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Titel920

Erinnerungen an den Feindalarm  (Wolfgang Helfritsch)

An wissenschaftlichen Analysen und historischen Betrachtungen zum 75. Jahrestag der Zerschlagung des Faschismus und des Weltkriegsendes mangelt es nicht. Daher will ich lieber einige persönliche Eindrücke und Episoden beisteuern. Meine Erinnerungen an die 1940er Jahre werden durch meine ersten Jahre als Schüler und die Kriegsjahre geprägt. Dabei stellt der mit auf- und abschwellenden Heultönen verbundene und im April 1945 in meiner ostthüringischen Heimatstadt angekündigte »Feindalarm«, dessen Tonfülle ich jetzt noch akkurat nachahmen kann, eine besondere Ruptur dar.

 

Ich wurde im Jahre 1941 eingeschult. Der Unterricht in der von den Nazis dominierten, auf Gehorsam, Gefolgschaftstreue und den deutschen Endsieg ausgerichteten »Volksschule« verlief zunächst noch unter damals »normalen« Umständen. Nicht erfüllte Disziplin- und Leistungserwartungen wurden abgestraft. Manche Lehrer arbeiteten sich dabei konsequent an den Lieblingsärschen ihrer Schüler ab. Unsere Klassenlehrerin, eine schon bejahrte Dame, schlug nicht selbst zu, sondern überließ wie auch manch andere Lehrer die Ahndung gröberer Verstöße dem vom Direktor persönlich gehandhabten Rohrstock, weshalb sich vor dessen Sekretariat in der großen Pause gelegentlich Warteschlagen bildeten. Leichtere Verstöße quittierte Frau Haas mit dem verzweifelten Klageruf: »Ei, ei, ei! Wenn das unser Führer wüsste!« Dennoch hatten wir auch Lehrer, an die man sich gern erinnert, und in Bezug auf Grundrechenarten und grammatikalische und orthographische Regularien haben wir auch ohne digitale Hilfsmittel beachtliche und dauerhafte Kenntnisse und Fähigkeiten erworben. Ich erinnere mich auch an täglichen Frühsport vor Unterrichtsbeginn und an Fahnenappelle auf dem Schulhof, die beim Abgesang des »Deutschlandliedes« und des Hymnus »Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen, SA marschiert in gleichem Schritt und Tritt« mit hochgestrecktem Arm zu absolvieren waren. Und dann habe ich noch Klassenwanderungen in die nähere Umgebung im Gedächtnis, bei denen wir auf dem Rückweg Pferdeäppel in Tüten verstauten, um sie im Garten der Lehrerin einer weiteren sinnvollen Verwendung als Tomatendünger zuzuführen.

 

Wir lebten in einem Mietshaus mit Wasseranschluss und Falltoilette auf der halben Treppe, und unsere Eltern waren wie viele andere in der Textilindustrie beschäftigt. Dass sie arme Leute waren, war uns nicht bewusst. Am deutschen Endsieg zweifelten wir nicht, Führers Geburtstag war nicht unwichtiger als etwa Ostern oder Weihnachten, und vom Erbfeind Frankreich, vom Tommy und vom Iwan hielten wir das, was uns die Lehrer vorgaben. Dass unsere Feldgrauen die tapfersten der Welt waren, stand eh außer Zweifel und wurde durch die Aufgabenstellungen im Rechenunterricht bestätigt: »10 deutsche Soldaten nehmen 30 Russen gefangen – wieviel Russen hat jeder deutsche Soldat gefangen genommen?« In den »Sondermeldungen« der Kriegsberichterstattung hörten wir, dass schon wieder ein deutscher Gefreiter ein feindliches Kommando umzingelt hatte. Und am Sonntagnachmittag verfolgten wir in der Unterhaltungssendung »für unsere Kameraden zu Lande, zu Wasser und in der Luft« die stimmungsvollen Melodien.

