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Titel716

Verantwortungsvollerer Zeit-Journalismus  (Otto Köhler)

Als er vor zehn Jahren starb, rief die Zeit dem ehemaligen »Filmredakteur der Zeit« nach: »Unter den wichtigen Filmkritikern der sechziger Jahre war Uwe Nettelbeck der kleine Prinz: ein Popstar, der mit furiosem Temperament origineller und musikalischer über Kino schreiben konnte als irgendjemand sonst in Deutschland.«

Aber: »In einer Zeit des Umbruchs reichte ihm ein Rezensentenleben bald nicht mehr. Einer seiner wichtigsten Zeit-Texte galt im November 1968 den Frankfurter Kaufhaus-Brandstiftern: ›Ein brennendes Kaufhaus verändert eine Gesellschaft nicht, die es im Bedarfsfall selber an allen Ecken und Kanten brennen lässt.‹«


Das war der Fußtritt, den die Zeit ihrem aus dem Hamburger Pressehaus getriebenen Redakteur mit ins Grab gab. Seinen wichtigsten Zeit-Text hat er nicht als RAF-Rezensent, sondern als Gerichtskolumnist der Zeit geschrieben. Sie hätte damit renommieren können, dass Uwe Nettelbeck – neben dem legendären Gerhard Mauz vom Spiegel – zum Justizkritiker der Bonner Republik wurde. Doch das konnte, sollte schließlich, nicht gutgehen. Infam, im Nachruf, nur aus dem einen Absatz zu zitieren, der sich gegen die Brandstifter Gudrun Ensslin, Andreas Baader und andere richtet. Und den großen Rest des »wichtigsten« Artikels zu verschweigen. Der setzte sich mit dem Richter und Staatsanwalt auseinander, die aus einer »sinnlosen Demonstration« gemeinschaftlich handelnd viermal drei Jahre Zuchthaus generierten und so zu Geburtshelfern der RAF wurden. Nachzulesen ist das jetzt alles im Suhrkamp-Band Uwe Nettelbeck: Prozesse – Gerichtsberichte 1967-1969, 189 Seiten, 19,95 Euro.


Vor fünfzig Jahren begann Uwe Nettelbeck mit seinen Gerichtsreportagen in der Zeit. Mit seinen Berichten über den Frankfurter Brandstifter-Prozess geriet er unter intensive Beobachtung der Zeit-Führung. So sehr, dass der – damals stellvertretende – Chefredakteur Theo Sommer 1977 selbst verbreitete, Nettelbeck habe die »Frankfurter Kaufhaus-Brandstiftung beschönigt« und »die Zeit deswegen verlassen«. Das ist die reine und lautere Unwahrheit. Und Sommer müsste es wissen.


Nettelbeck verließ die Zeit, nachdem dieser Mann, später Chefredakteur und Herausgeber der Zeit, ein Vierteljahr danach, am 14. Februar 1969, wegen eines anderen Artikels folgende Abmahnung schickte: »Ich wollte Ihnen nur in aller Freundschaft mitteilen, dass ich ihren letzten Artikel hanebüchen fand. Ob es gute Agitation war, vermag ich nicht zu beurteilen – auf jeden Fall war es schlechter Journalismus. Ich habe ja gar nichts dagegen, wenn man einem Richter Rechtsbeugung vorwirft, aber dann muss das belegt werden. Mit dem Herbeten von stupiden Apo-Floskeln kann es nicht getan sein. Hätte ich den Artikel vor der Drucklegung gelesen, so hätte ich gewiss alles aufgeboten, um sein Erscheinen in dieser Form zu verhindern. Auch habe ich mir vorgenommen, zukünftige Gerichtsberichte aus Ihrer Feder sehr genau im Manuskript zu betrachten. Ich sage Ihnen das in aller Ehrlichkeit; es ist besser, wir wissen beide, woran wir sind.«


Nettelbeck hatte das Wort »Rechtsbeugung« nicht gebraucht. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke wurde ein Theologie-Student wegen Landfriedensbruch und Aufruhr zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt. Von einem Richter, der auf gut altfaschistisch Angeklagte für »nach Herkunft und Veranlagung minderwertig« hält. In Notwehr hatte der Student gegen zu Pferd anstürmende Polizisten zu seinem Schutz ein Brett flach vor sich gehalten. Nettelbeck schilderte den Prozessverlauf so präzise, dass selbst ein obrigkeitshöriger Journalist wie Theo Sommer – inzwischen ist er ja vorbestraft – annehmen musste, bei dem Urteil handele sich um Rechtsbeugung.


Als er ging, durfte Nettelbeck von der Zeit folgende Sommer-Weisheit mitnehmen: Es sei verantwortungsvollerer politischer Journalismus, aus den richtigen Gründen etwas Falsches zu schreiben, als zuzulassen, dass die falschen Leute aus den falschen Gründen zufällig etwas Richtiges schreiben.


Nettelbeck war nicht der richtige Mann für dieses Blatt.