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Titel820

Gedanken und Thesen zum Corona-Ausnahmezustand  (Rolf Gössner)

Der folgende Text ist die ergänzte und aktualisierte Langfassung eines Beitrags, der in gekürzter Version in der Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft „Ossietzky“ Nr. 8 v. 18.04.2020 erschienen ist (http://www.ossietzky.net/). Update: 24.04.2020

 

Sich an bestimmte Regeln zu halten, um seine Mitmenschen und sich selbst so gut wie möglich zu schützen, dürfte angesichts der Corona-Epidemie und ihrer Gefahren absolut sinnvoll sein – wenn damit die Ausbreitung des Virus verlangsamt, das krank gesparte Gesundheitswesen vor Überlastung bewahrt und das Leben besonders gefährdeter Personen geschützt werden kann. Dennoch sollten wir die gegenwärtige alptraumhafte Situation im Gefolge des Corona-Virus (Covid-19) kritisch hinterfragen sowie auf Verhältnis- und Verfassungsmäßigkeit überprüfen – gerade in Zeiten dirigistischer staatlicher Zwangsmaßnahmen, gerade in Zeiten allgemeiner Angst, Unsicherheit und Anpassung. Zumal die einschneidenden, unser aller Leben stark durchdringenden Maßnahmen letztlich auf Basis einer ungesicherten wissenschaftlichen Datenlage verhängt worden sind.

 

Die folgenden skeptischen Gedanken und zuspitzenden Thesen sollen dazu beitragen, die komplexe und unübersichtliche Problematik einigermaßen in den Griff zu bekommen und bürgerrechtliche Orientierung zu bieten für eine offene und kontroverse Debatte. Diese Debatte leidet derzeit leider noch immer unter Angst, Einseitigkeit und Konformitätsdruck, auch unter Diffamierung und Ausgrenzung: „Wer dieser Tage von Freiheitsrechten spricht“, so Charlotte Wiedemann in der „taz“ (25.03.2020), „wird leicht der Verantwortungslosigkeit bezichtigt (…). Und überhaupt: Kritik ist nicht an der Zeit! (…) Auch die Medien stehen unter Konformitätsdruck.“

 

Bei so viel Angst und seltener Eintracht sind Skepsis und kritisches Hinterfragen von vermeintlichen Gewissheiten und autoritären Verordnungen nicht nur angezeigt, sondern dringend geboten. Schließlich gehört das zu einer lebendigen Demokratie – nicht nur in Schön­wetterzeiten, sondern gerade in solchen Zeiten wie diesen, gerade in Zeiten großer Gefahren, die nicht nur aus einer, sondern aus unterschiedlichen Richtungen lauern.

 

Erstens: Das Corona-Virus gefährdet nicht allein Gesundheit und Leben von Menschen, sondern schädigt auch verbriefte Grund- und Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie – „dank“ der obrigkeitsstaatlichen Abwehrmaßnahmen, die tief in das Leben aller Menschen eingreifen: Abwehrmaßnahmen, die schwerwiegende gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Schäden und dramatische Langzeitfolgen verursachen.

 

Zweitens: Wir erleben einen gesundheitspolitischen Ausnahmezustand in Echtzeit und auf unbestimmte Dauer – inzwischen „neue Normalität“ genannt (Vizekanzler Olaf Scholz, SPD / Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, CDU). Wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik werden durch zwangsbewehrte Kontakt- und Versammlungsverbote elementare Grund- und Freiheitsrechte massiv eingeschränkt, teilweise vollkommen unterdrückt: Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Recht auf Freizügigkeit, auf Handlungsfreiheit, auf Bildung, auf Versammlungs-, Meinungs-, Kunst- und Religionsfreiheit sowie Schutz von Ehe, Familie und Kindern, die Freiheit der Berufsausübung, die Gewerbe- und Reisefreiheit. Praktisch das gesamte private, soziale, wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Leben eines ganzen Landes mit 83 Millionen Bewohnern kommt weitgehend zum Erliegen - um Gesundheit und Leben zu schützen. Schutzgüter, denen ansonsten nicht immer so viel Wertschätzung zuteil wird, denken wir nur etwa an Agrargifte, Umweltbelastung, Verkehrstote durch Raserei, etwa 25.000 Tote pro Jahr durch multiresistente Krankenhaus-Keime, Zigtausende ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer, zahllose Tote und Verletzte durch Waffenexporte in Krisengebiete und an Diktaturen, verheerende Wirt­schaftssanktionen oder Kriegs­beteiligun­gen.

