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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Demokratie in Zeiten der Pandemie

Das Gere­de der selbst ernann­ten Quer­den­ker von einer »Coro­na-Dik­ta­tur« und ihre Selbst­in­sze­nie­rung als »Wider­stands­kämp­fer« im Gei­ste von Sophie Scholl zeu­gen ent­we­der von Geschichts­ver­ges­sen­heit oder bewuss­ter Ver­harm­lo­sung des NS-Faschis­mus. Denn Ein­däm­mungs­maß­nah­men gegen die Pan­de­mie sind unver­zicht­bar. Aber das Pro­ze­de­re von Bund und Län­dern ist in der Tat kri­tik­wür­dig: Auch fast ein Jahr nach Beginn der Pan­de­mie wer­den fast alle Ent­schei­dun­gen von der Exe­ku­ti­ve getrof­fen, wäh­rend die Par­la­men­te auf die Zuschau­er­bank ver­bannt sind.

Dar­in liegt, wie Rolf Gös­s­ner schon in Ossietzky 8/​2020 gewarnt hat, eine ernst zu neh­men­de Gefahr nicht nur für das demo­kra­ti­sche Selbst­ver­ständ­nis, son­dern auch für den Erfolg der Ein­däm­mungs­po­li­tik selbst.

Juri­stin­nen und Juri­sten haben in den ver­gan­ge­nen Mona­ten wie­der­holt auf die Wesent­lich­keits­theo­rie des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­rich­tes hin­ge­wie­sen: Maß­nah­men, die wesent­lich in die Frei­heits­rech­te der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger ein­grei­fen, dür­fen nicht den Regie­run­gen über­las­sen blei­ben, son­dern müs­sen von den Par­la­men­ten als gewähl­ten Ver­tre­tern der Bevöl­ke­rung beschlos­sen wer­den. Tat­säch­lich ist das bis heu­te nicht der Fall. Statt­des­sen ver­kün­det eine in der ver­fas­sungs­mä­ßi­gen Ord­nung über­haupt nicht vor­ge­se­he­ne Kun­gel­run­de aus Bun­des­kanz­le­rin und Lan­des­chefs regel­mä­ßig, inwie­fern Grund­rech­te noch aus­ge­übt wer­den dür­fen. Dabei ist die Fra­ge, ob man die eige­ne Woh­nung nur mit oder auch ohne Vor­lie­gen behörd­lich fest­ge­leg­ter »trif­ti­ger Grün­de« ver­las­sen darf, gewiss nicht unwesentlich.

Die Links­frak­ti­on im Bun­des­tag for­der­te im Novem­ber 2020 in einem Antrag, »Demo­kra­ti­sche Kon­trol­le auch in der Pan­de­mie« sicher­zu­stel­len. Kon­kret wird dar­in ver­langt, dem Bun­des­ge­sund­heits­mi­ni­ster die im März 2020 über­tra­ge­nen Ver­ord­nungs­er­mäch­ti­gun­gen wie­der abzu­neh­men. In Bund und Län­dern soll­ten die Par­la­men­te wie­der als Sou­ve­rän ein­ge­setzt wer­den. Grund­rechts­ein­schrän­ken­de Ver­ord­nun­gen müss­ten befri­stet, begrün­det und klar defi­niert werden.

Das von der Koali­ti­ons­mehr­heit am 18. Novem­ber 2020 ver­ab­schie­de­te neue Infek­ti­ons­schutz­ge­setz kann zwar kei­nes­wegs, wie von Quer­den­kern und AfD behaup­tet, mit dem Ermäch­ti­gungs­ge­setz der Nazis von 1933 gleich­ge­setzt wer­den. Doch wird es den For­de­run­gen nach Ent­schei­dungs­kom­pe­tenz der Par­la­men­te und Nor­men­klar­heit nicht gerecht, wes­we­gen ihm die Links­frak­ti­on auch die Zustim­mung ver­wei­gert hat. Es macht zwar die Anwen­dung von Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen zur Coro­na-Ein­däm­mung davon abhän­gig, dass der Bun­des­tag die »pan­de­mi­sche Lage von natio­na­ler Trag­wei­te« beschließt. Aber über den kon­kre­ten Umfang der Ein­schrän­kun­gen ent­schei­den nach wie vor die Exe­ku­ti­ven. Der neue Para­graph sieht bei­spiels­wei­se »Kon­takt­be­schrän­kun­gen« vor. Aber was kon­kret beim Errei­chen wel­cher Inzi­denz auf einen zukommt, weiß man vor­her nicht. Man ver­harrt in Erwar­tung der näch­sten Regie­rungs­be­schlüs­se. Die­se müs­sen jetzt zwar befri­stet wer­den, was aber auch bis­her schon gemacht wur­de. In der Pra­xis bedeu­tet das nur, dass sie alle drei bis vier Wochen ver­län­gert wer­den können.

