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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Corona-Blues

In mei­nem Leben habe ich schon über vie­le The­men gestrit­ten – mit Kol­le­gen und Vor­ge­setz­ten, mit Freun­den, in poli­ti­schen Grup­pen oder bei Aktio­nen auf der Stra­ße. Über Atom­po­li­tik oder die Aus­höh­lung des Asyl­rech­tes; über die unge­rech­te Ver­mö­gens­ver­tei­lung, die Aus­beu­tung von Men­schen und Län­dern oder die Abschaf­fung der Wür­de durch die Hartz-IV-Gesetz­ge­bung; über Über­wa­chung, die Rol­le der Medi­en oder die Digi­ta­li­sie­rung. Im schlech­te­sten Fall war ein­fach kei­ne Eini­gung zu erzie­len über das, was jede Sei­te als Fak­ten anführ­te, oder dar­über, wie die offen­sicht­li­chen Fak­ten zu bewer­ten waren. Aber wir haben um Mei­nun­gen und Deu­tun­gen gerun­gen, wir haben argu­men­tiert und auch gekämpft, in der Kan­ti­ne oder am Knei­pen­tisch. Oder in den Medien.

Kein Miss­ver­ständ­nis: Ich will die Ver­gan­gen­heit nicht ver­klä­ren. Es gab Denun­zia­tio­nen und Ver­fol­gun­gen, Berufs­ver­bo­te und Zen­sur, Medi­en in spei­chel­lecken­der Gefolg­schaft der Macht und Was­ser­wer­fer oder Gum­mi­schrot­ge­schos­se gegen Demon­stran­ten. Es war nie gemüt­lich, es war nie ein­fach. Wider­stand koste­te schon immer Mut. Aber noch nie habe ich, die ich lan­ge nach dem Natio­nal­so­zia­lis­mus gebo­ren wur­de, ein so ver­gif­te­tes Kli­ma erlebt wie heu­te. Eine so bedroh­li­che Mischung aus Pro­pa­gan­da, Mei­nungs­un­ter­drückung und fun­da­men­ta­len Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen, die von der Mehr­heit hin­ge­nom­men oder gar begrüßt wer­den. Die »bereit­wil­li­ge Selbst­ent­mün­di­gung des Sou­ve­räns«, wie es die Schwei­zer Öko­no­min Mar­git Oster­loh for­mu­lier­te, voll­zieht sich in rasen­dem Tem­po: Her­den­trieb statt Wider­stand, Sehn­sucht nach Füh­rung statt Sel­ber­den­ken, Moral­keu­len statt demo­kra­ti­scher Aus­ein­an­der­set­zun­gen. Ein »Auto­ri­täts­vi­rus«, des­sen Ver­brei­tung ich lang­fri­stig für gefähr­li­cher hal­te als das Corona-Virus.

Wer sich kri­tisch zur Coro­na-Poli­tik äuße­ren möch­te, muss min­de­stens vor­aus­schicken, kein Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker und kein das Virus leug­nen­der »Covidi­ot« zu sein. Wer dar­über reden möch­te, wel­chen Scha­den Demo­kra­tie und Men­schen­rech­te durch die Coro­na-Maß­nah­men neh­men, wird ver­däch­tigt, ein Feind der Demo­kra­tie zu sein. Und wer der herr­schen­den Mei­nung ande­re Fak­ten ent­ge­gen­setzt, gerät sofort unter Ver­schwö­rungs-Ver­dacht. Man ertappt sich dabei, es erst gar nicht zu ver­su­chen. Schließ­lich will man kei­nen Shits­torm ris­kie­ren und nicht als rechts­ra­di­ka­ler »Quer­den­ker« denun­ziert wer­den. Oder im Zusam­men­sein mit alten Freun­den, mit der Fami­lie nicht plötz­lich die­se Sprach­lo­sig­keit erle­ben, die immer mehr Bezie­hun­gen beschä­digt. Eine Rei­he von Men­schen aus mei­nem Bekann­ten- oder Freun­des­kreis wol­len mit mir oder ande­ren Coro­na-Poli­tik-Beden­ken­trä­gern nicht mehr über Coro­na sprechen.

