Auch Dich haben sie schon immer belogen, so wie sie es heute mit uns immer noch tun … Diese höchst aktuellen Zeilen stammen aus dem Refrain eines englischen Antikriegsliedes mit dem deutschen Titel: Es ist an der Zeit. Es bezieht sich ursprünglich auf Gefallene des 1. Weltkrieges, die zu Tausenden anonym auf einem Soldatenfriedhof in Frankreich begraben sind. Dieser berührende Song, ursprünglich von dem Australier Eric Bogle geschrieben, ist auf YouTube, von Mey, Wader und Wecker gesungen, jederzeit zu hören.
Wie kommt es zu solchen Lügen, wie gelingt es, ganze Völker, gerade junge Männer seit jeher »kriegsbereit« zu machen, um ihr kurzes Leben in imperialen Kriegen sinnlos zu opfern?
Es ist dazu aufschlussreich, sich eingangs mit dem griechischen Mythos über das tragische Schicksal von »Europa« auf neue Weise zu beschäftigen. Bekanntlich ging der Name »Europa« aus einer ziemlich gewalttätigen, imperialen »Erzählung« hervor: Der griechische Göttervater Zeus habe, verkleidet als weißer Stier, die sexuell begehrte, phönizische, also nicht griechische »Europa«, von der Ostküste des Mittelmeeres verzaubert, um sie durch eine listige Lüge zu erobern. Sie stieg, so naiv wie sie war, auf den interessanten »weißen Stier« und wurde so ins griechische Kreta entführt. Dieser Mythos der tragisch überwältigten, ja, vergewaltigten Europa durch den griechischen Göttervater Zeus symbolisiert die imperiale Eroberungsgeschichte des Kontinents bis heute auf exemplarische Weise. War es nicht eine Kette von unzähligen Eroberungskriegen, aus der der multinationale Kontinent Europa hervorgegangen ist? Versuchten die verschiedenen europäischen Herrscher vieler Nationen nicht immer wieder, ihre eigenen Landsleute für ihre Eroberungsfeldzüge, zunächst innerhalb Europas, zu instrumentalisieren, sie also zu belügen, um durch deren Opfer auch andere Völker untertan zu machen, um sie zu missbrauchen, zu beherrschen und auszubeuten? Immer wieder geschah das mit der arroganten Verführungslüge, dass es dadurch allen, auch den besiegten, feindlichen Völkern besser gehen würde!
Waren es nicht darüber hinaus christliche, weiße Eroberer, die auf diese Weise versuchten, auch den Völkern auf anderen Kontinenten ihren Willen aufzuzwingen, um sie auszuplündern, angeblich, weil es »Gottes Wille« war, diese »Barbaren«, die ungläubigen »Fremden« zu »beglücken« und zu »kultivieren«? Diese zumeist mit Völkermorden verbundene Kolonialgeschichte, finanzierten bekanntlich die herrschenden Oberschichten, die die »Entdecker«, Soldaten und Kaufleute, etwa aus Skandinavien, Portugal, Spanien, England, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Dänemark, Russland, später auch Deutschland, zu den Eroberungen antrieben – gipfelnd im 1. und 2. Weltkrieg. Hier erfolgten die Völkermorde nunmehr mit industriellen Methoden des 20. Jahrhunderts auf den Schlachtfeldern des Krieges und in den Gaskammern der Konzentrationslager.
Seit 1945 sind es die weißen, einst europäischen amerikanischen Herrscher, die als wirtschaftliche, mediale und militärische Führungsmacht, die einst führenden europäischen Kolonialmächte anführen. Ihre gemeinsame globale Dominanz, gipfelte im Militärbündnis der Nato, aber auch in der EU, mit der Selbsttäuschung und Lüge, dass nur das westliche Gesellschaftssystem »Frieden«, »Freiheit«, »Demokratie« und »Wohlstand« auf der ganzen Welt durchsetzen und garantieren könnte. Die Verführungskraft dieser Ideologie besteht darin, dass ja der universelle Reichtum des Westens, auf der Ausplünderung der eigenen und vor allem der fremden Völker seit den großen kontinentalen Entdeckungen beruht. Schon bei den alten Griechen entsprang das einer nationalistischen Hybris. Dieser Nationalismus suggeriert eine westliche Überlegenheit und soll die Völker über die Tatsache hinwegtäuschen, dass es insbesondere die wohlhabenden Oberschichten sind, die von dieser imperialen, heute »neoliberalen« Globalpolitik profitieren, während die Mehrheit der Menschen, der eigenen und fremden Bevölkerungen, dafür vielfach in prekären, unsicheren Arbeits- und Lebensbedingungen ihren Alltag bestreiten müssen. Diese Kolonialgeschichte wohlhabender, weißer Europäer ist bis heute in keiner Weise selbstkritisch aufgearbeitet und kann auch deshalb vorerst nicht beendet werden, trotz einer globalen, widersprüchlichen Unabhängigkeitsbewegung seit der russischen und chinesischen Revolution.
