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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ach, Europa

Als der Suhr­kamp Ver­lag 1987 die »Wahr­neh­mun­gen aus sie­ben Län­dern« des Dich­ter-Phi­lo­so­phen Hans Magnus Enzens­ber­ger unter dem Titel »Ach Euro­pa!« her­aus­brach­te, waren die Ereig­nis­se, die die poli­ti­sche Land­kar­te in Euro­pa ver­än­dern soll­ten, nur noch zwei, drei Jah­re ent­fernt. Einen Wim­pern­schlag also, bevor alte Gewiss­hei­ten weg­ge­räumt wur­den und jene Ver­än­de­run­gen und mit ihnen jene Ent­schei­dun­gen über die Men­schen zwi­schen Atlan­ti­schem Oze­an und Ural her­ein­bra­chen – den eben­falls betrof­fe­nen asia­ti­schen Teil Russ­lands ein­mal außen vor gelas­sen –, deren Fol­gen den Kon­ti­nent noch heu­te beschäftigen.

So wie ein Seis­mo­graf die tek­to­ni­schen Ver­schie­bun­gen im Erd­in­nern in zit­tern­den Kur­ven aus­malt, so regi­strier­te Enzens­ber­ger auf sei­nen zwi­schen 1982 und 1985 unter­nom­me­nen Repor­ta­ge-Fahr­ten nach Schwe­den, Ita­li­en, Ungarn, Por­tu­gal, Nor­we­gen, Polen und Spa­ni­en die Defek­te, von denen die Gesell­schaf­ten in Euro­pa infol­ge des Zwei­ten Welt­kriegs noch immer gezeich­net waren trotz aller posi­ti­ven Ver­än­de­run­gen. Bei den Gesprä­chen in den ein­zel­nen Län­dern taten sich neue Dis­so­nan­zen auf. Noch kei­ne Rol­le spiel­ten damals aller­dings The­men wie Flucht und Migra­ti­on oder Ter­mi­ni wie Her­kunfts- und Tran­sit­län­der, die Brand­be­schleu­ni­ger der Gegen­wart. Und, nicht zu ver­ges­sen: Es gab noch EU-Bin­nen­gren­zen und unter­schied­li­che Währungen.

Heu­te prä­sen­tiert sich die EU als stark nach Osten erwei­ter­te Insti­tu­ti­on, deren Poli­tik tief in das all­täg­li­che Leben der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger ein­greift; den einen ein Segen, den ande­ren ein so gro­ßes Gräu­el, dass sie am lieb­sten die Gemein­schaft ver­las­sen möch­ten. Sie sehen sich gegän­gelt, mani­pu­liert, indok­tri­niert, zu stark regu­liert von »der EU« und »den Büro­kra­ten« in dem Raum­schiff Brüs­sel, das ihrer Ansicht nach unauf­halt­sam einem Schwar­zen Loch ent­ge­gen­fliegt. Sie rüt­teln in euro­pa­wei­ter Ver­wei­ge­rung an den vier Grund­säu­len der Staa­ten­ge­mein­schaft, dem frei­en Per­so­nen-, Waren-, Dienst­lei­stungs- und Kapi­tal­ver­kehr. Seit den 1990er Jah­ren gehört der Rechts­po­pu­lis­mus zum festen Bestand­teil der euro­päi­schen Parteienlandschaft.

Gibt es unter­schied­li­che Ent­wick­lun­gen in Euro­pa? Wie hän­gen Migra­ti­on und Rechts­po­pu­lis­mus zusam­men? Wel­che sozio­öko­no­mi­schen, sozi­al­psy­cho­lo­gi­schen Erklä­run­gen gibt es, wel­che poli­tisch-struk­tu­rel­len und wel­che poli­tisch-kul­tu­rel­len? Und inwie­fern hat in Deutsch­land die­ses The­ma zum Auf­stieg der AfD bei­getra­gen? War­um schnit­ten auch in ande­ren euro­päi­schen Län­dern Popu­li­sten und rech­te Par­tei­en stark ab? Hier drei Bei­spie­le aus jüng­ster Zeit:

