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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Westliche Kolonialgeschichte

Auch Dich haben sie schon immer belo­gen, so wie sie es heu­te mit uns immer noch tun … Die­se höchst aktu­el­len Zei­len stam­men aus dem Refrain eines eng­li­schen Anti­kriegs­lie­des mit dem deut­schen Titel: Es ist an der Zeit. Es bezieht sich ursprüng­lich auf Gefal­le­ne des 1. Welt­krie­ges, die zu Tau­sen­den anonym auf einem Sol­da­ten­fried­hof in Frank­reich begra­ben sind. Die­ser berüh­ren­de Song, ursprüng­lich von dem Austra­li­er Eric Bog­le geschrie­ben, ist auf You­Tube, von Mey, Wader und Wecker gesun­gen, jeder­zeit zu hören.

Wie kommt es zu sol­chen Lügen, wie gelingt es, gan­ze Völ­ker, gera­de jun­ge Män­ner seit jeher »kriegs­be­reit« zu machen, um ihr kur­zes Leben in impe­ria­len Krie­gen sinn­los zu opfern?

Es ist dazu auf­schluss­reich, sich ein­gangs mit dem grie­chi­schen Mythos über das tra­gi­sche Schick­sal von »Euro­pa« auf neue Wei­se zu beschäf­ti­gen. Bekannt­lich ging der Name »Euro­pa« aus einer ziem­lich gewalt­tä­ti­gen, impe­ria­len »Erzäh­lung« her­vor: Der grie­chi­sche Göt­ter­va­ter Zeus habe, ver­klei­det als wei­ßer Stier, die sexu­ell begehr­te, phö­ni­zi­sche, also nicht grie­chi­sche »Euro­pa«, von der Ost­kü­ste des Mit­tel­mee­res ver­zau­bert, um sie durch eine listi­ge Lüge zu erobern. Sie stieg, so naiv wie sie war, auf den inter­es­san­ten »wei­ßen Stier« und wur­de so ins grie­chi­sche Kre­ta ent­führt. Die­ser Mythos der tra­gisch über­wäl­tig­ten, ja, ver­ge­wal­tig­ten Euro­pa durch den grie­chi­schen Göt­ter­va­ter Zeus sym­bo­li­siert die impe­ria­le Erobe­rungs­ge­schich­te des Kon­ti­nents bis heu­te auf exem­pla­ri­sche Wei­se. War es nicht eine Ket­te von unzäh­li­gen Erobe­rungs­krie­gen, aus der der mul­ti­na­tio­na­le Kon­ti­nent Euro­pa her­vor­ge­gan­gen ist? Ver­such­ten die ver­schie­de­nen euro­päi­schen Herr­scher vie­ler Natio­nen nicht immer wie­der, ihre eige­nen Lands­leu­te für ihre Erobe­rungs­feld­zü­ge, zunächst inner­halb Euro­pas, zu instru­men­ta­li­sie­ren, sie also zu belü­gen, um durch deren Opfer auch ande­re Völ­ker unter­tan zu machen, um sie zu miss­brau­chen, zu beherr­schen und aus­zu­beu­ten? Immer wie­der geschah das mit der arro­gan­ten Ver­füh­rungs­lü­ge, dass es dadurch allen, auch den besieg­ten, feind­li­chen Völ­kern bes­ser gehen würde!

Waren es nicht dar­über hin­aus christ­li­che, wei­ße Erobe­rer, die auf die­se Wei­se ver­such­ten, auch den Völ­kern auf ande­ren Kon­ti­nen­ten ihren Wil­len auf­zu­zwin­gen, um sie aus­zu­plün­dern, angeb­lich, weil es »Got­tes Wil­le« war, die­se »Bar­ba­ren«, die ungläu­bi­gen »Frem­den« zu »beglücken« und zu »kul­ti­vie­ren«? Die­se zumeist mit Völ­ker­mor­den ver­bun­de­ne Kolo­ni­al­ge­schich­te, finan­zier­ten bekannt­lich die herr­schen­den Ober­schich­ten, die die »Ent­decker«, Sol­da­ten und Kauf­leu­te, etwa aus Skan­di­na­vi­en, Por­tu­gal, Spa­ni­en, Eng­land, Frank­reich, den Nie­der­lan­den, Bel­gi­en, Däne­mark, Russ­land, spä­ter auch Deutsch­land, zu den Erobe­run­gen antrie­ben – gip­felnd im 1. und 2. Welt­krieg. Hier erfolg­ten die Völ­ker­mor­de nun­mehr mit indu­stri­el­len Metho­den des 20. Jahr­hun­derts auf den Schlacht­fel­dern des Krie­ges und in den Gas­kam­mern der Konzentrationslager.