 

1944/45 hatte sich die Lage wesentlich verändert. Aus einigen Schulen waren längst Lazarette geworden, andere hatte man zwecks Unterrichtsschichtung zusammengelegt. Etliche Mitschüler hatten ihre Väter verloren. Unser Klassenkamerad Herbert war stolz auf seinen Vater, der dem Führer, dem Vaterland und uns sein Leben geopfert hatte. Als er uns seinen letzten im Schützengraben gekrakelten Feldpostbrief vorlas, war der Schreiber schon 14 Tage vorher »gefallen«.

 

Mein Onkel Walter, den ich als stolzen Kavalleristen auf einem Foto bewundert hatte, starb an einem Bauchschuss, und meinen Onkel Hans traf es als Schiffsbäcker. Mein Berliner Onkel Fritz überlebte als Bootsmann eines Minensuchbootes und damit als Angehöriger eines »Himmelfahrtskommandos« zur allgemeinen Verwunderung den Krieg, seine Frau dagegen wurde im Berliner Luftschutzkeller von einem herabstürzenden Balken erschlagen.

 

Die Zivilbevölkerung litt unter der Rationierung, unter der Einführung von Karten für Lebensmittel und Bezugsscheinen für Bedarfsartikel vom Schnürschuh bis zur übelriechenden graukörnigen Tonseife. Dazu kamen immer häufigere Bombenangriffe mit im Keller verbrachten Nächten voller Lebensangst und mit zerstörten Fabriken und Wohnhäusern in der Nachbarschaft. Der »Luftschutzwart« unseres Hauses, eine Frau Arzberger, hatte die Verdunklung der Fenster zu überwachen und dafür zu sorgen, dass nach der Alarmauslösung niemand in der Wohnung blieb. Da sich in der Nähe die Stadt Plauen mit einer ausgedehnten Rüstungsindustrie befand, warfen die Flieger übriggebliebene Bomben nicht selten über Nachbarorten ab, was auch in unserer Umgebung zu Toten, Verletzten und Ruinen führte. Die Züge verkehrten seltener, dafür aber mit der Aufschrift »Räder müssen rollen für den Sieg!« Auf Plakaten wurde »Pst! Feind hört mit!« gemahnt und vor »Verrat« gewarnt. Etliche Kirchengemeinden opferten ihre Glocken, um Metall für den Waffen-Nachschub zu erschmelzen.

 

Der Schulunterricht wurde in die Speiseräume von Betrieben verlegt, da weitere Schulgebäude zu Lazaretten umfunktioniert worden waren. Immer häufiger kam es vor, dass Schulstunden wegen eines Bombenalarms abgebrochen wurden. Wenn die Zeit für den Heimweg zu knapp war, mussten wir die nächstgelegenen »LSR« – Luftschutzräume – aufsuchen und dort die »Entwarnung« abwarten. Die Abkürzung »LSR« befand sich in großer Schrift an allen Gebäuden und wurde nach einem scheuen Seitenblick und flüsternd auch mit »Lasst Stalin rein« oder »Lernt schnell russisch« übersetzt. Uns war bewusst, dass die Weitergabe solcher Interpretationen wie auch das »Abhören von Feindsendern« – das geschah meistens per »Goebbels-Schnauze«, einem Telefunken-Empfänger – mit strengen Strafen bis zum Tode geahndet werden konnte. Der Überwachungsapparat hatte sich weiter vervollkommnet. Er erstreckte sich von offiziellen Behörden und Nazi-Organisationen über Block- und Luftschutzwarte bis zu den Verteilern der immer dürftiger werdenden Lebensmittelabschnitte.