In der Tsche­chi­schen Repu­blik gewann 2017 der Mil­li­ar­där und EU-Kri­ti­ker Andrej Babiš mit sei­ner Par­tei ANO die Par­la­ments­wah­len, nach­dem er das erste Mal 2013 ange­tre­ten war und aus dem Stand den zwei­ten Platz erreicht hat­te. Anfang 2018 gewann Miloš Zeman zum zwei­ten Mal knapp die Prä­si­dent­schafts­wahl mit einer betont flücht­lings­feind­li­chen Hal­tung. Dazu ein pas­sen­des Zitat, das ihm zuge­schrie­ben wird: »Falls Sie in einem Land leben, in dem Sie für das Fischen ohne Ang­ler­schein bestraft wer­den, jedoch nicht für den ille­ga­len Grenz­über­tritt ohne gül­ti­gen Rei­se­pass, dann haben Sie das vol­le Recht zu sagen, die­ses Land wird von Idio­ten regiert.«

Im Okto­ber 2017 gewann die rechts­ge­rich­te­te Frei­heit­li­che Par­tei Öster­reichs (FPÖ) 5,5 Pro­zent der Stim­men hin­zu und ist aktu­ell dank ihres Stim­men­an­teils von 26 Pro­zent Teil der öster­rei­chi­schen Regierungskoalition.

Im März 2018 ver­bes­ser­te sich in Ita­li­en die rechts­po­pu­li­sti­sche Lega von vier auf 18 Pro­zent und stieg damit zur domi­nie­ren­den Kraft im Mit­te-Rechts-Lager auf. Par­al­lel dazu erziel­te die Anti-Estab­lish­ment- und Anti-EU-5-Ster­ne-Bewe­gung deut­li­che Zuwäch­se und wur­de zur stärk­sten Par­tei Italiens.

Die­se neu­en poli­ti­schen Ver­wer­fun­gen und Pola­ri­sie­run­gen führ­ten zu der Befürch­tung, die libe­ra­le und reprä­sen­ta­ti­ve Demo­kra­tie ver­lie­re an Ver­trau­en und Zustim­mung in der Bevöl­ke­rung. Sie rie­fen natür­lich auch die Wis­sen­schaft auf den Plan. Ende Okto­ber 2018 hat das von Hans Vor­län­der gelei­te­te Mer­ca­tor Forum Migra­ti­on und Demo­kra­tie (MIDEM), ein For­schungs­zen­trum der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Dres­den in Koope­ra­ti­on mit der Uni­ver­si­tät Duis­burg-Essen, geför­dert durch die Stif­tung Mer­ca­tor, sei­nen Jah­res­be­richt vor­ge­legt. Kern­the­se: »Migra­ti­on macht bestehen­de Pro­ble­me sicht­bar, ist aber nicht ihr Auslöser.«

Vor­ab die in dem Bericht gege­be­ne Defi­ni­ti­on des Rechts­po­pu­lis­mus: Im Ver­gleich zu ande­ren Popu­li­sten kommt »für Rechts­po­pu­li­sten zusätz­lich zu der ›Wir-gegen-die-da-oben‹-Ideologie auch die hori­zon­ta­le Dimen­si­on des ›Wir-gegen-die-Ande­ren‹ hinzu«.

Ich zitie­re im Fol­gen­den zen­tra­le Aus­sa­gen der Studie:

»Migra­ti­on ist nicht die Ursa­che für den Auf­stieg des Popu­lis­mus in Euro­pa, legt aber bestehen­de Kon­flikt­li­ni­en in und zwi­schen den euro­päi­schen Gesell­schaf­ten offen.«

Man­che die­ser Kon­flikt­li­ni­en »sind kul­tu­rel­ler, ande­re sozio­öko­no­mi­scher oder poli­ti­scher Natur. Durch Migra­ti­on wer­den auch regio­na­le und lan­des­spe­zi­fi­sche Spal­tun­gen sicht­bar: etwa zwi­schen Ost und West in Deutsch­land, zwi­schen Nor­den und Süden in Ita­li­en, zwi­schen Zen­trum und Peri­phe­rie in Großbritannien.«

»Rein sozio­öko­no­misch lässt sich der Zusam­men­hang zwi­schen Migra­ti­on und Popu­lis­mus nicht erklä­ren. Oft­mals sind es eher kul­tu­rel­le Kon­flik­te, wie unter­schied­li­che Vor­stel­lun­gen von Iden­ti­tät, Zuge­hö­rig­keit und Fremd­heit, wel­che die Rechts­po­pu­li­sten begün­sti­gen. Dabei sind Vor­be­hal­te gegen den Islam von Relevanz.«