Die LINKE hat­te gefor­dert, »unter Rück­griff auf unab­hän­gi­gen und inter­dis­zi­pli­nä­ren Sach­ver­stand die Wirk­sam­keit der Maß­nah­men des Infek­ti­ons­schut­zes und ihre Aus­wir­kun­gen auf alle Berei­che der Gesell­schaft zu eva­lu­ie­ren und ihre Ergeb­nis­se dem Bun­des­tag vor­zu­le­gen«. Die­ser Ruf ver­hallt bis heu­te. Auf par­la­men­ta­ri­sche Anfra­gen der Links­frak­ti­on, wel­che Erkennt­nis­se es zur kon­kre­ten Wir­kung ein­zel­ner Maß­nah­men im ersten Lock­down gebe, ver­wies die Bun­des­re­gie­rung schon im Früh­som­mer ledig­lich dar­auf, dass die Sum­me der Maß­nah­men gewirkt habe, weil die Infek­ti­ons­zah­len zurück­gin­gen. Auch spä­ter zeig­te die Bun­des­re­gie­rung kein Inter­es­se, genau­er her­aus­zu­fin­den, wel­che Maß­nah­men tat­säch­lich etwas nüt­zen, und wel­che eher ver­zicht­bar sind.

Sind die Kon­takt­li­sten in Gast­stät­ten wirk­lich hilf­reich, um Infek­ti­ons­ket­ten zu unter­bre­chen? »Kei­ne Erkennt­nis­se«. Müs­sen Ein­rei­sen­de aus »Risi­ko­ge­bie­ten« wirk­lich in Qua­ran­tä­ne, weil sie infek­tiö­ser sind als Rei­sen­de inner­halb Deutsch­lands? Es »kann sich ein erhöh­tes Infek­ti­ons­ri­si­ko im Aus­land auch aus einem mit dem Inland nicht ver­gleich­ba­ren Maß­nah­men­rah­men zur Bewäl­ti­gung der Pan­de­mie erge­ben«, so die Bun­des­re­gie­rung. Es »kann« also sein, dass man sich im Aus­land eher infi­ziert. Ob es wirk­lich so ist, weiß kei­ner, und den­noch müs­sen die Betref­fen­den zehn Tage in Qua­ran­tä­ne ver­brin­gen. Womög­lich hat die Bun­des­re­gie­rung ein infek­ti­ons­trei­ben­des »Bal­ler­mann-Sze­na­rio« vor Augen. Nur: Wo ist denn der­zeit noch ein Bal­ler­mann geöffnet?

Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen unter­lie­gen dem Ver­hält­nis­mä­ßig­keits­ge­bot. Sie sind nur legi­tim, sofern sie geeig­net und not­wen­dig sind. Ein­schrän­kun­gen nach dem Mot­to »viel hilft viel«, ohne Nut­zen und Not­wen­dig­keit prä­zi­se zu bele­gen, sind, zumal auf län­ge­re Sicht, grundrechtswidrig.

Um nicht falsch ver­stan­den zu wer­den: Die Ein­däm­mung der Pan­de­mie ist drin­gend gebo­ten. In die­sen Zei­ten die glei­chen Frei­heits­rech­te aus­üben zu wol­len wie sonst auch, wür­de im Ergeb­nis dar­auf hin­aus­lau­fen, das Infek­ti­ons- und damit auch das Ster­be­ri­si­ko nicht nur für sich, son­dern auch für ande­re Men­schen beträcht­lich zu erhö­hen. Die »Frei­heit«, von der die soge­nann­ten Quer­den­ker schwa­dro­nie­ren, ist purer Sozi­al­dar­wi­nis­mus, die Frei­heit zum Egoismus.

