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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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1 zu 1 statt 141 zu 40

Die Tra­gö­die, die sich der­zeit inner­halb der frü­he­ren Sowjet­re­pu­bli­ken ent­fal­tet, führt in den Län­dern der EU und der USA nicht nur zu einer seit den 1950er Jah­ren nicht gekann­ten Auf­rü­stungs­wel­le, son­dern auch zu einem Sank­ti­ons­re­gime, des­sen Ziel der amtie­ren­de Vor­sit­zen­de des EU-Rates der Finanz­mi­ni­ster, Frank­reichs Res­sort­chef Bru­no Le Mai­re, so beschrieb: »Wir wer­den einen voll­stän­di­gen wirt­schaft­li­chen und finan­zi­el­len Krieg gegen Russ­land füh­ren« – »Russ­land wird lei­den, Euro­pa nicht.« Allen­falls sei im Westen mit höhe­ren Gas­prei­sen und folg­lich mit »ein wenig mehr Infla­ti­on« zu rech­nen, aber: »Das rus­si­sche Finanz­sy­stem wird unter unse­ren Augen zusammenbrechen.«

Als Beleg für die angeb­lich völ­li­ge Iso­la­ti­on Russ­lands und damit als Garan­tie für das Gelin­gen des Wirt­schafts­krie­ges wird hier­zu­lan­de vor allem die Abstim­mung der UN-Voll­ver­samm­lung vom 2. März gewer­tet. Dort hat­ten sich 141 Staa­ten hin­ter einer auch von Deutsch­lands Außen­mi­ni­ster Anna­le­na Baer­bock ener­gisch vor­an­ge­trie­be­nen Reso­lu­ti­on ver­sam­melt, in der – ohne jede Nen­nung bei­spiels­wei­se der Rech­te der Don­bass-Repu­bli­ken auf Auto­no­mie – Russ­lands Angriff »aufs Schärf­ste« ver­ur­teilt und der sofor­ti­ge, bedin­gungs­lo­se Rück­zug sei­ner Trup­pen gefor­dert wird. Ledig­lich fünf Staa­ten hät­ten bei 35 Ent­hal­tun­gen dage­gen gestimmt.

Wer sich die Mühe macht, die Ein­woh­ner­zahl der Staa­ten zusam­men­zu­zäh­len, die der Reso­lu­ti­on nicht zuge­stimmt haben, wird die Eupho­rie Le Mai­res nicht tei­len kön­nen. Schon die bevöl­ke­rungs­reich­sten ersten fünf – Chi­na, Indi­en, Paki­stan, Ban­gla­desch und Viet­nam – haben zusam­men mit 3,3 Mil­li­ar­den Ein­woh­nern und damit poten­ti­el­len Han­dels­part­nern für rus­si­sche Waren deut­lich mehr Ein­woh­ner als die USA und die EU zusam­men. Die vier­zig Staa­ten, die sich weder an der »schärf­sten« Ver­ur­tei­lung Russ­lands noch an Sank­tio­nen betei­li­gen, haben zusam­men rund vier Mil­li­ar­den Ein­woh­ner. Die Welt ist nicht im Ver­hält­nis 141 zu 40 geteilt, son­dern ziem­lich genau in zwei gleich gro­ße Hälf­ten – also 1 zu 1.

Rea­li­sti­scher als das Jubel­ge­schrei über den unmit­tel­bar bevor­ste­hen­den Zusam­men­bruch Russ­lands ist denn wohl auch die Ein­sicht, die die FAZ am 4. März hin­ten im Wirt­schafts­teil in die Über­schrift klei­de­te »Sank­tio­nen wir­ken – auch hier«. Nicht nur die seit lan­gem schon stei­gen­den Ener­gie­prei­se schie­ßen gera­de durch die Decke – auch die 100 Mil­li­ar­den für neue Waf­fen oder die vom Wirt­schafts­mi­ni­ster Robert Habeck ver­spro­che­nen Kom­pen­sa­tio­nen für Ver­lu­ste der deut­schen Unter­neh­men für ent­gan­ge­ne Russ­land-Geschäf­te in Höhe von wenig­stens 20 Mil­li­ar­den Euro wer­den schon bald zu spür­ba­ren Ein­schnit­ten für den All­tag von Mil­lio­nen Men­schen in unse­rem Land führen.

Gewarnt vor den zwei­schnei­di­gen Wir­kun­gen die­ses Wirt­schafts­krie­ges waren alle, die lesen kön­nen. In einem der wich­tig­sten Selbst­ver­stän­di­gungs­or­ga­ne der Herr­schen­den, dem Lon­do­ner Eco­no­mist, war bereits am 19. Febru­ar die Zusam­men­fas­sung eines umfas­sen­den Wer­kes von Nico­las Muld­er von der Cor­nell Uni­ver­si­ty über die Wir­kung von Sank­tio­nen zu lesen, die auf zwei »Lek­tio­nen« hin­aus­lief: Erstens haben die mei­sten Sank­tio­nen »nicht gewirkt« und zwei­tens hat­ten sie »oft uner­war­te­te Kon­se­quen­zen«. Eine davon wird wahr­schein­lich die Stär­kung der Wirt­schafts­be­zie­hun­gen Russ­lands mit den 4 Mil­li­ar­den Men­schen sein, die die Sank­ti­ons­wel­le nicht mitmachen.

Kapi­ta­lis­mus wäre nicht Kapi­ta­lis­mus, wür­den nicht jetzt schon eini­ge die Chan­cen in die­ser kom­men­den Zwei­tei­lung der glo­ba­len Wirt­schaft (viel­leicht mit Chi­na als dem Schar­nier zwi­schen bei­den Blöcken) wit­tern. Dar­auf deu­tet jeden­falls ein auf­schluss­rei­ches Inter­view mit Andre­as Lip­kow in der­sel­ben FAZ hin, die vor­ne die UN-Abstim­mung beju­belt. Ange­spro­chen auf die anhal­ten­den »Bewe­gun­gen« bei rus­si­schen Akti­en und gefragt, wie das denn mit den Sank­ti­ons­be­schlüs­sen zusam­men­pas­se, war die nüch­ter­ne Ant­wort die­ses Bör­sen­pro­fis: »Es gibt Anle­ger, die auf sol­che Han­dels­si­tua­tio­nen spe­zia­li­siert sind. Sie legen einen Abschlag fest und schau­en, was der Rest­kon­zern nach einer vor­her fest­ge­leg­ten Zeit­pe­ri­ode noch wert sein müss­te. Das ist ein sehr spe­ku­la­ti­ves Geschäft mit hohen Gewinn­chan­cen, sofern es aufgeht.«

Das Spiel hat erst ange­fan­gen. Wer es gewinnt, steht noch nicht fest. Fest ste­hen nur die Ver­lie­rer: Das wären Lohn­ab­hän­gi­ge, Rent­ner, Stu­die­ren­de und Arbeits­lo­se von Lis­sa­bon bis Wla­di­wo­stok, wenn sie den Kurs auf Hoch­rü­stung und Wirt­schafts­krieg nicht stoppen.