»Die kul­tu­rel­le Kon­flikt­li­nie … kann in eini­gen Län­dern West- und Nord­eu­ro­pas durch öko­no­mi­sche Abstiegs- und Ver­lust­äng­ste über­la­gert wer­den. So wer­den in Wohl­fahrts­staa­ten wie Schwe­den Asyl­su­chen­de auch als Ursa­che für die Ver­schär­fung des Wett­be­werbs um Sozi­al­lei­stun­gen angesehen.«

»Kul­tu­rel­le Begrün­dungs­mu­ster bei der Ableh­nung von Migra­ti­on sind in Län­dern mit gerin­gem Aus­län­der­an­teil beson­ders aus­ge­prägt. Dazu gehö­ren mit­tel- und ost­eu­ro­päi­sche Län­der, aber auch Ost­deutsch­land. Hier för­dert die Angst vor einem Ver­lust von Iden­ti­tät und sozia­lem Zusam­men­halt ableh­nen­de Hal­tun­gen gegen­über der Migration.«

»Gene­rell ist die Ein­stel­lung gegen­über Zuwan­de­rung aus Nicht-EU-Staa­ten auch im Zuge der ›Flücht­lings­kri­se‹ nicht nega­ti­ver gewor­den. Eine Aus­nah­me stel­len Län­der Mit­tel- und Ost­eu­ro­pas dar.«

»Noch nie wur­de das The­ma Migra­ti­on von so vie­len Euro­pä­ern als eines der wich­tig­sten Pro­ble­me betrach­tet. Dabei steht die Bedeu­tung der Migra­ti­ons­fra­ge nicht zwin­gend in Rela­ti­on zu der Zahl der ankom­men­den Asyl­su­chen­den – sie ist viel­mehr das Ergeb­nis star­ker Media­ti­sie­rung und geziel­ter Politisierung.«

»Für rechts­po­pu­li­sti­sche Par­tei­en ist die öffent­li­che Bedeu­tung des The­mas Migra­ti­on zen­tra­le Vor­aus­set­zung für die Mobi­li­sie­rung der eige­nen Anhän­ger­schaft beim Pro­test gegen die ›herr­schen­de Elite‹.«

»Popu­li­sti­sche Par­tei­en wer­den nicht aus­schließ­lich von ›Abge­häng­ten‹ und ›Bil­dungs­fer­nen‹ gewählt, wie oft ver­mu­tet wird«, sie pro­fi­tie­ren auch »von einer Wäh­ler­schaft mit höhe­rem Bil­dungs­grad und Einkommen.«

Im wei­te­ren Ver­lauf der Stu­die wid­men sich die For­sche­rin­nen und For­scher dem Zusam­men­hang zwi­schen Popu­lis­mus und Frem­den­feind­lich­keit am Bei­spiel Sach­sen, »das von allen ost­deut­schen Bun­des­län­dern eine Son­der­stel­lung auf­weist«, da sich »hier poli­ti­sche Ent­frem­dungs- und Pola­ri­sie­rungs­pro­zes­se in beson­de­rer Wei­se zu ver­dich­ten schei­nen«. Ihr Resü­mee: »Jedoch erweist sich das media­le Bild Sach­sens als rech­tes ›Schmud­del­kind‹ der Repu­blik bei genaue­rer Betrach­tung als trü­ge­risch … Die Beson­der­heit Sach­sens dürf­te sich daher aus sei­ner spe­zi­fi­schen poli­ti­schen Deu­tungs­kul­tur und Men­ta­li­tät spei­sen: Ein star­kes Selbst- und Tra­di­ti­ons­be­wusst­sein mit sei­ner beson­de­ren, selbst unter dem DDR-Regime gepfleg­ten Ten­denz zu regio­na­ler Gemein­schafts- und Iden­ti­täts­pfle­ge scheint gera­de in Sach­sen bestehen­de frem­den­feind­li­che Ten­den­zen leich­ter als anders­wo poli­tisch mobi­li­sier­bar zu machen.«