 

Um alle Reserven für den Endsieg auszuschöpfen, wurden 15-jährige Jugendliche der 6. Armee unter Führung des Generals Wenck zugeordnet, der der Roten Armee noch vor den Toren Berlins die entscheidende Niederlage beibringen sollte. Die Schülerstruktur hatte sich in den letzten Kriegsjahren verändert, da Großstädter mit ihren Kindern zeitweise in weniger kriegsbedrohte Orte zu Verwandten gezogen waren. Manchmal wurden elternlose oder durch den Krieg vertriebene Kinder ebenfalls in die Klassen eingegliedert. In unserem 4. Jahrgang betraf das auch einen Jungen, der durch Bomben beide Unterarme verloren hatte. Wir bewunderten ihn, weil er sich trotz seiner Behinderung gut zu wehren verstand. Überhaupt waren Begegnungen und der Umgang mit Kriegsverletzten fast zu einer Normalität des Lebens geworden. Amputierte und Blinde bestimmten das Straßenbild.

 

Durch den Besuch bei Tante Frida wurde ich mit einem weiteren Erscheinungsbild der Nazizeit konfrontiert: Der Ehemann der Großtante litt an einer psychischen Erkrankung und wurde zwangsweise in ein Heim gebracht, aus dem er nie zurückkehrte. Tante Frida setzte ergebnislos alle möglichen Hebel in Bewegung, um ihn nach Hause zurückzuholen beziehungsweise später seine Todesumstände zu erfahren. Als sie keine Ruhe gab, wurde ihr ebenfalls mit einer Einweisung gedroht. Hinter vorgehaltener Hand sprach sich unter Bekannten herum, dass Nazigegner in Konzentrationslagern gefangen gehalten, gequält und umgebracht wurden.

 

Anfang April trafen nochmals Verwundetenzüge auf den Greizer Bahnhöfen ein, aus denen schwerverletzte Soldaten in die Lazarette transportiert wurden. In Marsch- und Autokolonnen fluteten Soldaten im Rückzug von der Ostfront in Richtung Westen durch die Straßen. Wir standen am Rand, winkten ihnen zu und glaubten, dass die Vergeltungsraketen V2 und V3 nun bald zum Einsatz kommen und den Endsieg gewährleisten würden. Zur selben Zeit verkündete der Rundfunk, dass »der Führer« in Berlin beim Endkampf um Deutschlands Sieg tapfer »in der vordersten Reihe« gefallen sei.

 

In der Zwischenzeit waren Verbände der US Army vom Westen her in den Thüringer Raum gelangt und hatten Stellungen auf den Hügeln um die Stadt bezogen, während die Eisenbahnviadukte und Elsterbrücken gesprengt und die Omnibusse vom Kraftverkehr quer in die Straßen gefahren wurden, um den Endsieg zu unterstützen und den weiteren Vormarsch des Feindes zu verhindern.

 

Das war nach meiner Erinnerung die Situation, in der an einem Tage im April 1945 das Signal zum Feindalarm ertönte. Wir verbrachten mehrere Tage und Nächte im Keller, was uns Kindern einerseits Angst machte, uns aber zugleich als großes Abenteuer erschien. In die Häuser neben uns schlugen Granaten ein, was dazu führte, dass der vorbereitete Durchbruch zum Nachbargebäude geöffnet werden musste. Aus den dichten Staubwolken schälten sich die Nachbarn heraus. Als wir den Keller wieder verlassen durften, bot sich uns ein gespenstisches Bild dar. Im nächtlichen Himmel widerspiegelten sich die Feuer der brennenden Fabriken, auf den Straßen lagen durch den Luftdruck aus den Angeln gerissene Türen und Fenster nebst unzähligen Scherben, und dazwischen befanden sich etliche verletzte oder getötete Personen, um die sich diejenigen kümmerten, die noch dazu in der Lage waren.

 

Jeeps mit US-Soldaten durchfuhren die Straßen, verteilten an die Kinder Chewing Gum und übernahmen kurzzeitig Verwaltungsaufgaben. Was sich erst nach Tagen herausstellte, war der Versuch des Stadtkommandanten Hauptmann von Westernhagen, die Stadt kampflos zu übergeben. Er wurde von einer SS-Patrouille erschossen. Von dem Ereignis zeugt eine hölzerne Gedenktafel am Marktplatz. Als ich mit meiner Tochter im Jahre 2013 vor dem Mahnmal stand, fiel uns zweierlei auf: ein davor liegendes Blumengebinde und die in den Holzschaft eingeritzte Inschrift »Feigling«.

