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Titel714

Leben und Sterben in Mexiko  (Marc-Thomas Bock)

Am Abend, während die Sonne langsam hinter der Kathedrale und dem im Kolonialstil gehaltenen Theater von Guadalajara versinkt, haben sich die Passanten zu einem Schwätzchen auf der Plaza Mayor versammelt. Wie in ganz Lateinamerika, so ist auch dieser Platz umgeben von Prachtgebäuden, und in seiner Mitte – in einem Art-Decó-Pavillon – spielt gerade ein Estradenorchester. Hinter der Kathedrale jedoch, Richtung Busbahnhof, flackern die Lichter in den Schaufenstern der vielen Hochzeitsausstatter auf, die seidigen Prachtroben erstrahlen im Licht der Halogenspots. Und noch weiter hinten, da, wo die Calle Grecia und die Calle Pedro Moreno aufeinandertreffen, läßt der Zeitungshändler das metallene Rollo seines Zeitungsstandes El Occidente krachend auf das Pflaster schlagen. Die ambulanten Schuhputzer decken ihre Stühle sorgfältig mit Plastikplanen zu. Eine kleine Menschenmenge steht hier an der Ecke und lauscht gebannt den halblauten Ausführungen eines finster dreinblickenden Mannes, der auf einem Stuhl sitzt, um den herum eine Spur stinkenden Benzins auf dem Asphalt verläuft. An sein Bein ist mit einer Schnur eine große schwarze Wüstenechse angeleint, um beide Arme ist jeweils eine giftige Korallenschlange gewunden, deren Köpfe sich mitsamt ihren gespaltenen Zungen unaufhörlich von links nach rechts bewegen. »Seht mir nicht ins Gesicht«, sagt der Mann und faltet eine Spielkarte mit der Abbildung einer Dame darauf. »Wer ist der Nächste? Wer möchte die Frau seiner Träume für sich entbrennen lassen? Welche Zuschauerin nennt mir den Namen dessen, der ihr wieder treu werden soll?« Und er läßt eine der Korallenschlangen in die viermal gefaltete Spielkarte beißen, wobei er ausruft: »Ihre hübsche Nachbarin Esperanza wird für Sie entbrennen, mein Herr. Ihr Wunsch ist soeben in Erfüllung gegangen. Das sollte ihnen zwanzig Pesos wert sein.«

Für fünf Tage sind meine beiden Kolleginnen und ich beruflich in Guadalajara – der sieben Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt des Bundesstaates Jalisco im Westen Mexikos. Tagsüber sitzen wir in klimatisierten Büros und abends in der Lobby unseres Hotels, hämmern unsere Daten unentwegt in die Laptops, damit wir am letzten Tag unsere Abschlußpräsentation halten können. Man hat uns zwei mexikanische Kollegen zugeteilt. Sie sollen uns nebenbei all unsere Fragen über Land und Leute beantworten. »Ja«, meinen sie, und nehmen dabei Bezug auf unser Erlebnis mit dem Straßenkünstler und seinen Schlangen, »was wäre Mexiko ohne Aberglaube und Legenden? Glauben Sie uns, wir sind von der Wirksamkeit solcher Dinge überzeugt.« Einer der beiden fügt hinzu: »Dann ist da ja noch der katholische Glaube mit seiner Unzahl von Heiligen. Und andererseits die Macht der Toten, die unser Leben mitbestimmen, weil auch wir ja unseren Tod schon in uns tragen.« Und was ist mit den Toten des Drogenkrieges, wollen wir wissen, sind sie denn auch schon Teil des Alltagslebens geworden? Die zwei nicken, und ihnen ist anzusehen, daß ihnen das Thema tatsächlich zu schaffen macht. Seit 2006, dem Jahr, in dem man mit 486 Ermordeten die Zählung begann, sind bis Januar 2014 vermutlich um die 86.600 Menschen, darunter auch unzählige Frauen, Jugendliche und Kinder, unglaublich bestialisch ermordet worden. Allein im Jahr 2012 betrug die Anzahl der an Autobahnbrücken Aufgehängten, der Enthaupteten, der durch unsagbare Folterungen Entstellten 21.796. Die Bundespolizei schätzt, daß von den seit 2006 als offiziell vermißt geltenden 94.000 Menschen wenigstens die Hälfte ebenfalls ermordet und in alten Brunnenschächten abgelegt oder einfach verscharrt wurde. »Hier, sehen Sie«, meint mein mexikanischer Kollege und deutet auf einen Artikel der Zeitung Milenio. »Erst fünf von 17 aus dem Massengrab von Tesistán identifiziert.« Und mit einem Schulterzucken fügt er hinzu: »Wissen Sie, wo Tesistán liegt? Sie fahren jeden Morgen vom Hotel aus daran vorbei. Ruhige Mittelschichtgegend. Lauter nette Familien. Und niemand hat was gesehen.« Und überhaupt die Schichten: Wohl kaum ein Land ist sozial derart zerrissen wie Mexiko: Carlos Slim, der reichste Mann der Welt, er kommt von hier. Die explosionsartig gewachsene Mittelklasse hat den weltweit größten Anteil an Diabetikern unter 40 Jahren. Die Drogenkartelle, die Zetas, die Tempelritter oder hier in Guadalajara das Kartell Nueva Generación, sie sorgen für den Aufstieg einer völlig gesetzlosen Oberschicht. Die durch die organisierte Kriminalität ökonomisch gefährdete untere Mittelschicht bildet ebenso gesetzlose Bürgerwehren zur Abwehr von Drogenbossen und Schutzgeldkriminellen. Die Ärmsten leben völlig ausgegrenzt in den ihnen zugewiesenen urbanen Siedlungsräumen, weit außerhalb der sich immer schneller ausbreitenden Bürgerviertel. Mexikos Wirtschaft wächst, sagt der Mexikaner, es gibt viele Gewinner, aber alle – bis auf die wenige Tausend zählenden Angehörigen der Drogenkartelle – haben irgendwie ein ungutes Gefühl, ein schlechtes Gewissen. »Ich habe ein Haus, einen gutbezahlten Job, zwei Autos. Meine Frau hat auch Arbeit. Man könnte sagen, ich hätte es geschafft.« Sein Kollege rührt in seinem Fruchtsaft und sieht nachdenklich hinaus auf die Boutiquen vor dem Hotel. »Aber was ist, wenn uns irgendwann die Toten besuchen kommen, wenn man im Garten mit den Kindern einen Baum pflanzen will, und plötzlich liegen da Skelette in der Erde? Lachen Sie nicht, das hat es schon gegeben. Hier in Guadalajara. Und wir sind der Bundesstaat mit den wenigsten Problemen.« Irgendwie scheinen sie recht damit zu haben, die beiden Herren. Als sie uns am letzten Tag zum Flughafen bringen, fahren wir an brandneuen Hochhäusern vorbei, an Kinokomplexen und an Werbetafeln. Auf der Insel im Kreisverkehr steht eine bis an die Zähne bewaffnete Patrouille der Bundespolizei. Unsere beiden Begleiter schauen starr nach vorne. Sie könnten all dieses Wachstum loben, mit Stolz auf die Baukräne verweisen, auf das Einkaufszentrum »Antares« für die Superreichen. Doch sie bleiben eher einsilbig, bis wir uns schließlich herzlich, aber dennoch irgendwie so verabschieden, als hätten sie uns ein wenig die Sorgen um ihr Heimatland mit auf den Weg gegeben.