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Titel620

Polarisierung skandieren, dann skandalisieren  (Michael Klundt)

Bei manchen sozial- und politikwissenschaftlichen Kollegen fühlt man sich an den Spruch: »Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!« erinnert. Wie kommt das? Wie kann man als Intellektuelle/r über Jahre hinweg einflussreich alle möglichen Maßnahmen zur Steigerung der Ungleichheit in der Gesellschaft fordern und fördern und dann deren Ergebnis publikumsträchtig betrauern?

 

Der mittlerweile emeritierte Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Streeck, hielt noch im Jahre 2000 einen Anstieg der gesellschaftlichen Ungleichheit auf »dem erreichten Niveau des allgemeinen Wohlstands« nicht nur für »unvermeidlich«, sondern auch für »grundsätzlich hinnehmbar« und »notwendig« zur weiteren Erhöhung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Mit Hilfe einer so gearteten »zivile[n] Bürgergesellschaft« werde endlich Abschied genommen vom »staatszentrierten Irrealsozialismus der westdeutschen Wohlstandsperiode«. Seine Botschaft, vom Staat »nicht mehr alles, sondern nur noch immer weniger« zu erwarten, galt der begriffsstutzigen »Sozialarbeiterfraktion in Partei und Gewerkschaften«: »[D]ie Gesellschaft und der Einzelne müssen und können mehr Verantwortung für sich selbst übernehmen, also mehr aus der eigenen Tasche bezahlen [...]; der Staat als Vollkaskoversicherung hat ausgedient« (Mitbestimmung 6/2000, S. 28f.). Derweil waren selbst die Gewerkschaften nicht mehr vor neoliberalen Positionen gefeit. So postulierte beispielsweise ein Positionspapier der DGB-Grundsatzabteilung 1998: »Der Sozialstaat mit seinem traditionellen Gerechtigkeitsverständnis von Sicherheit und Schutz läßt sich nicht mehr aufrechterhalten.«

 

Woher die seit Jahrzehnten gestiegene soziale Ungleichheit gekommen ist und wie sie sich entwickelt hat, hat Wolfgang Merkel in der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte (6/2016, S. 14) knapp zusammengefasst. Der Politikwissenschaftler, seit 1998 Mitglied der SPD-Grundwertekommission, bezeichnet die gestiegene »Ungleichheit als Krankheit der Demokratie«. Was wie eine etwas verunglückte biologistische Demokratietheorie klingt, entpuppt sich jedoch als relativ klare Beschreibung des keineswegs schicksalhaften Aufstiegs neoliberaler Ordnungen. So führt er dazu Folgendes aus: »Am Anfang war Margaret Thatcher. Dann folgte Ronald Reagan. Märkte wurden dereguliert, Steuern auf hohe Einkommen, Erbschaften, Vermögen und Unternehmensgewinne gesenkt. Die gesamtwirtschaftliche Lohnquote fiel, die Gewinnquote aus Unternehmens- und Kapitaleinkünften stieg. Die funktionelle Einkommensverteilung der reichen Volkswirtschaften hat sich damit verschoben. Kapitalbesitzer werden einseitig bevorteilt. Seit Beginn der 80er Jahre ist die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen in der OECD-Welt gestiegen, gleichgültig welchen Indikator man verwendet. Der Anstieg der Ungleichheit war nicht die ›natürliche‹ Folge von digitaler Revolution, Wissensökonomie und kühner schöpferischer Zerstörung. Er war vor allem eine Folge politischer Entscheidungen. Die Politik hatte der Steuerung der Märkte entsagt und schrieb die besondere Form der Marktermächtigung im sogenannten Washington Konsens von 1990 fest.« Doch das musste auch in Deutschland von Politiker(inne)n, Wissenschaftler(inne)n und Medien vorbereitet, begleitet und durchgesetzt werden. Und hier begegnen wir wieder Wolfgang Merkel als einem Anhänger und vehementen Verteidiger etwa der »Motive und Grundkonstanten der Agenda 2010«. Es könnte daher vermutet werden, dass er diesen Prozess mit zu verantworten hat, was angesichts seiner nachträglich kritischen Betrachtungsweise bemerkenswert ist (vgl. seine Verteidigung der »Motive und Grundkonstanten der Agenda 2010« noch im Jahre 2010 in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 7-8/2010, S. 74).