Seit 1945 sind es die wei­ßen, einst euro­päi­schen ame­ri­ka­ni­schen Herr­scher, die als wirt­schaft­li­che, media­le und mili­tä­ri­sche Füh­rungs­macht, die einst füh­ren­den euro­päi­schen Kolo­ni­al­mäch­te anfüh­ren. Ihre gemein­sa­me glo­ba­le Domi­nanz, gip­fel­te im Mili­tär­bünd­nis der Nato, aber auch in der EU, mit der Selbst­täu­schung und Lüge, dass nur das west­li­che Gesell­schafts­sy­stem »Frie­den«, »Frei­heit«, »Demo­kra­tie« und »Wohl­stand« auf der gan­zen Welt durch­set­zen und garan­tie­ren könn­te. Die Ver­füh­rungs­kraft die­ser Ideo­lo­gie besteht dar­in, dass ja der uni­ver­sel­le Reich­tum des Westens, auf der Aus­plün­de­rung der eige­nen und vor allem der frem­den Völ­ker seit den gro­ßen kon­ti­nen­ta­len Ent­deckun­gen beruht. Schon bei den alten Grie­chen ent­sprang das einer natio­na­li­sti­schen Hybris. Die­ser Natio­na­lis­mus sug­ge­riert eine west­li­che Über­le­gen­heit und soll die Völ­ker über die Tat­sa­che hin­weg­täu­schen, dass es ins­be­son­de­re die wohl­ha­ben­den Ober­schich­ten sind, die von die­ser impe­ria­len, heu­te »neo­li­be­ra­len« Glo­bal­po­li­tik pro­fi­tie­ren, wäh­rend die Mehr­heit der Men­schen, der eige­nen und frem­den Bevöl­ke­run­gen, dafür viel­fach in pre­kä­ren, unsi­che­ren Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen ihren All­tag bestrei­ten müs­sen. Die­se Kolo­ni­al­ge­schich­te wohl­ha­ben­der, wei­ßer Euro­pä­er ist bis heu­te in kei­ner Wei­se selbst­kri­tisch auf­ge­ar­bei­tet und kann auch des­halb vor­erst nicht been­det wer­den, trotz einer glo­ba­len, wider­sprüch­li­chen Unab­hän­gig­keits­be­we­gung seit der rus­si­schen und chi­ne­si­schen Revolution.

Die ver­lo­ge­ne, natio­na­li­sti­sche, neo­ko­lo­nia­le Herr­schafts­ideo­lo­gie und -Pra­xis des Westens lässt sich auch im Ukrai­ne- und Isra­el-Kon­flikt nach­wei­sen: Die müh­sam erar­bei­te­te Ent­span­nungs­po­li­tik, gip­felnd in der »Kon­fe­renz für Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit in Euro­pa (KSZE)«, den Ost­ver­trä­gen und schließ­lich der 2 plus 4 Ver­ein­ba­rung, die alle zur deut­schen Wie­der­ver­ei­ni­gung bei­tru­gen, wur­den mit der Zusa­ge an den blau­äu­gi­gen Gor­bat­schow erreicht, dass die Nato danach nicht wei­ter nach Osten erwei­tert wür­de. Man ließ ihn in dem nai­ven Glau­ben, nun kön­ne, nach dem »Kal­ten Krieg«, das fried­li­che »Gemein­sa­me Haus Euro­pa« ent­ste­hen und die geschwäch­te Sowjet­uni­on sich durch inne­re Refor­men und Koope­ra­ti­on mit dem Westen end­lich erneu­ern und stär­ken. Doch Bush sag­te indes zu Kohl bereits im Febru­ar 1990: »Wir haben gesiegt und sie nicht. Wir kön­nen nicht zulas­sen, dass die Sowjets ihre Nie­der­la­ge in einen Sieg ver­wan­deln. (…) Wir wer­den das Spiel gewin­nen, aber wir müs­sen uns dabei cle­ver anstel­len.« (Zeus lässt grü­ßen!) So kam es zur Nato-Ost­erwei­te­rung, schließ­lich zu radi­ka­len, west­li­chen Regime-Wech­seln in ganz Ost­eu­ro­pa und auch durch einen Putsch in der Ukrai­ne, mit einer natio­na­li­sti­schen Sepa­rie­rung und sogar Ermor­dung, von der dort zugleich leben­den rus­si­schen Bevöl­ke­rung und dem Igno­rie­ren der Jahr­hun­der­te lan­gen Ver­bin­dun­gen mit Russland.

