erstellt mit easyCMS
Titel714

Die Ex-Stadt der Reussen und der Stoffe  (Wolfgang Helfritsch)

»Mei Vuchtland, wie bist du schie!« formulierte einst der Greizer Heimatdichter Gotthold Roth, und einer seiner literarischen Nachfolger, der schlitzohrige und spitzzüngige Hansgeorg Stengel, bedauerte jeden, dem ein anderer Geburtsort als die ehemalige Residenzstadt des ehemaligen Fürstentums Reuß ältere Linie beschieden war. Wo er recht hat, hat er recht.

Es waren aber auch etliche Koryphäen, die mit dem Wasser der überschwemmungserfahrenen Weißen Elster getauft wurden: der Liszt-Schüler Bernhard Stavenhagen, Oskar Sala, einer der beiden Erfinder des Trautoniums (Was, davon haben Sie noch nie etwas gehört?), der Konzertmeister Gerhard Bosse, der Geigenvirtuose Karl Suske, der Astronaut Ulf Merbold, der Dichter Günter Kunert, der spätere Berliner DT-Mime Dieter Franke, der Sänger Bernd Riedel, der Dante-Forscher Prof. Friedrich Schneider, die Bildhauer Carl Röder und Ellen-Viola Nahmmacher, die Turner Gypser, Hoffmann und Rahnfeld, die Ringer Lohr und Lässig und, und, und. Es war ein reines Versehen, daß der Kosmonaut Sigmund Jähn nicht in Greiz, sondern im nahen Morgenröte-Rautenkranz erst seinen und später noch andere Planeten kennenlernen konnte.

Exakt 60 Jahre, nachdem ich in Greiz das Abitur gebaut hatte und zum Studium und für den Rest des Lebens nach Berlin gewechselt war, zog es mich mal wieder in die »Perle des Vogtlandes«, meine Geburtsstadt, die Kloß- und Rostbratwurst-Metropole und das ehemalige Textil-Zentrum. Letzteres war längst der altbundesdeutschen Konkurrenz erlegen, und die Losung »Was Greiz gewebt und Greiz gefärbt, das hält, bis es der Enkel erbt« verebbte unter den treuhänderischen Bedingungen neudeutscher marktwirtschaftlicher Realitäten. Selbst das einst riesige GREIKA-Kombinat, die »Greizer Kammgarn-Webereien«, die jahrelang auch in Berlin einen Industrieladen unterhalten hatten, wurde von der Abrißbirne auf Erdniveau gebracht, um Platz für mächtig-gewaltige Kaufmärkte zu schaffen. Denen mangelt es allerdings an Käufern, denn die jüngeren Greizer haben die joblose »Große Kreisstadt« längst verlassen, und die verbliebene Rollator-Generation muß ihre Bedürfnisse in bescheidenen Grenzen halten.

Aber verfolgen wir die vogtländische Exkursion der Reihe nach, oder, wie man heutzutage modern formuliert, step by step.

Ich befand mich nicht allein auf dem Nostalgie-Trip, sondern in Begleitung meiner seit ein paar Jahren in Schweden ansässigen Tochter, die sich als Kind bei den Greizer Großeltern und in Vaters Geburts- und Schulstadt wie zu Hause gefühlt hatte und Erinnerungen auffrischen wollte.

Bei der Einfahrt in die altreussische Metropole kamen wir durch die Zeulenrodaer Straße, die mich an ein Erlebnis aus den Oberschuljahren erinnerte: Durch diese Straße schlurfte zweimal täglich eine alte Frau in Küchenschürze und Hauspantoffeln zum Bahnhof, um Ausschau nach ihrem im Krieg »gefallenen« Sohn zu halten. Sie hoffte noch jahrelang auf seine Rückkehr.

Über die Weiße Elster fiel unser Blick auf das vom Hochwasser 2013 gebeutelte fürstliche Sommerpalais, das erst wenige Monate vor der Naturkatastrophe aufwendig renoviert worden war. Wir besuchten am Folgetag eine im ersten Stockwerk präsentierte Ausstellung von Karikaturen der knallig-farbenfrohen Franziska Beck und des mit sparsamen Strichen arbeitenden Henry Büttner, während im Parterre noch die Feuchtigkeit aus den Wänden gesaugt wurde.