 

Drittens: Unter solchen Bedingungen des Ausnahmezustands ist jede organisierte Gegenwehr und kollektive Meinungsäußerung im öffentlichen Raum weitgehend tabu – ob in Form von Protesten, Demonstrationen oder Streiks. So etwa Demos gegen den Ausnahmezustand, gegen die Entwicklung zum „totalitären Staat“, gegen die existenzbedrohenden Folgen einer bevorstehen­den Wirtschaftskrise oder aber gegen die kollektive Verdrängung der katastrophalen Zustän­de in griechischen Flüchtlingslagern. So wird politische und soziale Teilhabe weitgehend ausgebremst, so werden Versammlungsfreiheit und Streikrecht per Allgemeinverfügung und Polizeigewalt ausgehebelt und damit in ihrem Wesens­gehalt verletzt – zeitweise selbst dann, wenn die Aktivisten Sicherheits- und Abstandsregeln beachten. Ein verfassungsrechtliches Desaster mit polizeistaatlichen Anklängen, dem das Bundesverfassungsgericht endlich Mitte April 2020 wenig­stens ansatzweise Einhalt geboten hat. Generelle Verbote per Verordnung ohne Prüfung des Einzelfalls sind unzulässig (Az. 1 BvR 828/20). Auch in Zeiten von Corona müssen Versammlungen, dann eben unter geeigneten Auflagen, zugelassen werden.

 

Viertens: Auch bei großer Gefahr sind staatliche Instanzen gehalten, gesetzes- und verfassungsgemäß zu handeln – was jedoch in Zeiten der „Corona-Krise“ und unter dem Primat der Gesundheitsvorsorge („überragendes Schutzgut der menschlichen Gesundheit und des Lebens“) nicht mehr durchgehend zu gelten scheint. Doch selbst in solchen Zeiten sind die sozialen Verwerfungen und gesundheitlichen Langzeitfolgen der Beschränkungen des täglichen Lebens in eine verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen Freiheitsrechten, Gesundheit und Leben einzubeziehen – was derzeit offenbar nicht oder zu selten geschieht. Gesundheitsschutz und Freiheitsrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, Menschenleben nicht gegen Menschenrechte. Denn in einem demokratischen Rechtsstaat müssen sich die Bürger*in­nen auch in einer schweren Krise darauf verlassen können, dass in die Freiheitsrechte nicht unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig eingegriffen wird, sondern jeweils die mildesten Mittel gewählt werden.

 

Fünftens: Doch genau das passiert im Frühjahr 2020 mit etlichen der Allgemein­verfügun­gen und Verordnungen des Bundes und der Länder eben gerade nicht: So ist bzw. war etwa in manchen Ländern wie Bayern oder Sachsen das Verlassen der Wohnung ohne triftigen Grund untersagt – was im Falle einer polizeilichen Überprüfung die Privat- und Intimsphäre tangiert. In Berlin wurde das Lesen eines Buches auf einer einsamen Parkbank oder Picknick mit zwei Personen polizeilich geahndet. In Sachsen dürfen sich Bewohner nur im Umfeld ihrer Wohnungen bewegen; Bewohner mit Zweitwohnsitz in Mecklenburg-Vorpommern werden praktisch des Landes verwiesen oder dürfen nicht einreisen usw. Solche Verbote sind weder aus epi­demio­logischer Sicht notwendig, noch sind sie verhältnismäßig. Sie grenzen an Schikane und Willkür und sind deshalb unverzüglich aufzuheben. (Einige sind inzwischen wenigstens abgemildert worden).

