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Die USA und China: Der Feind als Erbe?  (Werner Biermann)

Der Sozialwissenschaftler Werner Biermann, Mitarbeiter unserer Zeitschrift, ist an einem Herzinfarkt gestorben. Biermann war einer der Experten in der Bundesrepublik für die kritische Analyse des alten und neuen Kolonialismus. Seine nachfolgende Skizze zur Geopolitik entstand bei der Vorbereitung einer Studie über Imperialismus, historisch und gegenwärtig, die im PapyRossa Verlag in der Reihe »Basiswissen« erscheinen wird.

Die geopolitische Strategie der Vereinigten Staaten war seit der Übernahme der Hegemonie nach Ende des Zweiten Weltkriegs darauf ausgerichtet, den Globus, soweit der eigene Einfluß reicht, in einen Hort der Kapitalakkumulation zu verwandeln, zunächst für das Industrie- und seit Mitte der 1970er Jahre, als die Stagnation einsetzte, für das Finanzkapital. Dank ihrer politischen und militärischen Vormachtstellung gelang es den USA, überall in ihrer Einflußzone die Völker und Staaten zur Kasse zu bitten. Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Blocks vergrößerte sich diese Zone, und die Herrschaftsmethoden wurden ruppiger. Das Wachstum der neunziger Jahr in den Vereinigten Staaten speiste sich im wesentlichen aus dieser Quelle, denn während das Bruttosozialprodukt um knapp 70 Prozent von 5,8 Billionen auf 9,8 Billionen Dollar stieg, nahm die Verschuldung um 95 Prozent auf mehr als das Zweieinhalbfache der Wirtschaftsleistung zu. Ein nun restlos dereguliertes Bankensystem bot neue Möglichkeiten der Profitschöpfung; eine Wirtschaftspolitik im Interesse des Finanzkapitals machte die Vereinigten Staaten zu dessen Vorzugsland weltweit. Massiver Zustrom von ausländischem Kapital glich die Defizite der US-amerikanischen Handels- und Leistungsbilanz teilweise aus.

Daneben üben die USA aber auch eine weltwirtschaftliche Sogwirkung aus: Ihr Bedarf an Waren wird zunehmend von Importen gedeckt. So bot sich anderen Ökonomien, besonders der Volksrepublik China, die Chance, eine nachholende Industrialisierung einzuleiten. Die Devisenüberschüsse, in US-Anleihen angelegt und damit eingefroren, schlossen die Finanzierungslücke. Washington mußte günstige Rahmenbedingungen für Anlage suchendes Kapital schaffen, die eigenen Banken und Finanzinstitute bei der Geldbeschaffung unterstützen und auf die Regierung Chinas einwirken, die Schuldtitel gegenüber den Vereinigten Staaten weder politisch noch ökonomisch als Waffe einzusetzen.

Vor diesem Hintergrund werden die Maßnahmen der Regierung Bush jun. verständlich, den Realzins drastisch zu senken und die Verschuldung auszudehnen. In den Jahren 2000 bis 2007 stieg die Gesamtverschuldung der USA von 26,3 Billionen auf fast 48 Billionen Dollar, fast das Dreieinhalbfache des Bruttosozialprodukts. Die Staatsverschuldung nahm um mehr als die Hälfte zu; sie lag 2007 bei 7,3 Billionen Dollar. Schuldenmachen in dieser Größenordnung und das Auseinanderklaffen von Wirtschaftsleistung und Finanzspekulation ließen eine Finanzblase entstehen. Andererseits förderte diese Art der Wirtschaftspolitik die Weltwirtschaft, vor allem die chinesische. Die rapide Industrialisierung Chinas wäre sonst nicht möglich gewesen.

Züchteten sich die Vereinigten Staaten hierdurch ihre Konkurrenz groß? Diese Fragestellung sieht von der dominanten Position des US-Finanzkapitals ab, das an diesen Geschäften profitierte. Zudem sorgten die billigen chinesischen Importe dafür, daß die Inflationsgefahr, die von der Ausdehnung der Staatsverschuldung ausgeht, weitgehend neutralisiert wurde, weil ein Großteil der Preise für einfache Konsumgüter sank.

