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Titel820

Ein Virus als Lebensbegleiter  (Wolfgang Helfritsch)

Allerorten Corona-Krise. In dieser Situation drängt sich mir eine Erinnerung an den August 1947 auf, ein Remember an den zweiten Nachkriegssommer nach dem von unseren Landsleuten glücklicherweise verfehlten 1000-jährigen Reich. Ich hatte nach vier Jahren in der Nazi-»Volksschule« das zweite demokratische Grundschuljahr hinter mich gebracht und mich für die Ferienzeit zu einem Schwimmkursus im Sommerbad meiner vogtländischen Heimatstadt Greiz angemeldet. Selbigen musste ich wegen gesundheitlicher Probleme abbrechen, denn ich hatte mir eine Nierenbeckenentzündung eingehandelt – so jedenfalls lautete die Diagnose unserer Hausärztin. Als sich keine Besserung einstellte und Frau Doktor König zunächst meinte, ich würde simulieren, erhoben meine Eltern geharnischten Einspruch. Zu Recht, wie sich zum Entsetzen der Familie und der Medizinerin herausstellte, denn eine gründlichere Untersuchung ergab Poliomyelitis, und zwar sowohl bei mir als auch bei meinem zweieinhalbjährigen Bruder. Wir waren in der damaligen sowjetischen Besatzungszone die ersten Polio-Fälle in der ostthüringischen Region, und einige sollten noch hinzukommen. Zunächst jedoch erfolgte Hals über Kopf unsere Einweisung ins Krankenhaus. Der Transport vollzog sich in einem ausgebeulten zweitürigen Pkw vom Typ Opel P 4, der für Krankentransporte lebensbedrohlich ungeeignet war. Die Patienten konnten nicht liegend befördert werden, und das Sitzen war eine Qual. Aber irgendwie kamen wir an. Während bei meinem Bruder lediglich eine gelähmte Gesichtspartie diagnostiziert wurde, die er im Erwachsenenalter hinter einem Bart verbarg, hatte es mich ärger erwischt: Beine und Arme verweigerten ebenso ihren Dienst wie die Bauch- und Rückenmuskulatur, und die einzige Überlebenschance bestand darin, dass die Brustpartien und damit die Atmung funktionsfähig geblieben waren. Dennoch bereiteten die Ärzte meine Eltern darauf vor, dass ich den Rest des Lebens aller Voraussicht nach im Rollstuhl würde verbringen müssen. Die Prognose bewahrheitete sich dank der Ärzte, meiner Familie und verständnisvoller Lehrer, Klassenkameraden und Nachbarn sowie eigener Gegenkräfte glücklicherweise nicht.

 

Was die Ärzte damals in der Isolierstation des Krankenhauses geleistet haben, habe ich nicht vergessen. Es handelte sich vor allem um das junge Mediziner-Ehepaar Lattermann, das die Abteilung mit großem Engagement, mit Verve und ärztlichem Pathos, mit dem damaligen Wissensstand und mit einigen engagierten Krankenpflegerinnen unter schwierigen Bedingungen betriebsfähig hielt. Besonders hervorheben möchte ich die erfahrene Stationsschwester Hilde Abstreiter, die ich noch Jahre danach an ihrer Arbeitsstelle besuchte. Auf die Seuche war damals niemand vorbereitet, die Schluckimpfung wurde erst Jahre später erfunden, und von der »Eisernen Lunge«, die später manchem das Leben rettete, war noch keine Rede. Ich erinnere mich jedoch an Massagen, an physio- und elektrotherapeutische Maßnahmen und an die Übertragung von Blut aus dem Körper unserer Eltern in unseren Kinderkreislauf.

 

Was meine Eltern in dieser Zeit und bei häuslicher Quarantäne geleistet haben, kann ich aus den Erlebnissen der jüngsten Gegenwart annähernd nachvollziehen. Sie besuchten uns täglich, obwohl sie ihr Wohnhaus nur zu unserem Besuch verlassen durften und sich der Kontakt in der Klinik nur über den dem Fenster vorgelagerten Balkon vollziehen konnte. Dabei hatten wir noch das Glück, im Parterre untergebracht zu sein. Auch unsere Großmutter Emma Perthel und unsere Tante Friedel besuchten uns so oft wie möglich und überraschten uns mit manchem auf abenteuerliche Weise organisierten Naschwerk. Und – auch das ist mir in Erinnerung geblieben – die Volkssolidarität, gerade gegründet und inzwischen 70 Jahre alt, verteilte im Krankenhaus Kakao – damals eine Delikatesse par excellence.

 

Mein Bruder und ich kamen unerwartet glimpflich über die angeschlagenen Runden. Zu meinem eigenen Erstaunen konnte ich eines Tages meine Position im Bett wieder selbständig verändern und mich mit Hilfe einer Schwester von der Liegestatt erheben. Selbst mein Wunsch, mich zum Lehrer ausbilden zu lassen, konnte realisiert werden, nachdem sich einige Muskelgruppen entgegen der Voraussage refunktionalisiert hatten und an die Stelle des Sportunterrichts in meinem Falle physiotherapeutische Behandlungen und orthopädisches Turnen getreten waren. Dabei wurde ich bis in die 50er Jahre hinein von den Greizer Massage-Praxen von Dorothea Anacker und Wulfhilde Hertzsch betreut. Das änderte allerdings nichts daran, dass nicht alle Glieder normal belastbar waren und ich infolgedessen Schwierigkeiten beim Laufen hatte und eine Skoliose (Wirbelsäulenverkrümmung) zurückbehielt. Dadurch verringerte sich mein Lungenvolumen, ich litt und leide unter Kurzatmigkeit und habe seit einigen Jahren wachsende Schwierigkeiten beim Treppensteigen. Mein Glück war es, dass ich nie am Rauchen Gefallen fand. Dass ich nach dem Studium und dem Staatsexamen 32 Jahre lang im Schuldienst, davon 24 als Direktor einer Kinder- und Jugendsportschule, arbeiten würde, und das mit Freude, war nicht einmal im Traum vorauszusehen – schon deshalb nicht, weil ich von dieser Art der Spezialschule vorher noch nie etwas gehört hatte.