 

Sechstens: Die meisten Anordnungen des Bun­des und der Länder dürften hinsichtlich Kontakt- und Versammlungsverboten womöglich ohnehin nicht verfassungsgemäß sein, weil dafür nach Auffassung mancher Verfassungsrechtler eine taugliche Rechtsgrundlage fehle. So sieht es u. a. auch die Staatsrechtlerin Andrea Edenharter: Das Infektionsschutzgesetz erlaube individuell, zeitlich und räumlich nur „eng eingegrenzte Beschränkungen“. Wochenlange Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für das gesamte Land und seine gesamte, überwiegend gesunde Bevölkerung ließen sich daraus nicht ableiten; das verletze den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit (FR 26.03.20).

 

Bis Mitte April 2020 sind über 150 Urteile ergangen, die sich mit Rechtsakten des Bundes oder der Bundesländer zur Eindämmung der Corona-Epidemie befassen und weitere folgen. Ein Großteil dieser Entschei­dungen betrifft Verordnungen, die Grundrechte einschränken, so etwa mit „Versammlungsverboten“ und Ausgangsbeschränkungen. Dagegen gerichtete Eilanträge auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung hatten vor den Verwaltungsgerichten bislang zumeist keinen Erfolg, was sich aber in den anschließenden Hauptsacheverfahren, zumindest im einen oder anderen Fall, noch ändern kann.

 

Siebtens: Auch die parlamentarische Demokratie leidet unter der „Corona-Krise“: Die Opposition scheint lahmgelegt, die demokratische Kontrolle ist ausgehebelt. Die Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes, auf das u.a. die Versammlungs- und Kontaktverbotsmaßnahmen gestützt werden, erfolgte im Schnellverfahren – ohne Experten-An­hörun­gen, ohne Politikfolgenabschätzung, obwohl es sich doch um Maßnahmen von großer Tragweite handelt. Auf dieser neuen gesetzlichen Grundlage kann der Bundestag die sogenannte epidemische Lage von nationaler Tragweite ausrufen, sobald eine „ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit“ festgestellt wird – mit der Folge, dass weitreichende Macht- und Entscheidungsbefugnisse vom Parlament auf den Bundesgesundheitsminister übertragen werden. Diesen Gesundheitsnotstand hat der Bundestag gleich nach der Gesetzesnovellierung Ende März 2020 öffentlich deklariert. Der Bundestag hat die Feststellung dieser Notlage wieder aufzuheben, „wenn die Voraussetzungen für ihre Feststellung nicht mehr gegeben sind“ – wie und nach welchen Kriterien dies festgestellt werden soll, bleibt jedoch vollkommen offen. Diese Feststellungsermächtigung des Bundestags ist befristet bis zum 31.03.2021; auch vom Bundesgesundheitsminister in einer epidemischen Lage ohne Zustimmung des Bundesrates erlassene Rechtsverordnungen treten erst danach außer Kraft, falls der Bundestag die Lage nicht früher aufhebt.

 

Achtens: Nach dem Infektionsschutzgesetz, das sich streckenweise wie ein Polizeigesetz liest, können der Bundesgesundheitsminister und zuständige Be­hörden zur Gefahrenabwehr – unter Aushebelung der ärztlichen Schweigepflicht und des Datenschutzes – Meldepflichten anordnen, Quarantäne-Be­stim­mungen erlassen, Vorgaben zur Versorgung mit Medikamenten und Schutzausrüstung machen, Einschränkungen der Bewegungs- und Reisefreiheit sowie Aufenthalts- und Kontaktverbote verfügen, ebenso Tätigkeitsverbote für bestimmte Berufsgruppen, Verbote von Veranstaltungen bis hin zur Schließung öffentlicher und privater Einrichtungen etc. Die Verbote der Bundes- und Landesbehörden sind mit Polizeigewalt durchsetzbar, Zuwiderhandlungen werden mit zuweilen drastischen Bußgeldern und Strafen bedroht.

 

Darüber hinaus ist der Bundesgesundheitsmini­ster gemäß Infektionsschutzgesetz ermächtigt, Ausnah­men von geltenden Gesetzen und Verordnungen zu verfügen. Mit solchen Regelungen wird die verfassungsrechtliche Bindung der Regierung an Gesetze unterlaufen. Solche Blan­ko-Ermäch­tigun­gen der Bundes-Exeku­tive ohne parlamentarische Kontrolle und Ländermitwir­kung (Bundesrat) unterminieren die Verfassungsgrundsätze der Gewaltenteilung und des Föderalismus, weshalb diese Ermächtigungsnormen nach Auffassung etlicher Verfassungsrechtler*innen verfassungs­widrig sein dürften.

