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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Richard Wagner und das deutsche Gefühl

In der Schau im Deut­schen Histo­ri­schen Muse­um vom 8. April bis 11. Sep­tem­ber 2022 wird Richard Wag­ner zur »welt­hi­sto­ri­schen Figur« erho­ben, mit­hin als »eine der wich­tig­sten Gestal­ten der moder­nen Welt« gewür­digt (Kura­tor M. Stein­berg). Die­se Nobi­li­tie­rung erstaunt einer­seits des­we­gen, weil es an Wag­ner immer wie­der dies und das zu kri­ti­sie­ren gibt, vor allem zwei Pro­ble­me, sei­ne Juden­ab­leh­nung und die Erfin­dung des deut­schen Gefühls. In den bei­den Züri­cher Auf­sät­zen »Das Juden­tum in der Musik« von 1850 und 1869 cha­rak­te­ri­siert der Kom­po­nist die hebräi­sche Syn­odal­mu­sik in häss­lich­ster Wei­se, außer­dem bemän­gelt er – eben­falls unfein – den »kos­mo­po­li­ti­schen Musik­s­tyl« von Gia­co­mo Mey­er­beer, der, eine Gene­ra­ti­on älter als Wag­ner, mit sei­ner Grand Opé­ra in Paris Welt­erfol­ge errang, um die ihn der dort erfolg­lo­se Wag­ner benei­de­te. Ursa­chen und Wir­kun­gen Wag­ner­scher Angrif­fe auf die jüdi­sche Musik­sze­ne wer­den in der Expo­si­ti­on nicht ana­ly­siert. Hin­ge­gen spielt die Her­aus­brin­gung des deut­schen Gefühls in der Musik eine zen­tra­le Rol­le. Ande­rer­seits ist es beru­hi­gend, den Dich­ter, Dra­ma­ti­ker, Libret­ti­sten, Kom­po­ni­sten und Erfin­der des Musik­dra­mas als Gesamt­kunst­werk unwi­der­ruf­lich in den Rang eines Genies geho­ben zu sehen. Jeden­falls kann der viel­sei­ti­ge Wag­ner nicht mehr nur The­ma der Ein­zel­wis­sen­schaf­ten Musik- und Thea­ter­ge­schich­te blei­ben, son­dern wird damit viel umfas­sen­der zum The­ma der All­ge­mei­nen Geschich­te. Die­se Blick-Erwei­te­rung auf Wag­ner dräng­te den Ver­an­stal­tern die Fra­ge auf, wie sich nun die­sem Genie nähern? Die erste Set­zung hat Rapha­el Gross, Ideen­fin­der und Ver­an­stal­ter, vor­ge­nom­men. Wie Karl Marx – in der Par­al­lel-Aus­stel­lung im DHM – wird auch Wag­ner histo­risch-kri­tisch aus den Bedin­gun­gen sei­ner eige­nen Zeit erklärt.

Die kura­tier­ten Zugän­ge rich­ten sich inten­siv auf ein bis­her weni­ger inter­pre­tier­tes Gebiet des Wag­ner­schen Oeu­vres: sei­ne Gefühls­welt. Aus ihr wer­den nur vier – paar­wei­se ent­ge­gen­ge­setz­te – Befind­lich­kei­ten erör­tert, Wag­ners eige­nen Wor­ten zufol­ge: Ent­frem­dung und Eros sowie Zuge­hö­rig­keit und Ekel. Ent­frem­dung führ­te Wag­ner zur Revo­lu­ti­on in der Kunst. Der Kapell­mei­ster in Dres­den, im Dienst des Säch­si­schen Königs, mit einem in Euro­pa ein­zig­ar­ti­gen Gehalt, kann den Pro­vinz­geist nicht mehr ertra­gen, das Opern­pro­gramm nicht moder­ni­sie­ren. Für ihn bedeu­tet Revo­lu­ti­on, wört­lich revol­vere, alles wie­der zurück-zu-wäl­zen in den ursprüng­li­chen Zustand, in die Ver­gan­gen­heit, um dar­aus Erneue­rung zu ziehen.

In histo­ri­sche Stof­fe wie das Nibe­lun­gen­lied, Tri­stan von Gott­fried von Straß­burg und Par­zi­val von Wolf­ram von Eschen­bach legt er sein Gefühls­re­per­toire hin­ein. Im Ring des Nibe­lun­gen, Tri­stan und Isol­de, Par­si­fal und Tann­häu­ser tre­ten sie anver­wan­delt und mit dem deut­schen Gefühl aus­ge­stat­tet wie­der her­vor. So konn­te alles gesagt und gespielt wer­den, was in der Gegen­warts­spra­che voll­kom­men unmög­lich gewe­sen wäre.