Auch das im nebengelegenen »Küchenhaus« betriebene Café hatte seine Tore wieder geöffnet und bot neben einem ausgewählten kulinarischen Angebot ein schnuckliges Ambiente, obwohl die Obergrenze des Hochwassers noch deutlich von den Tapeten abzulesen war.

Überhaupt war der Greizer Park, einst von den reussischen Territorialfürsten eingerichtet und zu DDR-Zeiten beziehungslos in Lenin-Park umgetauft, nach dem Hochwasser in einem erstaunlich guten Zustand. Dazu hatten Spenden aus der Bevölkerung nicht weniger beigetragen als freiwillige Einsätze – welche Mittel der Stadtfiskus dafür abzweigte, entzieht sich meiner Kenntnis.

Auf dem Weg in den Park räkelte sich auf einer von der Sonne beschienenen Bank eine rostbraune Katze, die nicht dagegen anschnurrte, die hölzerne Sitzgelegenheit mit uns teilen zu müssen. Im Gegenteil: Sie nahm auf meinem Schoß Platz und ließ sich kraulen. Eine alte Greizerin, die des Weges kam und die Kontaktaufnahme beobachtet hatte, sprach die Katze mit den Worten »Na, Fritz, hasde wieder een` zum Graul`n gefund`n?« an und erklärte uns, daß das betagte Tier seit Jahren die Parkbänke frequentiert und für jede Liebkosung dankbar sei. Es soll vor Jahren ausgesetzt worden sein, lebt im Park und verzieht sich in den Wintermonaten in eine Unterkunft, die ein tierfreundlicher Parkgärtner zusammengezimmert hat.

Die Suche nach einer Hotelunterkunft vollzog sich schwieriger als vermutet. Nachdem wir unser Gefährt in die Tiefgarage unter dem Marktplatz gequetscht hatten, fanden wir mit Hilfe von kundigen Handwerkern und gut versteckten Aufzügen den Weg zur Rezeption des Schloßberghotels. Es befindet sich dort, wo ich in meiner Jugendzeit fröhlich in einem Hallenbad geplätschert hatte. Daß alle Betten belegt waren, nahmen wir eher erleichtert zur Kenntnis, denn der Weg vom Hotel zu unserem fahrbaren Untersatz glich fast einem antiken Labyrinth. Bevor wir die nächste gastgewerbliche Institution ansteuerten, führte ich meine Tochter Katrin zur Gedenktafel für den Hauptmann Kurt von Westernhagen an einer Ecke des Marktes. Der Offizier wollte die Stadt den anrückenden US-Truppen im April 1945 kampflos übergeben, um ein Blutbad zu vermeiden und die Zerstörung der Stadt zu verhindern und wurde von einer auf der Flucht befindlichen SS-Kohorte wegen »Feigheit vor dem Feind« auf der Stelle erschossen. Als wir bedrückt vor der Tafel standen – ich hatte den »Feindalarm«, den Artilleriebeschuß und die Einnahme der Stadt als fast Zehnjähriger schon bewußt miterlebt –, fiel uns zweierlei auf: Das Memorial war mit frischen Blumen geschmückt, und unter dem Namen des Offiziers war – deutlich lesbar – die Bezeichnung »Feigling« ins Holz geschnitzt. Gegensätzlicher konnten die Stellungnahmen nicht sein, und Brechts »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch« erhielt erschreckende Aktualität.

Schließlich kamen wir in einem »Töpferhof« im ländlichen Ortsteil Moschwitz unter und waren mit dieser Lösung sehr zufrieden. Der Inhaber, ein bildender Künstler und Kunsterzieher, hatte den alten Bauernhof erworben und nach seinen Vorstellungen umgestaltet. Er führt dort Lehrgänge durch, beherbergt die Teilnehmer zu erschwinglichen Konditionen und läßt ihrer und seiner schöpferischen Phantasie freien Lauf, was kunsthandwerkliche Töpfer- und Metallarbeiten im Treppenhaus und zwischen den Hofpflanzen bezeugen.