Die aus jeglicher Kontrolle entfesselten Banken und Finanzinstitute begannen nun einen Raubzug größten Stils: Die Ausdehnung der Geschäfte in bislang unberührte Gefilde war notwendig für neue Profite. Gleichzeitig galt es, dem Wirtschaftskreislauf neue reale Werte zuzuführen, zum einen durch Firmenübernahmen und -zusammenschlüsse, zum anderen durch die Einverleibung des Immobilienmarktes.

Billiges Geld und günstige Kredite stimulierten Weltwirtschaft und -handel. Da die Kreditvergabe dem Akkumulationszyklus des Finanzkapitals folgte und damit an kurzfristigen Zielen orientiert war, blieb der Aufschwung aber oberflächlich und instabil. Dank der ihnen vom Staat eingeräumten Freizügigkeit betrieben Banken und Finanzinstitute zunehmend solche Geschäfte, die nicht an den wirtschaftlichen Realien ausgerichtet, sondern schiere Zockerei waren.

Beim Amtsantritt des Präsidenten George W. Bush besaß die Zähmung Chinas höchste Priorität. Nach weitverbreiteter Meinung rückte angesichts der Ereignisse vom 11. September 2001 dieses Ziel in den Hintergrund. In Wahrheit war der Einmarsch in Afghanistan, die Verwandlung des Landes in ein US-amerikanisches Protektorat ein wesentliches Element der Politik, China strategisch einzukreisen. Hier griff Washington auf die im Kalten Krieg erprobte Strategie der »Eindämmung« zurück, nämlich eine glaubwürdige Drohkulisse aufzubauen, nicht um den potentiellen Feind zu vernichten, sondern um ihn zu veranlassen, seine wirtschaftliche Ausrichtung als Warenproduzent für den US-Markt und größter Abnehmer von US-Staatspapieren beizubehalten.

Daneben war ein weiterer Gefahrenherd auszumerzen: Das weltweite Ölgeschäft wird auf Dollarbasis abgewickelt. Die arabischen Mitglieder des Ölkartells OPEC hatten das akzeptiert, denn es schadete ihnen zwar wirtschaftlich, nützte ihnen aber politisch, da sie sich auf die Protektionsmacht USA stützen konnten. Die Regimes bezahlten also ein Schutzgeld. Der Irak, einer der Hauptproduzenten, stand seit längerem im Visier Washingtons. Die Eroberung des Landes sollte im ersten Schritt den Zugriff auf die riesigen Ölvorkommen sichern. Des weiteren sollte ein höriger Irak in der OPEC Ansätze unterlaufen, die bisherige Praxis der Dollarbindung aufzugeben. Für dieses Ziel waren die Vereinigten Staaten offenbar bereit, politische Risiken in Kauf zu nehmen.

Der militärisch-industrielle Komplex bildet das industrielle Rückgrat der US-Wirtschaft, mittlerweile beherrscht von einer Handvoll Großkonzerne. Faktisch ist die gesamte Rüstungsindustrie in der Hand von drei Konzernen. Sie sind zu groß und für das Pentagon zu wichtig, um sie betriebswirtschaftlichen Geboten zu unterwerfen. Obwohl privat, sind sie ein unverzichtbarer Bestandteil der US-Weltmacht; daher können sie frei von ökonomischen Zwängen munter drauflos akkumulieren. Der kapitalistischen Logik folgend sind komplexe Waffensysteme gewinnträchtiger als einfache. Zudem hatte es das hier agierende Kapital verstanden, das Kalkulationsmodell des »cost-plus« durchzusetzen, bei dem sich der Profit unabhängig von den Kosten bemißt. Die Kapitallogik verlangt ständig nach neuen Aufträgen – mit der Folge, daß militärisch effiziente Systeme, die noch geraume Zeit ihren Zweck erfüllen würden, vorzeitig durch noch effizientere abgelöst werden. Dies erklärt daß die Vereinigten Staaten über eine ultramoderne Luftwaffe und Marine verfügen, für die es weltweit keinen adäquaten Gegner gibt. Die Militärstrategie ist folglich auf dieses Geschäft hin orientiert, zumal das militärische Führungspersonal bei Pensionierung auf gut dotierte Posten in der Rüstungsindustrie wechselt. Folglich wird der Großteil des Militärhaushalts hochtechnologisch verausgabt, während die konventionellen Streitkräfte schlechter ausgestattet werden und an strategischer Relevanz verlieren. Hinzu kommt die von der Regierung Bush forcierte »Privatisierung des Krieges«, die Auslagerung einer Reihe von militärischen Aufgaben (Logistik, Systemwartung, Ausbildungsprogramme und viele andere) an Privatunternehmen.

