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Türkei: Kurswechsel statt Kuschelkurs  (Sevim Dağdelen)

Mit dem Referendum vom 16. April hat Staatschef Recep Tayyip Erdoğan seinem Putsch gegen die türkische Verfassung zum Sieg verholfen. Die Volksabstimmung über die Einführung einer Präsidialdiktatur endete nach offiziellen Angaben mit einem knappen Vorsprung des Ja-Lagers aus islamistischer AKP und rechtsextremer MHP: 51,4 Prozent haben für eine entsprechende gesetzliche Regelung gestimmt. Das »Hayir«-Lager, angeführt von der sozialdemokratischen CHP und der prokurdischen HDP konnte 48,6 Prozent hinter sich bringen. Das Kopf-an-Kopf-Rennen in der Türkei ist beachtlich, waren die Wahlen doch weder frei noch fair: Mehrere Tausend HDP-Politiker sind in den vergangenen Monaten mit konstruierten Terrorvorwürfen inhaftiert worden, darunter die Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ. Mehr als 150 Journalisten sitzen im Gefängnis, kritische Zeitungen, Fernseh- und Radiostationen mussten schließen. Während Erdoğan und seine regierende AKP stundenlang auf allen Fernsehkanälen warben, mehr Autokratie zu wagen, wurden Demokraten auf den Straßen selbst beim Flyer-Verteilen verprügelt.

 

Kritik der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am ungleichen Wahlkampf und Hinweise auf Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung haben der Autokrat in Ankara und seine regierende AKP rigoros vom Tisch gewischt. Anträge von CHP und HDP, die Volksabstimmung wegen massiver Manipulationen für ungültig erklären zu lassen, wurden von der – AKP-dominierten – Wahlkommission abgelehnt. Proteste werden von der Polizei niedergeknüppelt, weitere Oppositionelle demonstrativ verhaftet.

 

Und was macht die Bundesregierung? Die hält weiter tapfer zu ihrem Premiumpartner Erdoğan. Kanzlerin Angela Merkel phantasiert von einem »harten Wahlkampf«, ihr Vize, Bundesaußenminister Sigmar Gabriel, ruft zu Ruhe und Gelassenheit auf, während am Bosporus Tausende auf den Straßen gegen Erdoğans Coup demonstrieren. Und als Krönung drückt die schwarz-rote Bundesregierung die Erwartung aus, dass Erdoğan nach dem Referendum »einen respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes sucht«. Diese Verhöhnung der drangsalierten Demokratinnen und Demokraten in der Türkei ist schwerlich zu überbieten.

 

Merkel und Gabriel setzen auf einen »Dialog« mit dem Despoten, wohl wissend, dass er Krieg gegen die Kurden führt – wofür er aus Deutschland reichlich Waffen bekommt. Die Türkei ist im vergangenen Jahr von Platz 25 auf Platz 8 der Empfängerländer deutscher Waffen gestiegen. Der Rüstungskonzern Rheinmetall will seine Panzer jetzt direkt vor Ort bauen und dafür eine Fabrik hochziehen. Die Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen wird mittlerweile als Unterstützung des »Nein«-Lagers verkauft, gleichzeitig wird Erdoğan über Vor-Beitrittshilfen in Höhe von jährlich 630 Millionen Euro alimentiert. Und wenn einzelne Konservative oder Liberale einen Stopp der Verhandlungen fordern, dann nur, um gleichzeitig für eine engere Kooperation mit Ankara zu werben, etwa in Form einer Erweiterung der Zollunion. Erdoğans Türkei bleibe »für Deutschland ein schwieriger Partner, für Europa ein wichtiger Nachbar und für die NATO unser Flugzeugträger im Nahen Osten«, so der markige Dreisatz des FDP-Politikers und Vizepräsidenten des Europaparlaments, Alexander Graf Lambsdorff.

 

Massenverhaftungen und Pressefeindschaft zum Trotz – Erdoğan soll weiter wichtiger Partner zur Durchsetzung geopolitischer Interessen im Nahen Osten bleiben. Zuletzt haben US-Präsident Donald Trump und die Bundesregierung seine Regime-Change-Maxime für Syrien »Assad muss weg« (wieder) übernommen. Und schließlich soll das deutsche Kapital – siehe Rheinmetall – nicht um seine Profite in der Türkei gebracht werden.

 

Der innenpolitische Preis ist hoch, den Deutschland dafür zu zahlen hat. Immerhin haben am 16. April 63 Prozent der türkischen Wählerinnen und Wähler hierzulande für die Erdoğan-Diktatur gestimmt. Hier gibt es nichts kleinzurechnen oder zu rechtfertigen. Die hohe Zustimmung resultiert aus der Tatsache, dass Erdoğans Netzwerk in den vergangenen Jahren frei schalten und walten konnte, nicht zuletzt mit direkter Unterstützung der Bundesregierung. Es ist geradezu absurd, dass ausgerechnet Erdoğans Organisationen für die Integrationspolitik als Ansprechpartner genommen und etwa im Kanzleramt beim Integrationsgipfel oder im Bundesinnenministerium in der Deutschen Islamkonferenz hofiert werden. Hier wurde der Bock zum Gärtner gemacht, so wuchs der Zuspruch für den Autokraten und seine AKP in Deutschland von Abstimmung zu Abstimmung: Bei den türkischen Parlamentswahlen im Juni 2015 entfielen hierzulande auf die Islamisten rund 254.000 Stimmen; bei den Neuwahlen im November 2015 waren es bereits knapp 344.000. Der Verfassungsputsch gegen die Republik Türkei im April wurde mit 412.000 Stimmen aus der BRD unterstützt – zugespitzt: Während die Wählerinnen und Wähler in Istanbul, Ankara und Izmir Nein sagten, stimmten sie in Berlin, Hamburg und Köln mit Ja.

 

Die nach dem Referendum entfachte Debatte um den Doppelpass ist ein plumpes wie gefährliches Ablenkungsmanöver der politisch Verantwortlichen in Union und SPD von eigenen Fehlern. Deren Loyalität galt dem Despoten, nicht den Demokraten. Erdoğan gegenüber setzten sie auf Kuschelkurs, während der seine Kritiker die Knute spüren ließ.

 

Wir brauchen keine Ausgrenzungsdebatten in Deutschland, sondern einen radikalen Kurswechsel in der deutschen Türkeipolitik. Konkret: keine Waffen, keinen Euro, keine deutschen Soldaten mehr für Erdoğan. Dessen Netzwerke für Desintegration hierzulande müssen zerschlagen werden. AKP-Ableger und Lobbyorganisationen wie die UETD oder der von Ankara aus ferngesteuerte Moscheeverband DITIB dürfen nicht länger Freifahrtscheine haben. Der 16. April sollte hier allen die Augen für die Realität geöffnet haben.

 

Sevim Dağdelen ist Sprecherin für Internationale Beziehungen sowie Beauftragte für Migration und Integration der Fraktion Die Linke im Bundestag. Im Westend-Verlag ist von ihr das Buch »Der Fall Erdoğan. Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft« erschienen.