  1. Ent­frem­dung: Nach 1830 über­fällt auch in den deut­schen Län­dern Künst­ler eine neue Befind­lich­keit. Sie erle­ben ihre Ent­frem­dung zur Gesell­schaft beson­ders quä­lend durch Ver­lu­ste von Kir­che und Hof als Auf­trag­ge­ber, unge­si­cher­te Exi­stenz, gerin­ge Mög­lich­keit kon­ti­nu­ier­lich künst­le­risch zu pro­du­zie­ren, Zwang zum Exil, Kre­di­te, Bank­rott, Bet­te­lei. Ent­frem­dung bei Wag­ner wird hier zu sehr aus des­sen Bio­gra­fie ent­wickelt. Ist es nicht so, dass der Kom­po­nist – ver­steckt – eine ent­waff­nen­de Selbst­ana­ly­se sei­nes Künst­ler­stan­des gibt, wenn sich Sieg­fried in der »Göt­ter­däm­me­rung« am Hof König Gun­ther so vorstellt:

Nicht Land noch Leu­te biet’ ich,
noch Vaters Haus und Hof:
ein­zig erbt’ ich 
den eige­nen Leib;
lebend zehr’ ich den auf.

Hat sich Wag­ner gegen­über sei­nem Mäzen König Lud­wig II. von Bay­ern nicht genau­so gefühlt?

  1. Eros: Wie­wohl Wag­ner das Wort Eros nur vier Mal ver­wen­det, ist es klar, dass sein Opern­schaf­fen das Spek­trum der Lie­be nach allen Sei­ten aus­schrei­tet. Küh­ne Gefüh­le, ein­zig­ar­ti­ge Tur­bu­len­zen der Lie­bes­be­zie­hun­gen, Eifer­suchts­sze­nen zwi­schen Wotan und Freia, Ehe­brü­che, Inzest von Sieg­mund und Sieg­lin­de, Hass, Intri­gen, Mord und Tot­schlag, Sün­de und Buße, noch ein­mal ver­bor­gen in Wag­ners Erfin­dung eines qua­si mit­tel­hoch­deut­schen Sprach­stils. Bewei­se, wie sehr Wag­ner bezüg­lich der Lie­be von sich selbst spricht, zei­gen die aus­ge­wähl­ten Expo­na­te. Hier­zu legt Mela­nie Unseld einen wun­der­ba­ren Kata­log­text vor.
  2. Ekel: Das Kapi­tel ist kurz genom­men und wohl auch schwie­rig dar­zu­stel­len. Es bezieht sich auf Aus­drucks­wei­sen, die Wag­ner in sei­ner Schrift »Das Juden­tum in der Musik« ver­wen­det. Ein Nach­weis, dass anti­se­mi­ti­sche Merk­ma­le in Wag­ners Musik fest­zu­stel­len sind, wird dadurch aber nicht erbracht. Die Argu­men­ta­ti­on bezieht sich des Wei­te­ren auf eini­ge Erkennt­nis­se aus der medi­zi­ni­schen Natur­wis­sen­schaft, die das The­ma Ekel berüh­ren, wobei der Zusam­men­hang mit Wag­ner völ­lig unklar bleibt. Auch wird ein Backen­zahn von Wag­ner, der 4. Milch­zahn, mit Kari­es im Ekel­zu­sam­men­hang gezeigt. Ein über­flüs­si­ges Exponat.
  3. Zuge­hö­rig­keit: Von 1839 bis 1842 leb­te Wag­ner in Paris, zwar elend, doch lern­te er die Höhen der Grand Opé­ra ken­nen. Auber und Mey­er­beer hat­ten bei­de das ita­lie­ni­sche Bel­can­to und den éclat tri­onpha­le mit­ein­an­der ver­eint, süße­ste Melo­dik und span­nen­de Histo­rie nach Art von Wal­ter Scott. Der Enthu­si­as­mus leg­te sich bei Wag­ner bald, u. a. weil die­se Opern­form in den deut­schen Klein­staa­ten nicht zu repro­du­zie­ren war. In den deut­schen Län­dern blieb das Publi­kum am Bel­can­to hän­gen. Für die Gro­ße Oper such­te Wag­ner eine neue Zuge­hö­rig­keit, eine Oper für deut­sche Ver­hält­nis­se, für deut­sche Befind­lich­kei­ten und für das deut­sche Gefühl. Er war davon über­zeugt, dass aus dem pro­vin­zi­el­len höfi­schen Geist in Musik und Kunst noch nie ein gro­ßes, umfas­sen­des Gefühl für alle Deut­schen erwach­sen sei. Zugleich lehnt er die kos­mo­po­li­ti­sche Oper ab. Er will das Musik­dra­ma, als ein deut­sches »Kunst­werk der Zukunft« für Deut­sche schaf­fen. In Libret­ti, Musik und Thea­tra­lik hob Wag­ner immer wie­der ab auf eine ein­zig­ar­ti­ge Befind­lich­keit: das deut­sche Gefühl. Nach­drück­lich bezeich­net er sich als des­sen Hervorbringer.

Die­ser Gedan­ke über­zeugt, wenn man die Aus­sichts­lo­sig­keit eines ver­ein­ten Deutsch­lands von 1848 bis 1871 sieht. Inso­fern fun­giert die deut­sche See­le als Eini­gungs- und Erleb­nis­band, wie es auch in der Lite­ra­tur der Zeit ent­steht. Hier wird klar, dass Wag­ners Modell eben nur aus der Ent­ste­hungs­zeit her­aus ver­ständ­lich ist und nicht aus Rezep­ti­ons­rück­blicken des 20. Jahrhunderts.