Für politische Rechte und soziale Belange ist im militärischen Denken kein Platz. Auf Widersetzlichkeiten und soziale Auflehnung gegen das von ihnen aufgepfropfte Herrschaftsmodell reagieren die USA daher oft mit einer Mischung von Hilflosigkeit und Brutalität.

Das Jahr 2008 wird wahrscheinlich als der Wendepunkt der US-Globalmacht in die Geschichte eingehen. Das Platzen der Finanzblase löste eine Weltwirtschaftskrise großen Ausmaßes aus; die Reproduktion des US-Herrschaftsapparates ist so auf Dauer nicht mehr aufrecht zu erhalten. Wie dramatisch die Lage ist, wird daran ersichtlich, daß nun eine neuerliche staatliche Schuldenaufnahme eingeleitet wurde, die nichts weiter zum Ziel hat, als die Banken und das gesamte Finanzwesen zu alimentieren; die industrielle Basis aber bleibt vernachlässigt. Da die herrschende Ideologie eine Rückkehr zu staatlicher Regulation verbietet und die US-amerikanischen Machteliten sich offenbar nun der Hoffnung hingeben, die Geldspritzen für die Banken würden neues Wachstums bewirken, ist absehbar, daß sich der Handlungshorizont der Globalmacht USA auf Profite im Finanzmarkt reduziert, auf Dauer hat diese Wirtschaftspolitik keine Perspektive.

Der sich abzeichnende Niedergang der US-Ökonomie bedeutet aber keineswegs das Ende des Kapitalismus, sondern vielmehr eine Schwerpunktverlagerung hin nach China. Die Europäische Union, deren Politik eines opportunistischen Imperialismus im Windschatten der USA relativ erfolgreich war, wird sich dieser Tendenz sicherlich anpassen. Anzunehmen ist, daß der sich abzeichnende Wechsel nicht reibungs- und geräuschlos vor sich gehen wird, schon deshalb nicht, weil für das US-Kapital sehr viel auf dem Spiel steht, wenn es die Weltwirtschaft nicht mehr nach seinen Vorstellungen dirigieren kann. Auch steht die politisch-militärische Dominanz der USA zur Disposition, die darauf gerichet war, das gesamte System zu verteidigen, im Klartext also: dafür zu sorgen, daß Widersetzlichkeiten gleich welcher Art gegen Finanzinteressen der USA im Keime erstickt werden können.

Fraglich ist jedoch, ob China überhaupt das neue kapitalistische Zentrum werden kann. Dagegen spricht, daß die gegenwärtige Industrialisierung auf die Küstenregionen, nahezu identisch mit den sogenannten Vertragshäfen aus der halbkolonialen Vergangenheit, beschränkt ist, wohingegen das Hinterland im wesentlichen als Arbeitskräftereservoir wirkt. Der landwirtschaftliche Umbruch, ohne den eine Freisetzung von Arbeitskräften nicht möglich gewesen wäre, hat zu starken sozialen Spannungen geführt. Eine Umorientierung hin zur Binnenentwicklung wäre ratsam. Ob sie erfolgt, hängt davon ab, welchen Einfluß diejenigen industriellen Gruppen haben, die hauptsächlich vom Export profitieren. Auch ist die Rolle der politischen Elite nebst der militärischen Führung zu bedenken. Schließlich ist die Widerständigkeit in der Arbeiterschaft und bei vielen Parteikadern gegen einen stramm kapitalistischen Kurs zu bedenken.

Das neue Zentrum China auf ungewissem Weg, global ein krisengeschüttelter Kapitalismus, die USA als schwer angeschlagene Hegemonialmacht, zweitrangige Zentren wie die EU, die auf ihre Weise die Hegemonialmacht beerben wollen – das ergibt eine explosive Konstellation in der Weltwirtschaft und -politik mit Parallelen zu 1914.