In ihrem zwei­ten Teil rich­tet die Stu­die den Fokus auf eini­ge euro­päi­sche Län­der: auf Ita­li­en (»Ita­lie­ner haben grö­ße­re Vor­be­hal­te gegen­über Migran­ten als die mei­sten west­eu­ro­päi­schen Bevöl­ke­run­gen.«), die Nie­der­lan­de (»Eine neue kul­tu­rel­le Kon­flikt­li­nie zeich­net sich rund um das The­ma Migra­ti­on sowie die Ein­stel­lun­gen gegen­über der euro­päi­schen Inte­gra­ti­on ab.«), Öster­reich (»Immi­gra­ti­on wird in Öster­reich bereits seit lan­gem als poli­tisch beson­ders rele­van­tes und pola­ri­sie­ren­des The­ma auf­ge­fasst.«), Polen (»In der pol­ni­schen Bevöl­ke­rung sind skep­ti­sche bis ableh­nen­de Hal­tun­gen gegen­über ›Frem­den‹ und Ein­wan­de­rern beson­ders aus­ge­prägt. Die größ­te Skep­sis rich­tet sich gegen Ara­ber und Mus­li­me.«), Schwe­den (»Die regie­ren­den Sozi­al­de­mo­kra­ten sind von ihren libe­ra­len Posi­tio­nen abge­rückt und fah­ren inzwi­schen einen restrik­ti­ven Kurs in der Flücht­lings- und Inte­gra­ti­ons­po­li­tik.«), Tsche­chi­en (»Tsche­chen zäh­len zu den­je­ni­gen euro­päi­schen Gesell­schaf­ten, die Zuwan­de­rer und Flücht­lin­ge am stärk­sten ableh­nen.«), Ungarn (»Erst die regie­ren­de FIDESZ-Par­tei mach­te die Bekämp­fung von ille­ga­ler Migra­ti­on im Zuge der ›Flücht­lings­kri­se‹ zu einem The­ma«, das sich »als wich­tig­stes Instru­ment für die Kri­tik an der EU und ihrer Flücht­lings­po­li­tik erwies.«), Ver­ei­nig­tes König­reich (»Die Zustim­mung zum Brexit war dort beson­ders hoch, wo es in begrenz­ter Zeit zu einer deut­li­chen und wahr­nehm­ba­ren Ver­än­de­rung der eth­ni­schen Bevöl­ke­rungs­zu­sam­men­set­zung im unmit­tel­ba­ren loka­len Umfeld kam oder wo der durch­schnitt­li­che Bil­dungs­grad nied­rig war.«)

*

Die Euro­päi­sche Uni­on, die dann vor­aus­sicht­lich aus nur noch 27 Mit­glieds­staa­ten bestehen wird, ruft zwi­schen dem 23. und 26. Mai (Wahl­ter­min in Deutsch­land) sei­ne Bür­ge­rin­nen und Bür­ger an die Wahl­ur­nen. Als ich ein Kind war, lern­te ich das Schmug­geln, zog mit ande­ren Kame­ra­den durch die Wäl­der zwi­schen Pfalz und Huns­rück, auf uns ver­trau­ten Pfa­den, Zöll­ner und mili­tä­ri­sche Strei­fen mei­dend, die uns die Tafel Scho­ko­la­de, das Päck­chen Kakao, das Päck­chen Kaf­fee wie­der abja­gen woll­ten, das wir im Saar­land erstan­den hat­ten, des­sen Stein­koh­le sich Frank­reich unbe­dingt sichern woll­te. Schlag­bäu­me stan­den zwi­schen Rhein­land-Pfalz und dem fran­zö­sisch ver­wal­te­ten Nach­bar­ge­biet. Mei­ne Groß­mutter erzähl­te von den fran­zö­si­schen Erb­fein­den (»Jeder Stoß ein Fran­zos, jeder Tritt ein Britt«). Über­all in Euro­pa stan­den Schlag­bäu­me. Mei­ne Söh­ne, mei­ne Enkel ken­nen kei­ne Schlag­bäu­me mehr, kei­ne ver­schie­de­nen Wäh­run­gen, kei­ne Erb­fein­de. Das ist das Euro­pa, um das es bei der Wahl in die­sem Jahr geht. Ich aber möch­te am lieb­sten Hein­rich Hei­ne abwan­deln, im Hin­blick auf den Mai 2019: »Denk ich an Euro­pa in der Nacht …«

Ach, Euro­pa.

»Migra­ti­on und Popu­lis­mus. MIDEM-Jah­res­be­richt 2018«, 238 Sei­ten, Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft, TU Dresden