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Obama und Hiroshima  (Manfred Sohn)

Kapitalistische Krise und Krieg stehen erfahrungsgemäß in enger Verbindung. Dem großen Krieg 1914–1918 gingen Krisen und tiefgreifende Verschiebungen im ökonomischen Kräftegleichgewicht zwischen den damaligen imperialistischen Mächten voraus. Der große Krieg 1939–1945 war vorher in den Tiefen der damaligen Ökonomie entstanden: im Oktober 1929, als in New York die Wall-street in Panik versank. Aber spätestens seit dem 6. August 1945 um 8.15 Uhr wissen wir: Dem Kapitalismus muß der Ausweg in einen großen Krieg verlegt werden. Eine Koexistenz der Menschheit mit atomaren Massenvernichtungswaffen ist auf Dauer unmöglich.

Die Bombe, die am strahlend blauen Morgen jenes 6. August in einigen hundert Meter Höhe über der bis dahin vom Krieg weitgehend verschonten japanischen Großstadt Hiroshima gezündet wurde, war nach heutigen Maßstäben eine kleine Bombe. Aber Sekunden nach ihrer Explosion blieben von einer ganzen Mädchenklasse, die zu dieser Zeit außerhalb des Schulgebäudes im Arbeitseinsatz war, nur noch die Schatten auf den Steinplatten vor ihrer Schule übrig, die gleichzeitig mit ihnen im Orkus dieser menschengemachten Katastrophe verschwand. Die eingebrannten Schatten sind bis heute sichtbar. Sie haben mich bei einem Besuch in Hiroshima am tiefsten beeindruckt.

Jedes Jahr findet in dieser jetzt wieder blühenden Stadt eine mehrtägige Konferenz von Friedensgruppen aus aller Welt statt. Und jeweils am 6. August versammeln sich im Friedenspark – direkt unter dem Punkt, an dem die Bombe explodierte – zehntausende Japaner und gedenken still der Katastrophe. Dies ist nicht Vergangenheits-, sondern auch Gegenwartsbewältigung. In Deutschland mag der Krieg Vergangenheit sein. Aber die strahlende Bombe erzeugte nicht nur einen Ball aus Feuer und Stahlsplittern. Sie setzte tief im Gewebe der getroffenen Menschen Prozesse in Gang, die oft erst Jahre und Jahrzehnte später zum Tod führten oder führen. »Hibakusha« heißen die Menschen, die – nach amtsärztlicher Prüfung – als Opfer der Atombombe anerkannt werden. Diejenigen von ihnen, die sterben, werden jedes Jahr am 6. August feierlich in die Liste der Opfer der ersten Atombombe aufgenommen. Im vorigen Jahr waren es 5012. Die Bombe hat nicht nur getötet – sie tötet weiter.

Vor 65 Jahren wurde die Bombe zusammengebaut. Das Flugzeug – eine B 29 der US-Luftwaffe –, das sie transportieren sollte, machte seine ersten Tests, ob es schnell genug aus dem Radius der gewaltigen Explosion verschwinden könne. Niemand aus Hiroshima ahnte in jenen Frühlingstagen 1945, was diese Stadt im August erleiden würde. Damals wurde in den USA an drei Bomben gearbeitet – einer zum Test in der Wüste Nevada und zwei weiteren für den Einsatz in Japan. Heute gibt es rund 26.000 dieser Waffen. Zwanzig davon lagern in Deutschland. Jede hat mehr Vernichtungskraft als die, die über Hiroshima explodierte.

Viele große Wissenschaftler und Künstler haben in den vergangenen Jahrzehnten gefordert, alle Atomwaffen zu vernichten. Ostermarschierer trugen die Forderung Jahr für Jahr durchs Land. Wenn nun der neue US-Präsident sie aufgreift, sollte es leichter werden, sie zu verwirklichen. Aber dazu wird es noch großer Anstrengungen bedürfen.

Bei meinem letzten Besuch in Japan beschämte es mich, daß aus fast allen Ländern der Erde stärkere Delegationen zum Friedenskongreß und zur Friedenskundgebung gekommen waren als aus Deutschland. Und viele berichteten von einer Tradition, die bei uns unbekannt ist. In Japan geschieht das jedes Jahr: In Erinnerung an die Katastrophe von Hiroshima wird eine Friedensfahne von der Nordspitze Japans bis zum südlich gelegenen Hiroshima getragen.

Dort entstand dann die Idee, das auch in Deutschland zu versuchen. Die Fahne gibt es inzwischen. Sie trägt als Symbol die Friedenstaube und das internationale Zeichen für nukleare Abrüstung sowie die Flaggen Deutschlands und Japans. Sie hat auf Deutsch und auf Japanisch die Aufschrift »Friedensmarsch zum Gedenken an Hiroshima 1945–2010 für eine Welt ohne Atomwaffen«. Knapp ein Jahr lang, vom 6. August 2009 bis zum Sommer 2010, soll sie von Sylt bis zur Zugspitze getragen werden, zu Fuß oder per Rad. Außerdem werden zwei Sammlungen stattfinden. Mit der Geldsammlung soll mindestens einer Jugendlichen oder einem Jugendlichen ermöglicht werden, zum 6. August 2010 nach Hiroshima zu reisen und dort am Schluß des Friedenskongresses die Fahne zu überreichen. Die Sammlung von Unterschriften unter einen »Appell für eine von Kernwaffen befreite Welt« hat zum Ziel, im April 2010 auf der dann in New York beginnenden Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrages Millionen Unterschriften zu übergeben. In diesem Vertrag haben sich die Nuklearmächte verpflichtet, ihre eigenen Nuklearwaffen zu vernichten. Sie sollen millionenfach an diese Verpflichtung erinnert werden.

Welchen Weg die Fahne genau nimmt, ist noch nicht entschieden. Fest steht der Start am 6. August um 8.15 Uhr an der Nordspitze der Insel Sylt, nördlich der Jugendherberge. Sie wandert dann nach Flensburg, Kiel und Hamburg. Dort wird – vermutlich am 1. September, dem Antikriegstag – die erste Etappe enden. Wer mithelfen will, wende sich an manfred.sohn@lt.niedersachsen.de

Eine andere Initiative – ohne Fahne – bereitet ein Protest-Zeltlager nahe dem Atomwaffen-Depot Büchel (Rheinland-Pfalz) vor.