Auch frü­her konn­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen über die Ver­drän­gung der Mit-täter­schaft wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus oder die Ableh­nung des Lebens­stils der Eltern zu tie­fen Ris­sen in Fami­li­en füh­ren, auch frü­her konn­te man sich über Atom­kraft oder Asyl­recht dau­er­haft ent­zwei­en, aber Kri­ti­ker der Coro­na-Maß­nah­men erle­ben heu­te eine bis­her unge­ahn­te kol­lek­ti­ve Aggres­si­on und Abwer­tung, sie erfah­ren üble Nach­re­de und Dif­fa­mie­run­gen, die sie als unso­li­da­ri­sche und fehl­ge­lei­te­te Per­so­nen brand­mar­ken und ihnen ins­ge­samt jede Urteils­fä­hig­keit absprechen.

Wenn sich Men­schen – wie zum Bei­spiel im sozia­len Nach­bar­schafts-Netz­werk nebenan.de – gegen das Imp­fen aus­spre­chen oder ein­zel­ne Coro­na-Regeln für unan­ge­mes­sen hal­ten, wer­den ihre Bei­trä­ge gelöscht. Man müs­se ja, so argu­men­tier­te ein nebenan.de-Mitglied, auch in sei­nem pri­va­ten Wohn­zim­mer kei­ne Mei­nung dul­den, die den Gast­ge­bern nicht gefal­le. Das Glei­che gel­te eben für den Betrei­ber einer Plattform.

Die anspruchs­voll­ste und vor­nehm­ste Auf­ga­be des Jour­na­lis­mus ist die Aus­wahl der Nach­rich­ten, die Aus­wahl der Fak­ten. Die­se Aus­wahl ist selbst beim besten Wil­len nie ganz objek­tiv, sie ist immer geprägt von der eige­nen Welt­an­schau­ung oder der Grund­hal­tung des Medi­ums, für das die Jour­na­li­sten arbei­ten. Doch beson­ders die Idee des öffent­lich-recht­li­chen Rund­funks oder die längst wider­leg­te Uto­pie eines »frei­en« Inter­nets beinhal­te­ten einst die Idee vie­ler Stim­men, vie­ler Mei­nun­gen und Argu­men­te, vie­ler Fak­ten aus unter­schied­li­chen Quel­len. »Fak­ten« sind wider­leg­bar, sie wer­den aber nicht mehr wider­legt, son­dern schlicht als »Fake« bezeich­net, wenn sie der eige­nen Posi­ti­on ent­ge­gen­ste­hen. Es gibt Fäl­schun­gen oder Betrugs­ver­su­che, es gibt Het­ze und Hass, es gibt Macht und Zen­sur – und es gibt den anstren­gen­den Ver­such, sich und ande­re umfas­send zu infor­mie­ren und Hin­ter­grün­de, Quer­ver­bin­dun­gen oder Macht-Inter­es­sen zu recher­chie­ren. Als Grund­la­ge fürs Zuhö­ren, fürs Argu­men­tie­ren, fürs Selberdenken.