 

Neuntens: In der Krise besteht darüber hinaus die Gefahr, dass ohnehin problematische Trends noch verstärkt werden: So die Militarisierung der „Inneren Sicherheit“ sowie die seit Jahren forcierte staatliche Überwachung. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) strebt in der aktuellen „Corona-Krise“ weiterhin die Ortung von Handys an, die zunächst noch verhindert werden konnte: Auf diese Weise könnten automatisiert Bewegungs- und Verhaltensmu­ster der Mobilfunk-Nutzer erstellt werden, um festzustellen, mit welchen Personen Infizierte an welchen Orten Kontakt hatten. Das wäre ein schwerer Verstoß gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.

 

Die Weitergabe anonymer Telekommunikationsdaten u.a. durch die Telekom an das Robert-Koch-Institut ist bereits Praxis. Und künftig sollen es Apps auf Handys richten, die über Bluetooth sämtliche Kontakte zu anderen Handys mit Apps in der Nähe registrieren und für bestimmte Zeit speichern. Damit könnten im Falle der Infizierung eines der Handybesitzer die Kontaktpersonen auf digitalem Wege informiert werden, mit dem Ziel, dass sich diese Corona-Tests unterziehen oder gleich in Quarantäne begeben. Die App-Nutzung solle auf „freiwilliger Basis und anonymisiert“ erfolgen. Ob das wirklich funktioniert, ist fraglich, vor allem wenn nicht eine starke Mehrheit von Handybesitzern solche Apps installiert. Denn eine solche Mehrheit wäre nötig, damit dieses Instrument überhaupt ausreichend Wirkung entfalten kann. Damit könnte sich der Druck auf Mobilfunk-Nutzer*innen derart steigern, dass Freiwilligkeit nicht mehr gegeben wäre.

 

Im Übrigen ist schon deshalb besondere Vorsicht geboten, weil die digitale Überwachung sozialer Kontakte mehr als heikel wäre – und möglicherweise ein Einfallstor für weitere Begehrlichkeiten, wie etwa die verpflichtende Nutzung solcher Apps und möglicherweise auch für andere Zwecke. Von einigen Gesundheitsbehörden, wie etwa in Niedersachsen, werden bereits illegal persönliche Daten von Corona-Infizierten und Kontaktpersonen an die Polizei gemeldet. Inzwischen fliegen auch Polizei-Drohnen, so in Hessen und NRW, um die Corona-Kontaktregeln aus der Luft zu überwachen und Menschen im öffentlichen Raum per Lautsprecher von oben zu ermahnen. Whist­le­­blo­wer Edward Snowden warnte angesichts der Corona-Überwa­chungs­maßnah­men und -pläne bereits vor einem weiteren Schritt in den Überwachungsstaat.

 

Zehntens: Noch eine Trend-Verstärkung droht im Zuge der „Corona-Krise“: Die Bundeswehr wird bereits per Amtshilfe im Logistik- und Sanitätsbereich und für Desinfektionsaufgaben unterstützend eingesetzt – was durchaus sinnvoll sein kann. Sie hat bereits 15.000 Soldaten für den Inlandseinsatz zur Unterstützung von Ländern und Kommunen mobilisiert, bereitet sich aber auch auf die Unterstützung der Polizei vor, u.a. mit Militärpolizisten der Feldjäger für "Ordnungsdienste“ und zum Schutz kritischer Infrastrukturen (Spiegel 27.03.20, IMI-Stand­punkt 2020/010). Doch polizeiähnliche Exekutivbefugnisse des Militärs im Inland sind verfassungsrechtlich höchst umstritten, da Polizei und Militär, ihre Aufgaben und Befugnisse strikt zu trennen sind – eine wichtige Lehre aus der deutschen Geschichte. Die Bundeswehr darf nicht zur nationalen Sicherheitsreserve im Inland werden, schon gar nicht mit hoheitlichen Kompetenzen und militärischen Mitteln. Soldaten sind keine Hilfspolizisten, sie sind nicht für polizeiliche Aufgaben nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern zum Kriegführen ausgebildet und mit Kriegswaffen ausgerüstet; und sie sind auch nicht dafür da, real existierende personelle Defizite der Polizei auszugleichen.