Moschwitz macht, wie auch die anderen Dörfer des Stadtgebietes, einen gepflegten Eindruck. Ich vermißte allerdings den in meiner Jugendzeit typischen Güllegestank sowie die Pferdegespanne der Bauern, die wir Jungen schon von weither am unterschiedlichen Getrappel der Rösser und an den derben Zurufen der Kutscher voneinander zu unterscheiden wußten. Alles geht heute auf dem Dorf motorisiert vor sich, und die Trecker und selbstbeweglichen Landwirtschaftsmaschinen haben alle Mühe, sich an den am schmalen Straßenrand abgestellten PKWs vorbeizumanövrieren. Die meisten Häuser sind frisch herausgeputzt, was man von vielen Gebäuden in der Innenstadt allerdings nicht behaupten kann. Stadtvillen, deren Jugendstilpracht man nur noch beim genaueren Draufblick erahnen kann, gammeln mit bröckelndem Putz, eingeschlagenen Fenstern und vernagelten Haustüren traurig vor sich hin. Der Zustand der ehemaligen repräsentativen Karolinenstraße, benannt nach einer Tochter eines der letzten Reussenfürsten, läßt ungeklärte Eigentumsverhältnisse oder unzureichende Finanzbestände vermuten. Und das auf einem Boulevard, der noch zu DDR-Zeiten, als er zwischenzeitlich den Namen Ernst Thälmanns führte, Sitz von Ärzten, Geschäftsleuten, Lehrern und Anwälten war. Hinter einer protzigen, jetzt aber versiegelten Tür lebte auch unsere Englischlehrerin »Miss Beer«, die uns zum Nachhilfeunterricht in ihr herrschaftliches Domizil einbestellte.

Aus der Öde der Straße erhebt sich wie Phönix aus der Asche die neuerbaute »Vogtlandhalle« – ein supermoderner Kulturpalast mit einem Saal für 800 Besucher, Hebebühne, ausfahrbarem Orchestergraben und vielem anderen technischen Schnickschnack sowie weiteren variabel nutzbaren Räumen. Das alte Theater, das ich noch als Revuebühne »Tivoli« kannte und das später zum »Theater der Stadt Greiz« mit einem selbständigen Ensemble und noch später zum Kreiskulturhaus ohne selbständiges Ensemble mutierte, habe ich noch in guter Erinnerung. Dort sah ich als Kind begeistert »Peterchens Mondfahrt« und als Oberschüler Lessings »Nathan« und Goethes »Faust«, genoß den »Boccaccio« und den »Bettelstudenten« und lauschte dem Sinfonieorchester unter Musikdirektor Gerhard Friedrich. Mancher später landesweit bekannte Mime nahm seinen Karriere-Weg über das Greizer Provinztheater.

In den Musentempel wurden häufig LPG-Bauern der umliegenden Dörfer zu Abonnements-Vorstellungen mit Bussen oder Traktorgespannen gekarrt. Noch lange Zeit amüsierte man sich in Greiz über folgenden Vorfall: In eine Abo-Veranstaltung platzten 15 Minuten nach Spielbeginn LPG-Bauern eines Ortes aus dem Landkreis, und das justament in dem Moment, in dem ein Tragöde die Anfrage »Von wannen kommt Ihr?« über die Bühne zu donnern hatte. »Mir gomm` von der LBG Thomas Müntzer«, wurde ihm aus dem Publikum ehrlich geantwortet. »Unser Bus hadde `ne Banne!«

Zugegeben, das alte Haus war auf die Dauer nicht zu halten, zumal sich die aufmüpfige »Weiße Elster« alle paar Jahre ihren Flutweg unvermeidlich durch die Theater-Räumlichkeiten bahnte. Aller Ehren wert, daß sich der städtische Fiskus – vermutlich kräftig unterstützt durch Landes- und Bundesmittel und weitere Zuwendungen – für den überdimensionalen Neubau entschied. Ihn durch eine Vielfalt von Veranstaltungen am Leben zu erhalten, wird eine Hürde sein, die in einer Stadt mit rapide schwindender Bevölkerung schwer zu bewältigen ist.