Was wir wis­sen, so der Sozio­lo­ge Niklas Luh­mann, wis­sen wir aus den Medi­en. Doch die Medi­en, durch die Echo­kam­mern der sozia­len Netz­wer­ke längst von kom­mu­ni­ka­ti­ver Inzucht geschwächt, ori­en­tie­ren sich immer weni­ger an Ansprü­chen wie Auf­klä­rung oder Volks­bil­dung, son­dern – manch­mal schon von Algo­rith­men gesteu­ert – an den Bedürf­nis­sen der Nut­zer und deren Kon­sum­ver­hal­ten. Die immer kür­zer wer­den­den Auf­merk­sam­keits­span­nen, die digi­tal ver­än­der­te Auf­merk­sam­keits­öko­no­mie, ver­lan­gen nach Schlag­zei­len und Span­nung, nach Ver­ein­fa­chung und schrumpf­hirn­ge­rech­ten Häpp­chen. Inter­es­se wird mit Dra­ma­tik und ein­sei­ti­ger Fokus­sie­rung geweckt, bei­des schürt aber auch Angst. Und die­se Angst braucht neue Coro­na-Nach­rich­ten, neue Über­le­bens­re­geln. Die für die Quo­te geschür­te Angst braucht das Gefühl der Schutz­ge­mein­schaft und der mora­li­schen Über­le­gen­heit über die, die sich nicht an Regeln und Denk­ver­bo­te hal­ten – und dadurch angeb­lich die Gemein­schaft gefähr­den. Doch damit nicht genug. Auch die Poli­ti­ker bedie­nen die Wün­sche der Medi­en­nut­zer, der poten­zi­el­len Wäh­ler. Und die wol­len nun den star­ken Mann. Über Par­tei­gren­zen hin­weg hal­ten fast 80 Pro­zent (!) der Deut­schen den baye­ri­schen Mini­ster­prä­si­den­ten Söder für den rich­ti­gen Kanz­ler­kan­di­da­ten. Für den Ein­zug in Ber­lin braucht Söder die Marsch­mu­sik des Coro­na-Panik­or­che­sters. Braucht er den Over­kill der Coro­na-Bericht­erstat­tung. Braucht er wei­ter die will­fäh­ri­ge Zustim­mung der Grü­nen und der Lin­ken. Wäh­rend die Erzie­hung und Über­wa­chung zum guten Men­schen der grü­nen Poli­tik­vor­stel­lung ent­spricht und als will­kom­me­ne Ein­stim­mung auf wei­te­re Ver­bo­te und Dis­zi­pli­nie­rungs­maß­nah­men (kein Fleisch, kein Ben­zi­ner, kein Bal­ler­mann, kein Geschlecht) begrüßt wird, träu­men die Lin­ken offen­bar noch davon, für ihr Wohl­ver­hal­ten end­lich geliebt zu wer­den und mit Hil­fe des Coro­na-Virus den Kapi­ta­lis­mus abzu­schaf­fen. Oder mit dem neu­en Mot­to – »Gesund­heit vor Frei­heit« – das alte neo­li­be­ra­le Denk­mu­ster zu über­win­den. Falsch gehofft. Der­weil die klei­nen Geschäf­te für unse­re kol­lek­ti­ve Gesund­heit und die stän­dig beschwo­re­ne Soli­da­ri­tät im Lock­down still ver­en­den, fin­det ein rie­si­ger Kapi­tal­trans­fer statt: hin zu den gro­ßen mul­ti­na­tio­na­len Konzernen.

Glaubt wirk­lich irgend­wer, es gin­ge um den Schutz der Bevöl­ke­rung? Wenn es tat­säch­lich um das Leben von Men­schen gin­ge, dann doch nur um das Leben aller Men­schen. Doch wenn woan­ders gestor­ben wird, ist es uns offen­bar egal. 1,4 Mil­lio­nen an Tuber­ku­lo­se erkrank­te Men­schen haben wegen der Coro­na-Maß­nah­men 2020 kei­ne Behand­lung erhal­ten. Eine hal­be Mil­li­on Kran­ke mehr als in den Jah­ren zuvor sind des­halb durch Tuber­ku­lo­se umge­kom­men. In Afri­ka oder auch in Indi­en ster­ben deut­lich mehr Men­schen an den indi­rek­ten als an den direk­ten Fol­gen von Covid-19. Die Wirt­schaft ist ein­ge­bro­chen, die Lie­fer­ket­ten für die klei­nen Bau­ern sind gekappt, Tage­löh­ner haben mil­lio­nen­fach ihre Arbeit ver­lo­ren, die Lebens­mit­tel­prei­se stei­gen. Es wer­den kei­ne Masern­imp­fun­gen durch­ge­führt, kei­ne Mücken­net­ze mehr ver­teilt, HIV-Behand­lun­gen blei­ben aus, Medi­ka­men­te wer­den nicht aus­ge­ge­ben. Der Hun­ger und die Zahl der Hun­ger­to­ten neh­men dra­ma­tisch zu. Und wäh­rend­des­sen lagern die Impf­stof­fe in den Kühl­kel­lern der wohl­ha­ben­den Natio­nen, und die armen Län­der war­ten auf Almo­sen vom Tisch der Reichen.

Die Tria­ge, also das viel­fach für Euro­pa beschwo­re­ne Hor­ror­sze­na­rio, dass bei dro­hen­der Knapp­heit der medi­zi­ni­schen Res­sour­cen aus­ge­wählt wer­den müss­te, wer lebens­ret­ten­de Maß­nah­men erhält und wer nicht, fin­det täg­lich statt. Auch bei uns. Iso­la­ti­on und Angst ver­stär­ken Depres­sio­nen und ande­re psy­chi­sche Erkran­kun­gen. Klei­ne Gewer­be­trei­ben­de, Nied­rig­löh­ner in Kurz­ar­beit, die vie­len arbeits­lo­sen Kul­tur­schaf­fen­den kön­nen ihre Arbeit nicht aus­üben, müs­sen ihr Erspar­tes ver­brau­chen oder haben es längst aus­ge­ge­ben. Men­schen wer­den krank, wenn ihnen ihre Exi­stenz­grund­la­ge oder ihre Wür­de genom­men wird.