 

Was waren also die »Motive und Grundkonstanten der Agenda 2010«? Für den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder lässt sich das kurz zusammenfassen. Er sagte dazu am 14. März 2003 im Bundestag: »Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.« Was ihm seine Redenschreiber Hombach und Steinmeier da notierten, klang fast wörtlich wie die Streeck‘schen Forderungen aus dem Jahre 2000 – und in der Tat war der Wissenschaftler gleichzeitig hochrangiger Berater des Kanzlers.

 

Diese von ihm mit beförderte Entwicklung sieht der Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck inzwischen richtigerweise als problematisch an. Dabei erblickt er nicht in den aufrührerischen Unterschichten ein Gefährdungspotential für den sozialen Zusammenhalt und die freiheitlich-demokratische Grundordnung, sondern vielmehr bei den immer antidemokratischer agierenden finanzmarkthörigen Eliten. Während »die Massenloyalität der Arbeit- und Konsumnehmer gegenüber dem Nachkriegskapitalismus stabil« geblieben sei, war es laut Streeck das Kapital, »das dem demokratischen Kapitalismus [...] die Legitimation« aufgekündigt habe, um soziale Verpflichtungen loszuwerden (Streeck 2013a, S. 44f.). Nicht die Arbeiterklasse und die Lohnabhängigen seien es gewesen, sondern »Kapitalbesitzer und Kapitalverwalter« hätten »einen langen Kampf für einen grundlegenden Umbau der politischen Ökonomie des Nachkriegskapitalismus« begonnen (Streeck 2013a, S. 54), um eine »Fundamentalrevision des Wohlfahrtsstaates der Nachkriegsjahrzehnte« einzuleiten (Streeck 2013a, S. 57).

 

Verbunden mit einer immer ungerechteren Ressourcenverteilung in der Gesellschaft stellt sich aber ein unversöhnlicher Antagonismus her zwischen Kapitalismus und Demokratie, wie Streeck ebenfalls richtigerweise herausarbeitet. »Wenn folglich der Kapitalismus des Konsolidierungsstaates auch die Illusion des gerecht geteilten Wachstums nicht mehr zu erzeugen vermag, kommt der Moment, an dem sich die Wege von Kapitalismus und Demokratie trennen müssen. Der heute wahrscheinlichste Ausgang wäre dann die Vollendung des hayekianischen Gesellschaftsmodells der Diktatur einer vor demokratischer Korrektur geschützten kapitalistischen Marktwirtschaft.« (Streeck, 2013b, S. 62)

 

Mit seinem Konzept des »realistischen Antikapitalismus« beschreibt Streeck recht eindrucksvoll die zentralen Widersprüche der Gegenwart und die Ursachen für fehlenden sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft: »Strukturell bedeutet Globalisierung eine Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen Kapital und Markt auf der einen Seite und Arbeit und Demokratie auf der anderen. […] An die Stelle des Keynesianischen Wachstumsmodells trat nach und nach ein neoliberales, das vor demokratischer Politik geschützt werden muss, da es statt durch nachfragepolitische Umverteilung von oben nach unten durch angebotspolitische Umverteilung von unten nach oben funktionieren soll. Die erforderlichen institutionellen Veränderungen wie »Flexibilisierung« der Arbeitsmärkte, Schwächung der Gewerkschaften und ihrer Streikfähigkeit, Absicherung der Zentralbanken gegen politische Einflussnahme, Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und Dienstleistungen, verstärkte ›Eigenbeteiligung‹ der Bürger usw. usw. wurden schrittweise und in unterschiedlicher Sequenz und unterschiedlichem Tempo, aber doch mehr oder weniger überall in den sich neoliberal reorganisierenden kapitalistischen Demokratien eingeführt, und meist auf gemeinsames Betreiben beider großer Parteien, mitte-rechts wie mitte-links«. (Streeck 2019, S. 8f.) Vieles davon forderte Streeck selbst im Jahre 2000, was ihm allerdings keine nachdenkliche Bemerkung für notwendig erscheinen lässt.

