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Titel0812

Grass-Debatte: Ein Problem wird verrückt  (Arno Klönne)

Ein prominenter deutscher Literat gibt lyrisch, aber ungereimt seinen Protest kund gegen kriegerische Pläne der israelischen Regierung, auch dagegen, daß die Bundesrepublik dieser Regierung militärische Instrumente liefert – und schon haben die Medien hierzulande ihre neue Sensation: Da sei er »rausgekommen, der neue Antisemitismus«. Günter Grass habe nun »wie ein SS-Mann« sich geäußert, sagt Henryk M. Broder, der als erster in der Springer-Welt eine geschäftige Hysterie um den »Blechtrommler« in Gang setzte, und der Zeit-Herausgeber Josef Joffe schrieb Grass gar eine »Karriere« in der Waffen-SS zu, so als sei diese Weltanschauungstruppe des »Dritten Reiches« von dumpfbackigen Siebzehnjährigen kommandiert worden. Wer sich auf diese geballte Verurteilung des Nobelpreisträgers nicht einlassen will, ist in Versuchung, schlicht dagegenzuhalten und mit der jungen Welt auszurufen: »Grass hat Recht.« Aber womit? Mit seiner Warnung vor einem Militärschlag gegen den Iran, ja. Auch mit seiner Kritik an der Politik der deutschen Bundesregierung. Aber die Strophen von Günter Grass, wie ich sie lese (Gedichte sind deutungsoffen, so ist das auch in diesem Fall), sind keineswegs eine hinreichende und überzeugende Darstellung der weltpolitischen Konfliktlage, welcher die in Israel herrschende Politik entstammt und in der sie aggressiv ihre Rolle spielt. Der Dichter hat sich schon bisher nicht gerade durch historisch-politische Präzision hervorgetan, genüßlich hält ihm Broder einen Satz aus dem vorigen Jahr vor, wonach im Zweiten Weltkrieg in der UdSSR »sechs Millionen« deutscher Kriegsgefangener »liquidiert« worden seien. Und jetzt: Die iranische Gesellschaft erscheint bei Grass kurz und irreführend als »das von einem Maulhelden unterjochte Volk«; die Gefahr israelischer Atombewaffnung ist so herausgestellt als handele es sich bei den Nuklearwaffen anderer Staaten um Pflugscharen; die Verquickung der USA und der neofeudalen arabischen Systeme in die explosive Situation im Nahen Osten ist nicht einmal erwähnt. So analytisch kann es in einem lyrischen Text auch nicht zugehen? Mag sein, aber Grass selbst versteht ihn offenbar als politisches Manifest und legt den Irrtum nahe, damit werde in der deutschen Öffentlichkeit zum ersten Mal überhaupt ein offenes Wort zum Thema gesprochen. »Warum schwieg ich bislang«, fragt er und verweist auf den »nie zu tilgenden Makel« deutscher Geschichte – aber andere haben nicht geschwiegen und dabei die Staatsverbrechen des deutschen Faschismus keineswegs vergessen oder verdeckt.

Der Auftritt von Grass wird dazu verwendet, diskursstrategisch das Problem zu verrücken: Nicht mehr die Kriegsgefahr im Nahen Osten steht zur Debatte, nicht mehr die Politik der Machteliten und Interessenten, die hier auf menschenverachtende Weise agieren, sondern die Frage, ob Günter Grass im Hinterkopf oder im Unterbewußtsein seine jugendliche Zugehörigkeit zum schwarzen Korps eben doch nicht bewältigt habe. Weltbewegend ist die Antwort darauf nicht. Für die politische Wirklichkeit hat eine ganz andere Frage Gewicht: Ob es den Meinungsmachern gelingt, das Nein zum Antisemitismus zu verkehren in ein hinnehmendes Ja zur Kriegspolitik und deren rüstungswirtschaftlicher Vorbereitung.

Die israelische Regierung hat inzwischen Günter Grass zur »persona non grata« erklärt. Henryk M. Broder ist damit zum Netanjahuflüsterer arriviert. Nun warten wir ab, ob wenigstens Juden in Israel, die der dort regierenden kriegerischen Politik widersprechen (und die gibt es zahlreich), im Lande verbleiben dürfen.