Auch die Geschich­te Isra­els beruht, spä­te­stens seit 1947, auf einem wie­der­um haupt­säch­lich vom Westen unter­stütz­ten natio­na­li­sti­schen Pro­jekt, das zur Errich­tung eines jüdi­schen Sepa­rat-Staa­tes, auf Kosten der dort zugleich seit vie­len Jahr­hun­der­ten leben­den ara­bi­schen Bevöl­ke­rung, führ­te und die­se blu­ti­ge Gewalt­spi­ra­le bis heu­te aus­lö­ste. Theo­dor Herzl schrieb, um für sei­ne Idee eines jüdi­schen Staa­tes einst zu wer­ben: »Für Euro­pa wür­den wir dort ein Stück des Wal­les gegen Asi­en bil­den, wir wür­den den Vor­po­sten­dienst der Kul­tur gegen die Bar­ba­rei besor­gen.« Und in einer Rede von 1938 sag­te der spä­te­re Prä­si­dent Isra­els, David Ben-Guri­on: »Ver­schlie­ßen wir nicht die Augen vor der Wahr­heit: Poli­tisch gese­hen sind wir die Aggres­so­ren, und sie ver­tei­di­gen sich. Die­ses Land ist ihres, weil sie dar­in woh­nen, wäh­rend wir her­kom­men, um uns dar­in nie­der­zu­las­sen. Und von ihrem Gesichts­punkt aus haben wir vor, sie aus ihrem eige­nen Land zu vertreiben.«

So ver­ständ­lich, bei aller Unter­schied­lich­keit der trau­ma­ti­schen Geschichts­er­fah­run­gen von jüdi­schen Israe­lis und Ukrai­nern ihr Recht auf staat­li­che Unab­hän­gig­keit auch sein mag: Der Weg eines radi­ka­len Natio­na­lis­mus und Sepa­ra­tis­mus, nach dem Vor­bild west­li­cher Kolo­ni­sa­to­ren, auf Kosten ande­rer eth­ni­scher Bevöl­ke­rungs­tei­le, die dort auch seit Jahr­hun­der­ten leb­ten konn­te in bei­den Fäl­len kei­ne fried­li­che Koexi­stenz zum Nut­zen aller Eth­ni­en her­vor­brin­gen, son­dern gestal­tet sich bis heu­te blu­tig, auch zum Nach­teil der eige­nen Bevöl­ke­rung und der Zer­stö­rung ihrer neu­en Hei­mat! Die­se selbst­zer­stö­re­ri­schen Kriegs­spi­ra­len sind tra­gi­sche Spät­fol­gen von trau­ma­ti­schen Kolo­ni­al­er­fah­run­gen aller Sei­ten. Die Been­di­gung der reak­tio­nä­ren Neo­ko­lo­ni­al­ge­schich­te in einer mul­ti­eth­ni­schen Welt war, ist und bleibt, die Vor­aus­set­zung für eine fried­li­che neue Welt­ord­nung, ent­spre­chend dem Geist und Buch­sta­ben der UN-Char­ta. Dafür gilt es wei­ter­hin in den Klas­sen- und Frie­dens­kämp­fen unse­rer Tage täg­lich zu rin­gen. Nicht weni­ger als die Exi­stenz allen Lebens auf unse­rer Erde steht dabei inzwi­schen auf dem Spiel. In der letz­ten Stro­phe des ein­gangs erwähn­ten Lie­des heißt es des­halb unmissverständlich

Für den Frie­den zu kämp­fen und wach­sam zu sein:
Fällt die Mensch­heit noch ein­mal auf Lügen herein
Dann kann es gesche­hen, dass bald nie­mand mehr lebt,
nie­mand, der die Mil­li­ar­den von Toten begräbt.
Doch fin­den sich mehr und mehr Men­schen bereit,
die­sen Krieg zu ver­hin­dern, es ist an der Zeit!