 

Einigermaßen resignativ kommt Streeck auch auf die gegenteilige Alternative eines etwaigen demokratischen Sozialismus zu sprechen, ohne diesen aber beim Namen zu nennen. Er verwirft sofort deren mögliche Realisierung angesichts der offensichtlichen Stärke ihres Kontrahenten, was nicht ganz von der Hand zu weisen ist. »Die Alternative zu einem Kapitalismus ohne Demokratie wäre eine Demokratie ohne Kapitalismus. […] Sie wäre die andere, mit der Hayek‘schen konkurrierende Utopie.« Aber »im Unterschied zu dieser läge sie nicht im historischen Trend, sondern würde im Gegenteil dessen Umkehr erfordern. Deshalb und wegen des enormen Organisations- und Verwirklichungsvorsprungs der neoliberalen Lösung [...] erscheint sie heute als vollkommen unrealistisch« (Streeck, 2013b, S. 62f.). Ein Realismus-Begriff wird allerdings dann problematisch und geradezu gattungsgefährlich, wenn sich mehr Menschen einen »Kapitalismus ohne Welt« als eine »Welt ohne Kapitalismus« vorstellen können. Dagegen steht zumindest die Aussage des argentinischen Arztes und Revolutionärs Ernesto Che Guevara, welcher sagte: »Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!«

 

Es irritiert, dass mit Streeck gerade jemand (zu Recht) gegen den seit Jahrzehnten aufgekommenen neoliberalen Kapitalismus wettert, der selbst seit Jahrzehnten in höchsten wissenschaftlichen Regierungsberater-Gremien und strategischen Stellen den Machtanstieg des neoliberalen Kapitalismus in Deutschland zum Beispiel durch die Maßnahmen der sogenannten Agenda 2010 ideologisch vorbereitet hat (inklusive Propagierung eines breiten Niedriglohnsektors, mehr Flexibilisierung, Deregulierung und Privatisierung sowie eines grundsätzlichen Anti-Keynesianismus; vgl. Müller 2013). Was also auf der Basis der gegenwärtigen antikapitalistischen Erkenntnisse des Autors Grund genug wäre für eine selbstkritische Aufarbeitung zum Thema »Verantwortung von Wissenschaft«, erscheint Streeck offenbar nur als böswillige Verleumdung seiner früheren tadellosen Tätigkeiten für die Bundesregierung unter Gerhard Schröder (vgl. Müller 2013).

 

Politik- und Sozialwissenschaftler wie Wolfgang Merkel oder Wolfgang Streeck sind sich einig, dass die soziale Ungleichheit inzwischen stark gestiegen ist und sich damit bedrohliche Folgewirkungen ergeben, die sie beklagen. Nur bei der selbstkritischen Aufarbeitung des eigenen Anteils an der ideologischen Mobilisierung für neoliberale Maßnahmen und für mehr soziale Ungleichheit scheinen sich auch wissenschaftlich Verantwortliche vollständig in Nebel und Verdrängung zu verstecken. Solange Politik, Medien und Wissenschaft so unkritisch mit der eigenen Tätigkeit umgehen, unterliegen sie der Gefahr, kausale Erkenntnisse zum Verständnis von Entwicklungsprozessen auszublenden.

 

 

Literatur: Albrecht Müller (2013): »Der Soziologe Wolfgang Streeck war ein durchsetzungsfähiger Wissenschaftler. Aber die ihn heute lobend zitieren, wissen offensichtlich nicht, für was er Pate gestanden hat, für die Agenda 2010. In: Nachdenkseiten.de vom 7.5.2013. Wolfgang Streeck (2013a): »Gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus«, 3. Auflage, Berlin. Wolfgang Streeck (2013b): »Was nun, Europa? – Kapitalismus ohne Demokratie oder Demokratie ohne Kapitalismus«. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2013, S. 57-68. Wolfgang Streeck (2019): »Starke Märkte, schwacher Staat. Warum der Kapitalismus die Demokratie bedroht«. In: SWR 2 vom 18.8.2019