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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Adolphus und die Seinen

Wer kennt sie nicht, die Gedan­ken­spie­le, die ent­ste­hen, wenn man sich das Urteil und die Exper­ti­se eines längst Ver­stor­be­nen her­bei­wünscht in unsi­che­ren Zei­ten, in denen der gesell­schaft­li­che Frie­de wankt und bis­lang sicher geglaub­te Regeln des demo­kra­ti­schen Mit­ein­an­ders infra­ge gestellt oder gar durch Het­ze, Häme und Ver­ach­tung in ihren Grund­fe­sten erschüt­tert werden?

Was also hät­te uns Carl von Ossietzky zu sagen gehabt ange­sichts der gegen­wär­ti­gen Hin­wen­dung einer nicht unbe­trächt­li­chen Wäh­ler­schaft zu den natio­na­li­sti­schen Heils­brin­gern und offen ras­si­stisch agie­ren­den Ver­hei­ßungs­bo­ten, die seit nun­mehr vier Jah­ren als Land- oder Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te der »Alter­na­ti­ve für Deutsch­land« die bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche Poli­tik­land­schaft mit ihren Paro­len, Ver­leum­dun­gen und Lügen nicht mehr nur pro­vo­zie­ren, son­dern gera­de­zu mal­trä­tie­ren? Und da wir Ossietzky vor nun­mehr ein­und­acht­zig Jah­ren an die faschi­sti­schen Fol­te­rer und Mör­der, die wohl heim­li­chen Vor­bil­der eines gewis­sen Teils der Für­spre­cher der soge­nann­ten Alter­na­ti­ve, ver­lo­ren haben wie so vie­le ande­re stand­haf­te, wil­lens­star­ke und unbeug­sa­me Ver­tei­di­ger huma­ni­sti­scher Grund­wer­te, was könn­ten uns der Mensch von Ossietzky und sein Schick­sal mit auf den Weg geben in Tagen wie die­sen, von denen eini­ge mei­nen, sie sei­en eine fast spie­gel­bild­li­che Wie­der­ho­lung der End­zeit der Wei­ma­rer Repu­blik, des durch den Nazi­ter­ror zer­stör­ten ersten demo­kra­ti­schen deut­schen Staa­tes seit mehr als tau­send Jah­ren? Bun­des­deut­sche AfD-Befür­wor­ter mögen viel­leicht nicht alle über­zeug­te Demo­kra­tie­fein­de sein, in dem Moment jedoch, in dem sie ihre Stim­me in der Wahl­ka­bi­ne die­ser Samm­lungs­be­we­gung von res­sen­ti­ment­ge­la­de­nen Auto­ri­täts­an­be­tern und affekt­la­bi­len Has­sern zukom­men las­sen, wer­den sie genau zu die­sen. Zwei­mal in der jün­ge­ren deut­schen Geschich­te, 1914 und 1933, hat die­ser Typus von »Volks­ver­tre­tern« unsäg­li­ches Unheil über das eige­ne Volk, Euro­pa und die Welt gebracht. War­um, zum Don­ner­wet­ter, soll­te es beim drit­ten Mal anders laufen?

Carl von Ossietzky hat­te nach sie­ben Mona­ten Haft am 3. Janu­ar 1933 in sei­nem in der Weltbühne erschie­ne­nen Auf­satz »Win­ter­mär­chen« all die Toten­grä­ber der Wei­ma­rer Repu­blik ent­larvt, ihre anti­de­mo­kra­ti­schen Phä­no­ty­pen, ihre cha­rak­ter­li­chen Defi­zi­te und ihre vor­geb­li­chen Moti­ve, das deut­sche Volk, so das viel­be­schwo­re­ne Sujet, aus den Klau­en des Ver­sailler Schmach­dik­tats zu ent­rei­ßen. Einen Tag nach der Ver­öf­fent­li­chung sei­nes Auf­sat­zes, am 4. Janu­ar, soll­ten sich von Papen, Hit­ler und der Groß­ban­kier Schrö­der bei die­sem zum Diner tref­fen, um das »Drit­te Reich« pro­gram­ma­tisch nicht nur am gera­de noch amtie­ren­den Kurt Schlei­cher, dem »Prä­to­ria­ner-Kanz­ler« (Ossietzky), vor­bei, son­dern auch durch das Groß­ka­pi­tal finan­zi­ell abge­si­chert aus der Tau­fe zu heben. Mit der ihm eige­nen ana­ly­ti­schen Scharf­sin­nig­keit und sei­ner unnach­ahm­li­chen Pole­mik beschreibt Ossietzky die letz­ten poli­ti­schen Wochen vor der Nazi­herr­schaft als eine Art Rit­ter­spiel am Vor­abend des alles­ent­schei­den­den Tur­niers um die Herr­schaft in reichs­deut­schen Lan­den. Die Nazis stecken seit Mit­te des Jah­res 1932, beson­ders aber nach den für sie ernüch­tern­den Reichs­tags­neu­wah­len vom Novem­ber, bei der sie zwei Mil­lio­nen ihrer Wäh­ler und 34 Man­da­te ein­ge­büßt haben, in einer ideo­lo­gi­schen und finan­zi­el­len Krise.