Die verlogene, nationalistische, neokoloniale Herrschaftsideologie und -Praxis des Westens lässt sich auch im Ukraine- und Israel-Konflikt nachweisen: Die mühsam erarbeitete Entspannungspolitik, gipfelnd in der »Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)«, den Ostverträgen und schließlich der 2 plus 4 Vereinbarung, die alle zur deutschen Wiedervereinigung beitrugen, wurden mit der Zusage an den blauäugigen Gorbatschow erreicht, dass die Nato danach nicht weiter nach Osten erweitert würde. Man ließ ihn in dem naiven Glauben, nun könne, nach dem »Kalten Krieg«, das friedliche »Gemeinsame Haus Europa« entstehen und die geschwächte Sowjetunion sich durch innere Reformen und Kooperation mit dem Westen endlich erneuern und stärken. Doch Bush sagte indes zu Kohl bereits im Februar 1990: »Wir haben gesiegt und sie nicht. Wir können nicht zulassen, dass die Sowjets ihre Niederlage in einen Sieg verwandeln. (…) Wir werden das Spiel gewinnen, aber wir müssen uns dabei clever anstellen.« (Zeus lässt grüßen!) So kam es zur Nato-Osterweiterung, schließlich zu radikalen, westlichen Regime-Wechseln in ganz Osteuropa und auch durch einen Putsch in der Ukraine, mit einer nationalistischen Separierung und sogar Ermordung, von der dort zugleich lebenden russischen Bevölkerung und dem Ignorieren der Jahrhunderte langen Verbindungen mit Russland.
Auch die Geschichte Israels beruht, spätestens seit 1947, auf einem wiederum hauptsächlich vom Westen unterstützten nationalistischen Projekt, das zur Errichtung eines jüdischen Separat-Staates, auf Kosten der dort zugleich seit vielen Jahrhunderten lebenden arabischen Bevölkerung, führte und diese blutige Gewaltspirale bis heute auslöste. Theodor Herzl schrieb, um für seine Idee eines jüdischen Staates einst zu werben: »Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen.« Und in einer Rede von 1938 sagte der spätere Präsident Israels, David Ben-Gurion: »Verschließen wir nicht die Augen vor der Wahrheit: Politisch gesehen sind wir die Aggressoren, und sie verteidigen sich. Dieses Land ist ihres, weil sie darin wohnen, während wir herkommen, um uns darin niederzulassen. Und von ihrem Gesichtspunkt aus haben wir vor, sie aus ihrem eigenen Land zu vertreiben.«
So verständlich, bei aller Unterschiedlichkeit der traumatischen Geschichtserfahrungen von jüdischen Israelis und Ukrainern ihr Recht auf staatliche Unabhängigkeit auch sein mag: Der Weg eines radikalen Nationalismus und Separatismus, nach dem Vorbild westlicher Kolonisatoren, auf Kosten anderer ethnischer Bevölkerungsteile, die dort auch seit Jahrhunderten lebten konnte in beiden Fällen keine friedliche Koexistenz zum Nutzen aller Ethnien hervorbringen, sondern gestaltet sich bis heute blutig, auch zum Nachteil der eigenen Bevölkerung und der Zerstörung ihrer neuen Heimat! Diese selbstzerstörerischen Kriegsspiralen sind tragische Spätfolgen von traumatischen Kolonialerfahrungen aller Seiten. Die Beendigung der reaktionären Neokolonialgeschichte in einer multiethnischen Welt war, ist und bleibt, die Voraussetzung für eine friedliche neue Weltordnung, entsprechend dem Geist und Buchstaben der UN-Charta. Dafür gilt es weiterhin in den Klassen- und Friedenskämpfen unserer Tage täglich zu ringen. Nicht weniger als die Existenz allen Lebens auf unserer Erde steht dabei inzwischen auf dem Spiel. In der letzten Strophe des eingangs erwähnten Liedes heißt es deshalb unmissverständlich
Für den Frieden zu kämpfen und wachsam zu sein:
Fällt die Menschheit noch einmal auf Lügen herein
Dann kann es geschehen, dass bald niemand mehr lebt,
niemand, der die Milliarden von Toten begräbt.
Doch finden sich mehr und mehr Menschen bereit,
diesen Krieg zu verhindern, es ist an der Zeit!