 

Elftens: Längst sind die gravierenden wirtschaftlichen Folgen der verordneten Einschränkungen des täglichen privaten, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens in den Fokus geraten und sollen mit einem umfangreichen und (500-)milliardenschweren Hilfspaket der Bundesregierung abgemildert werden – was jedoch berufliche Existenznöte und unzählige Existenzverluste nicht verhindern wird. Weit weniger im Blick der öffentlichen Diskussion sind die drohenden sozialen Verwerfungen – besonders bedrohlich für sozial Benachteiligte, Arme, Obdachlose und Geflüchtete. Die ohnehin schon starke soziale Spaltung der Gesellschaft wird sich mit Sicherheit noch weiter verschärfen.

 

Auch die gesundheitlichen Langzeitschäden werden zum gesellschaftlichen Problem: Denn das wochen-, möglicherweise monatelange Kontakt- und Versammlungsverbot kann zu Vereinsamung und sozialer Verelendung führen, zu existentiellem Stress und psychischen Störungen, zu Spiel- und Alkoholsucht, zu Depressionen und Suizidgefahr, aber auch zu Aggressionen und häuslicher Gewalt, die schon spürbar zugenommen haben soll. All das sind Risikofaktoren für Krankheitshäufigkeit und höhere Sterblichkeit. „Wenn jetzt einzelne Todesfälle verhindert werden, sich dafür aber in den nächsten Jahren die Gesamtsterblichkeit in der Bevölkerung erhöht, wäre die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht gewahrt“, mahnt Stefan Willich, der Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Berliner Charité (Tagesspiegel 24.03.2020).

 

Zwölftens: Dass in angsterfüllten Zeiten der „Corona-Krise“ und der politisch und massenmedial stark befeuerten Unsicherheit nur wenige nach dem hohen Preis rigider staatlicher Eingriffe fragen, ist angesichts der gesundheitlichen Gefährdungen zwar auf den ersten Blick nachvollziehbar, aber auf Dauer kurzsichtig. Denn langfristig könnten sich Abwehrmaßnahmen dieser Art auf die Gesellschaft zerstörerischer auswirken als die Abwehrgründe selbst. „Ansteckend ist Corona und ansteckend ist die Angst davor“, schreibt Heribert Prantl („Süddeutsche Zeitung“) Mitte März 2020: „Angst macht süchtig nach allem, was die Angst zu lindern verspricht.“ Aber man müsse doch fragen, „was angerichtet wird, wenn Grundrechte und Grundfreiheiten stillgelegt und das gesellschaftliche Miteinander ausgesetzt werden.“ Und man müsse „nicht nur entschlossen gegen das Virus kämpfen, sondern auch gegen eine Stimmung, die die Grund- und Bürgerrechte in Krisenzeiten als Ballast, als Bürde oder als Luxus betrachtet“.

 

Doch wenn Gefahr und Verunsicherung nur groß genug erscheinen, dann nimmt der Großteil der Bevölkerung gesellschaftliche und individuelle Einschränkungen und damit verbundene „Kollateralschäden“ offenbar zustimmend, resignierend oder aber willfährig hin, teilweise auch in vorauseilendem Gehorsam. Anscheinend bekommt die Sehnsucht nach autoritärer Führung und autoritären „Lösungen“, nach klaren Ansagen und Anordnungen sowohl in Zeiten des Terrors als auch in Zeiten von Corona erheblichen Auftrieb – überhaupt in Zeiten von Krisen, Katastrophen und Unsicherheit. Der hilflose Schrei nach dem starken autoritären Staat ist unüberhörbar. Und Denunziationen haben Konjunktur. „Die Angst vor der Krankheit hat die Demokratie aufgegessen“, diagnostiziert der Publizist Jakob Augstein („Der Freitag“).