Es »sind die lan­gen Mes­ser ins Fut­te­ral gesteckt und öffent­lich sicht­bar nur die lan­gen Ohren des Füh­rers. Die deut­sche Ent­wick­lung geht nicht glatt, aber rapid.« Ossietzky beschreibt die Abfol­ge der – von den schwan­ken­den Stim­mun­gen des grei­sen, aber durch sei­ne ver­fas­sungs­ge­mä­ßen Befug­nis­se mäch­ti­gen Reichs­prä­si­den­ten Hin­den­burg gesteu­er­ten – Kabi­net­te Brü­nings und von Papens und des im Janu­ar 1933 noch amtie­ren­den Schlei­cher. »Es kam der Her­ren­klub und die auto­ri­tä­re Regie­rung«, denen »nur noch die nomi­nel­le mon­ar­chi­sche Spit­ze fehl­te.« Bei­den Kabi­net­ten gelang es trotz Not­ver­ord­nun­gen und offe­ner Ver­fas­sungs­brü­che nicht, die Wirt­schafts­kri­se, den sich aus­wei­ten­den Ter­ror der »SA-Leu­te ohne Sold in ihren unge­heiz­ten Mann­schafts­stu­ben« zu stop­pen. Rasant hebeln von Papen und dann Schlei­cher die bür­ger­li­chen Grund­rech­te der Wei­ma­rer Reichs­ver­fas­sung aus, der­weil Kom­mu­ni­sten und Sozi­al­de­mo­kra­ten sich gegen­sei­tig auf das Bit­ter­ste bekämp­fen. Die Nazis haben »die KPD kopiert und sich nicht gescheut, in einem Streik an ihre Sei­te zu tre­ten«, der­weil Gre­gor Stra­sser, der natio­nal­bol­sche­wi­sti­sche Kon­kur­rent Hit­lers, »ohne Zwei­fel kein halb­sei­de­ner Jam­mer­lap­pen wie der gro­ße Adolf«, ein sich links gerie­ren­der Nazi, der eine Art natio­nal-sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Quer­front bil­den will, die Popu­la­ri­tät Hit­lers zu unter­gra­ben beginnt. Inter­es­sant ist, dass Ossietzky Stra­sser, »der über sym­pa­thi­sche Züge ver­fügt« zwar mensch­lich gel­ten lässt, sein vor­geb­li­ches Sozi­al­enga­ge­ment jedoch sach­lich ana­ly­siert, um dann doch nur einen »Sack voll Nebel« zu fin­den. Im glei­chen Satz äußert Ossietzky, die­se Prü­fung von Argu­men­ten sei bei einer »hyste­ri­schen Käse­mil­be wie Goeb­bels« dann doch »ver­schwen­det«.