 

Ich möchte hervorheben, dass mir vom Ausbruch der Krankheit an und ständig bei der Bewältigung ihrer Folgen viel Verständnis und Hilfsbereitschaft entgegengebracht wurde. Meine damaligen Lehrer und Mitschüler unterstützten mich, wo sie nur konnten, und ich hatte niemals das Gefühl der Hilflosigkeit. Hatten mich anfangs noch meine Angehörigen in die Schule gebracht und von dort wieder abgeholt, übernahmen das bald mein Mitschüler und Freund Eberhard Schulze sowie weitere Klassenkameraden. Die Hausbewohner in der Oßwaldstraße, zum Teil selbst durch die politischen Umstände vertriebene oder zwangsumgesiedelte Personen, erwiesen sich trotz ihrer Armut solidarisch und schoben uns manches Zubrot in die Tasche.

 

1951/52 verbreitete sich der Polio-Virus nochmals punktuell im ostthüringischen Raum. Meine Tante Friedel, die während der ersten Weltkriegsjahre einen DRK-Kursus absolviert hatte und anschließend zum Lazarett-Dienst in umgewidmeten Schulen verpflichtet worden war, wurde unter Isolationsbedingungen im Dorf Neugernsdorf im Landkreis Greiz mehrere Wochen lang zur Bekämpfung der Seuche eingesetzt. Für ihr Engagement erhielt sie eine vom damaligen thüringischen Ministerpräsidenten Werner Eggerath persönlich unterzeichnete Danksagung, auf die sie stolz war und die sich noch in ihren Hinterlassenschaften fand. Das Kreiskrankenhaus Greiz wurde übrigens unter seinem späteren Leiter Professor Kukowka ein international anerkanntes Behandlungs- und Forschungszentrum der DDR für die Bekämpfung der Poliomyelitis.

 

Es war tragisch, dass ich mit der Polio-Problematik in meinen Jahren als Klassenleiter nochmals konfrontiert wurde. Inzwischen hatte man die Schluckimpfung entwickelt und die tückische Krankheit fast besiegt, als ihr einer meiner Schüler im Jahre 1959 erlag und in der »Eisernen Lunge« an einer Kanüle erstickte. Er hatte sich das Virus beim Schwimmen während der Sommerferien an der Ostsee zugezogen. Die Teilnahme an der Trauerfeier und die Gespräche mit den verzweifelten Eltern wirbelten alles noch einmal auf, was ich überwunden glaubte.

 

Reichlich 70 Jahre später, im Frühjahr 2020, erinnert mich die Corona-Katastrophe erneut an die Nachkriegssituation. Ein Virus schlug wiederum unvorbereitet zu und verbreitete sich über die Kontinente. Die Gegenmaßnahmen offenbarten zunächst die Hilflosigkeit der Infizierten, die Überforderung der medizinischen Fachleute und Einrichtungen und der Behörden sowie die erstaunliche Unbekümmertheit der Normalbürger. Das änderte sich jedoch diesmal relativ schnell, da die Politiker eine Einmütigkeit entwickelten, die sich deutlich vom zermürbenden Gerangel um Posten, Kompetenzen und Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten abhob.

 

Diese relative Besonnenheit und Übereinstimmung im Vorgehen gegen die Pandemie unterscheidet sich positiv vom Agieren im Kampf gegen die Klimakatastrophe und der sonstigen Zerstrittenheit der Blöcke und Mächte. Begreift die Menschheit endlich ihre Chance, Prioritäten dauerhaft zu verändern?

 

»Glauben Sie mir: Wenn jeder seinen Beitrag leistet und ... alles tut, was in seiner Macht steht, ... werden wir es gemeinsam überstehen«, beschwor Philip Roth die Leser seines 2010 erschienenen düsteren Romans »Nemesis«. Er bezog sich dabei auf die im Frühsommer 1944 in New Jersey/USA grassierende Polio und plädierte für die Bewahrung der Normalität. Aber: »Wie lässt sich das Richtige tun, wenn niemand sicher sagen kann, was das Richtige ist?« Roth starb 2018 als über 80-Jähriger an Herzversagen in einem New Yorker Krankenhaus. Hoffen wir, dass sein Appell sein Engagement überlebt! (Philip Roth: »Nemesis, Hanser-Verlag, 2010). Erklärungen über »das Richtige« hat es zu Roths Zeiten noch genügend gegeben.

 

Was übrigens meine Begegnungen mit einem Virus im Kindes- und im Greisenalter miteinander verbindet, ist meine Zugehörigkeit zu einer jeweiligen Risikogruppe. Gehörte ich 1947 noch zu den vom Kriege gebeutelten Angehörigen einer Generation, die vor einer ungewissen Zukunft stand, verstärke ich 2020 die besonders gefährdete Phalanx der »Hochbetagten«. Die Jahre, Erlebnisse, Tätigkeiten, Widersprüche und Problemstellungen dazwischen sind einer gründlicheren Betrachtung wert. Soviel steht jedoch fest: Der Kampf gegen ein existenzbedrohendes Virus verläuft nicht losgelöst von aller Erdenschwere.