 

Dreizehntens: Die Akzeptanz der drastischen Einschränkungsmaßnahmen, mit denen extreme Eingriffe in die Freiheitsrechte verbunden sind, ist jedenfalls riesengroß: 88 Prozent der Befragten waren damit ursprünglich einverstanden. Jeder Dritte wünschte sich sogar noch härtere Einschränkungen, Zweidrittel erwarten noch weitere Verbote zur Vermeidung körperlicher und sozialer Kontakte. Nur acht Prozent der Bundesdeutschen hielten die Maßnahmen für überzogen (SZ 26.03.2020). Der Historiker René Schlott spricht von „erschütternder Bereitwilligkeit seitens der Bevölkerung“, die Außerkraftsetzung von Rechten als alternativlos hinzunehmen, „die in Jahrhunderten mühsam erkämpft worden sind“. Er spricht angesichts der Kontaktsperren und Versammlungsverbote vom „Rendezvous mit dem Polizeistaat“ und warnt davor, die „offene Gesellschaft zu erwürgen, um sie zu retten" (Augsburger Allgemeine 18.03.2020; Der Spiegel 1.04.20).

 

Vierzehntens: Doch trotz grundsätzlicher Akzeptanz in der Bevölkerung wächst allmählich der Unmut. Tatsächlich wäre es absolut unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig, die ganze Bevölkerung für Monate weitgehend einzusperren – oder gar so lange, bis ein Impfstoff gefunden und eingesetzt wird, wie es zuweilen zu vernehmen ist. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, warnt vor der „Erosion des Rechtsstaats“, sollten sich die „extremen Eingriffe in die Freiheit aller“ noch lange hinziehen (faz.net 2.04.20). Politik und Verwaltung müssten deshalb immer wieder überprüfen, ob weniger einschneidende Maßnahmen möglich seien. Doch eine de­mokra­tisch geführte Debatte über eine tragfähige, nachvollziehbare Exit-Strategie, die aus der Lähmung des öffentlichen Lebens herausführen könnte, ist noch nicht wirklich in Sicht – auch wenn der Ruf nach einem abgestuften Ausstiegsszenario immer lauter wird, auch wenn seit 20.04. ein paar Lockerungen gelten, die aber mit neuen Verschärfungen, wie dem Zwang, an bestimmten Örtlichkeiten Mundschutz zu tragen, verbunden sind.

 

Fünfzehntens: Die Corona-Notstandsmaß­nah­men führen mit Sicherheit in eine scharfe Wirtschafts-, Gesellschafts-, Demokratie-, Rechtsstaats- und Verfassungskrise. Und es besteht die Gefahr, dass sie einen Beschleunigungs- und Gewöhnungseffekt auslösen in Richtung Normalisierung von Ausnahmerecht. Vizekanzler Olaf Scholz und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn haben den Ausnahmezustand ja bereits zur „neuen Normalität“ für eine lange Zeit verklärt. Und so fragt Heribert Prantl zu Recht, ob die Corona-Krise wohl „zur Blaupause für das Handeln in echten oder vermeintlichen Extremsituationen“ werden könnte. Und womöglich nicht nur in Extremsituationen, sondern auch im Alltag. Denn der Ausnahmezustand im modernen Präventionsstaat, in dem wir schon seit Längerem leben, tendiert dazu, zum rechtlichen Normalzustand der Krisenverhütung und Krisenbewälti­gung zu mutieren. So wie im Zuge der Antiterror-Aufrü­stungs­po­litik nach 9/11, als der „Ausnahmezustand“ nach und nach verrechtlicht worden ist – mit weitgehend un­befristeten Gesetzen, die Freiheitsrechte stark beschneiden und längst schon als „Notstandsgesetze für den Alltag“ qualifiziert werden können. Nun folgt also die Verrechtlichung des Gesundheitsnotstands; und auch hier droht der Ausnahmezustand zum Normalzustand zu werden – wie es der Soziologe Ulrich Beck angesichts der Entwicklung einer „Risikogesellschaft“ schon Mitte der 1980er Jahre prognostiziert hatte. Jetzt ist höch­ste Wachsamkeit geboten, damit sich der neue Ausnahmezustand nicht allmählich normalisiert und die autoritäre Wende sich nicht verfestigt.