonisten des IAB und den Arbeitgebern geht es um die Aufrechterhaltung eines Arbeitskräfteüberschusses, eines großen Sockels von Erwerbslosigkeit, wahlweise um die massenhafte Schaffung prekärer Arbeitsverhältnisse. Es geht um die Aufrechterhaltung von Angst als Triebfeder, länger zu arbeiten und schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Es geht um »Hauptsache Arbeit«. Erst in dem Kontext wird verständlich, warum rassistische Arbeitsmarkt- und Bevölkerungspolitiker über Facharbeitermangel klagen und »nützliche Einwanderung« befördern wollen.
Man muß nicht das Recht auf Faulheit bemühen, man muß kein Fan des bedingungslosen Grundeinkommens sein, um zu der Feststellung zu kommen: Hauptsache Leben! Gute Arbeit und gutes Leben sind untrennbar miteinander verbunden – egal ob Lohnerwerbsarbeit oder selbstbestimmte kreative Arbeit oder Sorgearbeit. Wenn die Arbeit die Menschen auffrißt, frißt sie Leben und Zeit der Menschen auf. Es gibt kein Leben außerhalb der Zeit!


Ende der 1980er Jahre ist es der IG Metall und der IG Druck und Papier im Bündnis mit vielen anderen gesellschaftlichen Kräften gelungen, das Tabu von Kapital und Kabinett zu durchbrechen. Von Zeit zu Zeit ist an diese Erfahrung zu erinnern und anzumahnen, daß der Druck der Arbeitgeber in Richtung Arbeitszeitverlängerung erfolgreich sein wird, wenn dem nicht ein stärkerer Druck in Richtung Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumfairteilung entgegengesetzt wird. Wie dem Interview des Arbeitgeberfunktionärs von 1979 und dem Text des IAB von 1998 zu entnehmen ist, haben die Arbeitsfetischisten einen langen Atem. Eine Fitneßkur für Arbeitszeitverkürzung muß der Dynamik in der Debatte jetzt folgen. Der 1. Mai 2015 ist eine gute Gelegenheit, die Forderung argumentativ und plakativ auf die Straßen und in die Köpfe zu bringen!

Literaturhinweis: Ossietzky-Sonderdruck: »Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit« mit Beiträgen von Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup und Prof. Dr. Mohssen Massarrat und einem Vorwort von Eckart Spoo, 2011, 20 Seiten, 2 €/ zzgl. 1,50 € Versandkosten, ossietzky@interdruck.net