Wie es der Zufall so fügte, wurden während unseres Besuches die aktuellen Einwohnerzahlen in der Ostthüringer Zeitung veröffentlicht. Nach der Eingemeindung weiterer Dörfer kommt die Stadt auf 21.310 Personen. Ich kann mich nicht für die genaue Bewohnerzahl meiner Schulzeit verbürgen; sie lag jedenfalls bei 38.000, und die meisten Greizer waren traditionell in der Textilbranche beschäftigt. Einen Bevölkerungsboom erlebte die Stadt noch einmal nach Kriegsende durch Umsiedler, die eine neue Heimat finden mußten und im Laufe der Jahrzehnte allmählich mit den Alteingesessenen verschmolzen.

Äußerer Ausdruck der Veränderung der Bevölkerungsstruktur ist heute der wachsende Prozentsatz älterer Bürger, die abends kaum noch ihre Wohnungen verlassen und den Eindruck verstärken, zu vorgerückter Tagesstunde würden in der Stadt »die Bürgersteige hochgeklappt«. Das mir aus meiner Jugendzeit erinnerliche Fluidum, das durch im vogtländischen Dialekt geführte Gespräche auf der Straße und in den Geschäften geprägt war, hat sich offensichtlich durch das Aussterben von Ureinwohnern und den – wenn auch maßvollen – Zuzug von Bürgern aus anderen Bundesländern abgeschwächt. Wenn ich mich aus Jux und Tollerei in der mir aus der Jugendzeit noch gut bekannten Sprechweise versuchte, begegneten mir häufig Unkenntnis und Erstaunen.

Auf der Suche nach landestypischer Kost fiel uns auf, daß im Stadtgebiet Gaststätten mit für die Region typischen Speisen wie »Rouladen mit Rotkraut und grünen Klößen« oder »Rostbrätel« heute spärlich gesät und eher in den Dorfkneipen der Umgebung zu finden sind. Auch das führt zu einem Kulturkreis- und Brauchtumsverlust, dem nicht oder nur schwer beizukommen ist.

Ein echter Reisehöhepunkt war die Begegnung mit einem Schulfreund aus der Volks- und Grundschulzeit, dem ich immer einen Besuch abstatte, wenn ich reussisch-»vuchtländische« Luft einatme. Meine Klasse, die 1949 aus der 8. Klasse der damaligen Bergschule entlassen wurde, trifft sich regelmäßig zu Jubiläen, zuletzt 2009 zum 60jährigen Schulabschluß. Das nächste Meeting der Übriggebliebenen ist für Mai 2014 vorgesehen – ich habe gern zugesagt.

Auf dem Rückweg von dem auf der Pohlitzer Höhe wohnenden Schulkumpel fiel mein Blick auf das Greizer Wahrzeichen, das von einer herrlichen Abendsonne umstrahlte Obere Schloß, welches von einem Felsen aus kritisch das Leben in der Stadt beäugt. Von hier aus herrschten die Reussen-Fürsten der älteren Linie über ihre Untertanen. Sie müssen Respektspersonen gewesen sein, denn aus meiner Kinderzeit kenne ich noch den Spruch »Gehe nie zu deinem Ferschd, wenn de net gerufen werschd!«

Vor der Rückfahrt deckten wir uns beim Aubachtaler Fleischer Maltz noch mit geräucherter Hausmacher-Leberwurst und harter Speckwurst und beim Pohlitzer Alt-Bäcker Hempel mit Kümmelbrot und Prasselkuchen ein. Bei den Großeltern des Bäckers hatte ich als Schulkind noch auf den Feldern nachgesammelte und ausgeschüttelte Roggenkörner gegen Brot getauscht.

Mach‘s gut, Greiz, alte Reussen-Metropole und gewesene Jugend- und Textilstadt! Bis zum nächsten Mal, gelle?