Unmensch­lich und trau­rig ist es auch in den Alten­hei­men. Also dort, wo seit einem Jahr die­je­ni­gen vege­tie­ren, die wir angeb­lich beson­ders schüt­zen wol­len. Seit unge­fähr zehn Jah­ren betreue ich in mei­ner Frei­zeit eini­ge alte Men­schen – und ich bin wütend. Die Men­schen, um die ich mich küm­me­re, müs­sen nicht vor dem Virus, son­dern vor Ver­ein­sa­mung und Ver­wahr­lo­sung geschützt wer­den. Dort, wo ich es selbst ent­schei­den kann, wider­set­ze ich mich allen Coro­na-Regeln oder Anord­nun­gen. Selbst­ver­ständ­lich neh­me ich – auf Wunsch der Alten – die Mas­ke ab, selbst­ver­ständ­lich hal­te ich den Abstand nicht ein, schon damit ich mich mit den Schwer­hö­ri­gen unter­hal­ten kann, selbst­ver­ständ­lich umar­me ich die Men­schen, hal­te ihre Hand, berüh­re sie eben. Nur so ent­steht Gebor­gen­heit und Ver­trau­en. Mei­ne Schütz­lin­ge wün­schen sich Nähe, und die­ser Wunsch ist grö­ßer als ihre Angst vor Coro­na. Und: Wann immer sie ster­ben, ob mit oder ohne Coro­na, ich will, dass sie sich bis zum letz­ten Tag ihres Lebens nicht allein, ver­ges­sen, unge­liebt füh­len. Und das funk­tio­niert nur über Berüh­rung. Über Nähe. Geht es um die Quan­ti­tät, um die Län­ge des Lebens, oder viel­leicht mehr um sei­ne Würde?

Das seit Coro­na stän­dig wie­der­hol­te Gere­de von den schüt­zens­wer­ten Alten ertra­ge ich nur mit einem Brech­ei­mer. Neu­sprech, eklig. Nach zehn Jah­ren pri­va­ter Alten­pfle­ge in Woh­nun­gen und Hei­men weiß ich, wie gleich­gül­tig die­ser Gesell­schaft die Alten sind. Ich ken­ne alles. Gefälsch­te Ent­las­sungs­brie­fe aus der Ger­ia­trie, die Reha-Maß­nah­men behaup­ten, die es nie gege­ben hat; der ver­geb­li­che Kampf mit der Kran­ken­kas­se um aus­rei­chen­de Men­gen von Inkon­ti­nenz­ma­te­ri­al, weil genü­gend Hilfs­mit­tel mit der Grund­si­che­rung nicht aus eige­ner Tasche zu bezah­len sind; die Abhän­gig­keit von ambu­lan­ten Pfle­ge­dien­sten, die man nicht kri­ti­sie­ren darf, weil sie ihren Kun­den jeder­zeit kün­di­gen kön­nen und es zu weni­ge Alter­na­ti­ven gibt; die zer­mür­ben­den Gesprä­che mit dem Medi­zi­ni­schen Dienst, um eine höhe­re Pfle­ge­stu­fe und damit etwas mehr Geld und Pfle­ge zu bekom­men; Nach­barn, die sich über den Rol­la­tor im Haus­flur auf­re­gen. Ich ken­ne die Zustän­de in vie­len Alten­hei­men – zu wenig Per­so­nal; alte Men­schen, die den gan­zen Tag auf einem Stuhl im Auf­ent­halts­raum sit­zen, die nie Besuch bekom­men; bet­teln­de Alte, deren 120 Euro Sozi­al­amts-Taschen­geld im Monat nicht für Zei­tun­gen, Ziga­ret­ten, Scho­ko­la­de, für neue Schu­he, einen neu­en Pull­over oder einen Cafè-Besuch reicht. Und jetzt plötz­lich sind die­se allein gelas­se­nen Alten beson­ders schüt­zens­wert? Das hieß und heißt: Zu ihrem eige­nen Schutz weg­ge­sperrt und end­gül­tig ent­mün­digt. Nach ihrer Mei­nung zu den Schutz­maß­nah­men wur­den und wer­den die Alten nicht gefragt. Also Qua­ran­tä­ne, kei­ne gemein­sa­men Mitt­tag­essen, geschlos­se­ne Cafe­te­ri­en, Besuchs- und Aus­geh­ver­bo­te, Mas­ken­pflicht, Trenn­schei­ben. In einem Gespräch mit mir begann ein Arzt zu wei­nen: »Wir brin­gen die­se Men­schen um. Schon weil das Gehirn ohne Kon­tak­te und Berüh­run­gen schnell abbaut.« Das sind Coro­na-Tote, die nicht am Virus gestor­ben sind. Nie­mand zählt sie.