Als für die Nazi­pro­pa­gan­da anfäl­lig­ste Schicht sieht der Autor – wie Sieg­fried Kra­kau­er und Erich Fromm sozio­lo­gisch bestä­ti­gen soll­ten – »jenes ver­rot­ten­de Klein­bür­ger­tum, das jeden Pro­phe­ten zu stei­ni­gen bereit ist, der sich nicht einen Mer­ce­des­wa­gen … lei­sten kann«. »Adolp­hus und die Sei­nen«, »ihre Bru­ta­li­tät, Groß­mäu­lig­keit und Hirn­lo­sig­keit«, haben – so schluss­fol­gert Ossietzky – jedoch auch wei­te bür­ger­li­che Schich­ten kor­rum­piert: »Nie­mals ist das deut­sche Bür­ger­tum … so ehr­lich gegen sich gewe­sen wie in die­sen paar Jah­ren natio­nal­so­zia­li­sti­schen Wachs­tums. Da gab es nicht mehr intel­lek­tu­el­len Auf­putz, nicht mehr gei­sti­ge Ansprü­che, nicht mehr die aka­de­mi­sche Fas­sa­de rei­che­rer Jahr­zehn­te. Der öko­no­mi­sche Zusam­men­bruch hat die inne­re Roh­heit, die plum­pe Geist­feind­lich­keit, die har­te Macht­gier bür­ger­li­cher Schich­ten … offen bloß­ge­legt.« Was »der gro­ße völ­ki­sche Füh­rer« … »an bösen und häss­li­chen Instink­ten her­vor­ge­ru­fen hat, wird nicht so leicht ver­we­hen und für lan­ge Jah­re noch das gesam­te öffent­li­che Leben in Deutsch­land ver­pe­sten. Neue poli­ti­sche und sozia­le Syste­me wer­den kom­men, aber die Fol­gen Hit­lers wer­den auf­ste­hen, und spä­te­re Gene­ra­tio­nen noch wer­den zu jenem Gür­tel­kampf antre­ten müs­sen, zu dem die deut­sche Repu­blik zu fei­ge war«. Und im letz­ten Abschnitt sei­nes Weltbühne-Auf­sat­zes fährt Ossietzky fort: »Damit ist eine jah­re­lan­ge Mas­ke­ra­de been­det, die wirk­li­che Macht tritt unver­hüllt her­vor. Und sie wird dik­ta­to­risch herr­schen, bis ihr eine neu­ge­bil­de­te Macht entgegentritt.«

Ossietzky war damals so wenig ein Pro­phet, wie wir heu­te in die Glas­ku­gel einer unmit­tel­ba­ren poli­ti­schen Zukunft schau­en kön­nen. Er war jedoch ein Mensch mit einer unver­rück­ba­ren pazi­fi­sti­schen und huma­ni­sti­schen Grund­hal­tung, die ihn immun mach­te gegen jeg­li­che offe­nen oder ver­bräm­ten Ver­su­che poli­ti­scher Ver­ein­nah­mung jen­seits eben­die­ser Über­zeu­gun­gen. Gera­de von Publi­zi­sten kon­ser­va­ti­ver Leit­me­di­en, die es in den west­deut­schen Nach­kriegs­jah­ren oft ver­mie­den, die Ver­bre­chen der Nazi­herr­schaft dezi­diert als sol­che zu benen­nen, wur­de Weltbühne-Her­aus­ge­ber Ossietzky am Unter­gang der Wei­ma­rer Repu­blik mit­ver­ant­wort­lich gemacht, weil er eben auch explit demo­kra­ti­sche Per­sön­lich­kei­ten jener Jah­re mit teil­wei­se bei­ßen­dem Spott über­schüt­te­te. Doch Ossietzky ver­füg­te – wohl wie kein ande­rer Publi­zist damals – über eine bewun­derns­wer­te Geschick­lich­keit bei der cha­rak­t­er­psy­cho­lo­gi­schen Ein­schät­zung sei­ner Mit­men­schen. Was er schrieb und wen er dabei aufs Korn nahm, er tat dies in pole­mi­schen Abstu­fun­gen, die dem gesell­schaft­li­chen Wir­kungs­grad der Cha­rak­ter­schwä­chen öffent­li­cher Per­so­nen ent­spra­chen; bei tat­säch­lich depra­vier­ten Cha­rak­te­ren – wie am Bei­spiel Goeb­bels gezeigt – dann auch bis hin zur radi­ka­len Ver­ächt­lich­ma­chung, wenn­gleich die­se – und die Geschich­te gab ihm mit jedem Ein­zel­nen recht – nicht ein­mal annä­hernd die Ver­wor­fen­heit die­ser Indi­vi­du­en zu skiz­zie­ren in der Lage war.

Was also kann uns der an den Fol­gen sei­ner im KZ erlit­te­nen Miss­hand­lun­gen ver­stor­be­ne Carl von Ossietzky auf den Weg geben? Die Ant­wort ist nicht kom­pli­ziert, aber auch nichts für schwa­che Gemü­ter: Den Men­schen ihre Ver­werf­lich­keit deut­lich und offen vor­zu­füh­ren, wenn sie ande­ren an die Men­schen­wür­de, an das Leben wol­len. Und dage­gen mit allem ein­zu­ste­hen, was einem zu Gebo­te steht. Und sei es das eige­ne Leben.