 

Eines Tages hielt ein Jeep vor unserem Haus, und ich wurde beauftragt, die Tür zu öffnen. Einer der drei amerikanischen Insassen fragte mich, wer ich sei. Auf meine Antwort reagierte er mit dem Satz: »Ich bin dein Onkel!« Das war zwar nicht korrekt, aber mein Cousin war er allemal, nämlich der Sohn meiner in den Inflationsjahren in die USA ausgewanderten Tante Else. Er war einberufen und im oberfränkischen Helmbrechts eingesetzt worden, besuchte uns nunmehr an jedem Wochenende und ergänzte unseren Lebensmittelfundus. Eines Tages teilte er uns mit, dass die Russen das Besatzungsgebiet übernehmen und die Amis sich nach Bayern zurückziehen würden. Er verband das mit dem Angebot, unsere Familie dorthin mitzunehmen. Wären meine Eltern darauf eingegangen, wäre ich statt 1990 bereits 1949 Bundesbürger geworden und hätte mir den Umweg mit allen sich daraus ergebenden Chancen und Komplikationen ersparen können.

 

Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, an dem die Rote Armee die Verwaltungsgeschäfte übernahm. Kommunisten und mit ihnen verbundene Antifaschisten und Demokraten aller Couleur hatten die Bevölkerung dazu aufgerufen, die neue Besatzungsmacht mit roten Fahnen zu begrüßen. So geschah es auch, und die Frage, woher plötzlich die zahlreichen roten Fahnen kamen, beantwortete sich beim genaueren Hinsehen: In den Tüchern hob sich ein dunklerer Kreis ab, auf dem sich vorher das Hakenkreuz befunden hatte.

 

In den Sommermonaten wurden alle Schulpflichtigen erfasst, da der Unterricht im Herbst wieder aufgenommen werden sollte. Alle als Nazis bekannten Lehrer wurden entlassen und durch »Neulehrer« ersetzt; das heißt durch Quereinsteiger. Nicht alle eigneten sich für die ungewohnte Tätigkeit, aber viele bewährten sich später als Direktoren und pädagogische Wissenschaftler und verhalfen dem Beruf zu einem guten Image. Deshalb kann ich auch die Voreingenommenheit nicht teilen, mit der heute beruflichen Quereinsteigern begegnet wird.

 

Eine der übernommenen Pädagoginnen war übrigens wiederum Frau Haas, die den Terminus »Ei, ei, ei! Wenn das unser Führer wüsste!« bei Disziplinproblemen durch den Klagesatz »Ei, ei, ei! Das soll nun unsere neue demokratische Jugend sein?« ersetzte.

 

Die vorherrschende Stimmung war die einmütige Haltung gegen den Völkermord. »Lieber Hunger und Mangel, aber nie wieder Krieg!« skandierten die, die das Chaos überlebt hatten. Deshalb wurde dem Einkassieren von Kriegsspielzeug in den Haushalten auch großes Verständnis entgegengebracht. Meine Führerfigur mit dem durch ständiges Erheben ausgeleierten rechten Arm und mein Granatwerfer-Modell, mit dem ich erfolgreich eine der letzten Glühbirnen in der Küche ausgeschossen hatte, gehörten auch zu den Einbringseln des Friedenswillens.

 

In den 75 Jahren nach dem »Feindalarm« ist mancherlei geschehen. Menschen lernen wenig voneinander, und jede Generation will und muss ihre Fehler selber machen. »Man kann auf einem Standpunkt stehen«, wusste einst Weltbühne-Autor Erich Kästner, »aber man sollte nicht darauf sitzen.« Jeder – das möchte ich ergänzen – sollte jedoch Alarmsignale in der Umgebung und in sich hören und darauf sensibel reagieren. Und jeder sollte das Recht haben, dabei auch Fehler zu machen – ich wollte, ich hätte auch einen …