Nein, es geht hier und jetzt in der »Coro­na-Kri­se« nicht um die Alten. Oder haben Sie schon etwas von neu­en Plä­nen gehört, die Ver­sor­gung und Pfle­ge der Alten men­schen­wür­dig zu ver­än­dern? Und es geht nicht um Soli­da­ri­tät. Es geht immer nur um das Ich in einer Gesell­schaft, in der der eige­ne Kör­per und die eige­ne Gesund­heit einen immer grö­ße­ren Stel­len­wert bekom­men haben. ICH will gesund sein, ICH will über­le­ben. Und die Not­stands­ge­set­ze sind zu mei­nem Schutz oder zum Schutz unse­rer Nation.

Ich befürch­te, dass die Infek­ti­ons-Not­stands­ge­set­ze im Namen des Gesund­heits­schut­zes die Bedin­gun­gen über­dau­ern, die sie her­vor­rie­fen. Die Zen­tra­li­sie­rung von Ent­schei­dungs­be­fug­nis­sen weckt Bedürf­nis­se, sie auch dann bei­zu­be­hal­ten, wenn die Kri­se vor­bei ist. Oder gleich die näch­ste Kri­se aus­zu­ru­fen. Auto­kra­tisch regier­ten Staa­ten kommt die Abschaf­fung der Nor­ma­li­tät ohne­hin ent­ge­gen, Über­wa­chung und Kon­trol­le gehö­ren zum poli­ti­schen Reper­toire. Doch im Wind­schat­ten von Coro­na machen auch wir hier in West­eu­ro­pa rie­si­ge Schrit­te in die glei­che Rich­tung. Im Namen der Gesund­heit. Aber »Gesund­heits­schutz und Frei­heits­rech­te dür­fen nicht gegen­ein­an­der aus­ge­spielt wer­den, Men­schen­le­ben nicht gegen Men­schen­rech­te«, wie es einer der Ossietzky-Her­aus­ge­ber, Rolf Gös­s­ner, erst kürz­lich wäh­rend einer Online-Tagung der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung for­mu­liert hat (nach­zu­le­sen in: D. F. Bertz (Hg.): Die Welt nach Coro­na, Bertz + Fischer, Ber­lin 2021, 732 Sei­ten, 24 €).

Was hier in Deutsch­land noch stört, ist der lästi­ge Föde­ra­lis­mus. Doch dafür hat­te gera­de eben der frü­he­re Bun­des­in­nen­mi­ni­ster Tho­mas de Mai­ziè­re eine tol­le Idee. Er schlägt eine Ände­rung des Grund­ge­set­zes vor, um für künf­ti­ge Kri­sen in Deutsch­land die Mög­lich­keit eines befri­ste­ten Aus­nah­me­zu­stands ein­zu­füh­ren. Die gegen­wär­ti­gen Ent­schei­dungs­ver­fah­ren – zum Bei­spiel über die Mini­ster­prä­si­den­ten­kon­fe­renz – ver­lang­ten in Kri­sen­si­tua­tio­nen zu viel Zeit, sag­te der CDU-Poli­ti­ker der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Sonn­tags­zei­tung. »In der Kri­se aber braucht man Tem­po, Ver­bind­lich­keit, kla­re Ver­ant­wort­lich­kei­ten.« Und nach der Coro­na-Pan­de­mie, so de Mai­ziè­re, wer­de auch die näch­ste Kri­se kom­men. Des­halb sei »die Rege­lung eines Aus­nah­me­zu­stan­des für Deutsch­land« unerlässlich.

Wer hier noch still bleibt, wer sich hier noch hin­ter sei­ner Mas­ke ver­steckt, wer hier nicht end­lich für die Wür­de und Gleich­heit von Men­schen­le­ben ein­tritt, wer hier nicht laut wird, der wird mit­ver­ant­wort­lich sein für eine digi­ta­le Gesund­heits­dik­ta­tur, in der sich der Wert eines Men­schen end­gül­tig nach Wohl­ver­hal­ten und Nütz­lich­keit bemisst.