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Titel0712

Parlamentarismus als Spielbank  (Arno Klönne)

In Nordrhein-Westfalen (NRW) hat sich der Landtag selbst verabschiedet. Die sozialdemokratisch-grüne Landesregierung ist nur noch provisorisch tätig, im Mai wird neu gewählt. Ob der verfassungsrechtliche Grund für diesen Schritt überhaupt haltbar ist, zweifeln juristische Experten an, möglicherweise wurde er nur vorgeschoben, löste dann aber panisches Handeln aus. Über die Hintergründe dieses Vorganges wird in den Medien spekuliert, vor allem darüber, welche Spekulationen die einzelnen Parteien zu den bundespolitischen Wirkungen einer Neuwahl in NRW wohl im Sinne haben. Historische Vorkommnisse werden erinnert: Eine sozial-liberale Regierungskoalition in Düsseldorf ebnete seinerzeit den Weg für die Brandt-Scheel-Regierung in Bonn; ein regierendes Bündnis von SPD und Grünen in NRW bereitete ein ebensolches auf Bundesebene vor, und dieses verlor seinen Boden, als Sozialdemokraten und Grüne in NRW eine Wahlniederlage erlebten. Geben also in einigen Wochen die Wählerinnen und Wähler an Rhein und Ruhr das Signal für neue Konstellationen in der Bundespolitik? Wird die Bundeskanzlerin klammheimliche Freude empfinden, wenn die FDP beim Landtag in Düsseldorf außen vor bleiben muß, weil sie dann plausibel machen kann, sie brauche einen neuen Koalitionspartner in Berlin? Und setzt sie dabei eher auf die Sozialdemokraten oder auf die Grünen? Wird ihr Umweltminister, jetzt CDU-Spitzenkandidat in NRW, die Grünen in eine landesregierende Koalition locken wollen, wenn das Wahlergebnis im Mai das hergibt? Spielen vielleicht die nordrhein-westfälischen Sozialdemokraten mit dem Gedanken, die Grünen abzuhalftern und mit der CDU zu regieren, um eine Große Koalition im Bund in Gang zu bringen?

Das alles ist derzeit nicht berechenbar, das Koalitionsspiel läuft verdeckt ab, Gewinner und Verlierer sind auch demoskopisch noch nicht zu prognostizieren. Sicher ist nur, daß alle Beteiligten irgendwie regieren oder mitregieren möchten, ganz gleich, mit welchem Koalitionspartner. Notfalls auch mit der FDP, wenn sie sich überraschenderweise doch regeneriert. Nur das Schmuddelkind Linkspartei darf nicht mittun, nicht im schwergewichtigen Nordrhein-Westfalen und selbstverständlich nicht im Bund. Über die Piraten heißt es: Abwarten, vielleicht steht ihnen, wenn sie in Düsseldorf an Bord gehen, eine Schulung zur Mitregierungsfähigkeit bevor.

Mit den heftigen und weiter sich verschärfenden sozialen Problemen im Lande NRW hat diese Spekulationspolitik der Parteien nichts zu tun. Zwischen den hier agierenden Sozialdemokraten, Grünen, Christdemokraten und auch Freidemokraten sind Differenzen im gesellschaftspolitischen Grundmuster nicht vorhanden, selbst in der lange Zeit heiß umkämpften Schulpolitik läßt sich Einigkeit bei Bedarf leicht herstellen. Längst vorbei sind die Zeiten, in denen die nordrhein-westfälische SPD und auf ihre Weise auch die CDU das »soziale Gewissen« der Bundespolitik darstellen wollten. Noch immer ist hier soziale Rhetorik parteienüblich, aber das »Rheinische« am deutschen Kapitalismusmodell hat bei der politischen Klasse – gleich welcher regierungsfähigen Partei – keine Bedeutung mehr für gestaltendes Handeln. Auch die Sozialdemokraten in NRW würden es heute unsäglich albern finden, würde ihnen jemand zumuten, sie sollten sich doch zur Kapitalismuskritik bekennen, wie sie einst die CDU in NRW mit ihrem Ahlener Programm formulierte.

Dumm dran sind die Wählerinnen und Wähler. Die mediale Personalisierung des Parteienwettbewerbs ist darauf gerichtet, vom Mangel an politischen Alternativen bei SPD/Grünen/CDU/FDP abzulenken, aber so richtig Spaß macht sie nicht. Wer seine Stimme für eine der genannten Parteien abgibt, weiß nicht, welchem Koalitionskalkül in Land und Bund sie zugute kommen wird. Möglicherweise trägt ein Wähler mit seiner Wahl in der Konkurrenz um den Gewinn, um Regierungsteilhabe, exakt zu jenem Resultat bei, das er verhindern wollte. Volkssouveränität, die sich in der Entscheidung über politische Alternativen verwirklicht? In der parlamentarischen Spielbank wird diese Idee zum Nonsens.