Dass in der Pan­de­mie­ein­däm­mung Feh­ler gemacht wer­den, ist nicht das Pro­blem. Pro­ble­ma­tisch sind die Intrans­pa­renz der Ent­schei­dungs­fin­dung, die Selbst­ge­rech­tig­keit der Exe­ku­ti­ve und ihr offen­kun­di­ges Her­um­ex­pe­ri­men­tie­ren, das sie als unver­meid­ba­ren Sach­zwang ver­kauft. Nicht zuletzt: Die lei­der berech­tig­te Ahnung vie­ler Men­schen, dass es am Ende nicht die Rei­chen sein wer­den, die die Kosten bezah­len müssen.

Je mehr die Ein­däm­mung der Pan­de­mie wie eine will­kür­li­che Repres­si­on aus­sieht, je mehr unsin­ni­ge, nicht mehr ver­mit­tel­ba­re Rege­lun­gen erson­nen wer­den, desto weni­ger Akzep­tanz wer­den die­se Maß­nah­men erfah­ren, desto mehr Was­ser fließt auf die Müh­len der »Quer­den­ker« und Nazis.

Statt­des­sen wäre es Zeit für einen Wech­sel des Ansat­zes: Bis zum heu­ti­gen Tag liegt der Kern der Ein­schrän­kun­gen dar­in, den pri­va­ten Bereich zu regle­men­tie­ren. Ver­bo­ten ist, was Spaß macht – ins Café gehen, sich mit (meh­re­ren) Freun­den tref­fen, ver­rei­sen … Gebo­ten bleibt dage­gen meist: In öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln wäh­rend des Berufs­ver­kehrs wei­ter­hin dicht gedrängt zur Arbeit fah­ren, sich in Fabri­ken, Lager­hal­len und Büros stun­den­lang gemein­sam mit Kol­le­gen auf­hal­ten, häu­fig ohne Chan­ce, den Abstand ein­zu­hal­ten. Aber wehe, es wol­len nach Fei­er­abend drei Kol­le­gen noch die Köp­fe zusammenstecken …

Es wäre an der Zeit, die­ses Prin­zip auf­zu­ge­ben. War­um sol­len immer nur pri­va­te Kon­tak­te ein­ge­schränkt wer­den? Von den vie­len Fabri­ken und Büros, die wei­ter­hin in Betrieb sind, sind längst nicht alle über­le­bens­not­wen­dig. Machen wir sie, wenig­stens für ein paar Wochen, doch zu! Selbst­ver­ständ­lich bei vol­lem Lohnausgleich.

Indu­strie­ver­tre­ter haben auf ent­spre­chen­de For­de­run­gen (etwa: https://zero-covid.org/) schon panisch reagiert und war­nen vor einem Kol­laps der Wirt­schaft. Da müss­te man aller­dings die Gegen­rech­nung auf­ma­chen: Ein kur­zer, kom­plet­ter Lock­down, der dann auch die Indu­strie trifft, dürf­te unterm Strich kaum teu­rer sein als ein lan­ger, teil­wei­ser, wie er seit Mona­ten in Kraft ist und den Ein­zel­han­del, Kul­tur­be­trie­be und Gastro­no­mie zugrun­de rich­tet und die Mas­se der Solo­selbst­stän­di­gen in die Armut treibt

Ob ein ech­ter Lock­down tat­säch­lich zur mas­si­ven Sen­kung der Infek­ti­ons­zah­len bei­trägt, kann natür­lich nie­mand sagen. Es wäre ein Expe­ri­ment. Zumin­dest aus ver­schie­de­nen asia­ti­schen Län­dern gibt es dies­be­züg­lich posi­ti­ve Erfah­run­gen. Aber wenn mit den Frei­heits­rech­ten der Bür­ger seit bald einem Jahr expe­ri­men­tiert wird, war­um dann nicht auch ein­mal mit den Eigen­tums­rech­ten der Unternehmer?