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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Deutschlands Abhängigkeiten

Im poli­ti­schen Sprach­ge­brauch der der­zei­ti­gen deut­schen Ampel-Regie­rung haben beson­ders die Begrif­fe »Abhän­gig­keit« und »Zei­ten­wen­de« Hoch­kon­junk­tur. Deutsch­land muss sich, so dröhnt es aus dem öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hen und in Poli­ti­ker­re­den im Deut­schen Bun­des­tag, aus Russ­lands Abhän­gig­keit befrei­en. Die Ver­trä­ge mit Lie­fe­run­gen von Öl, Gas, Koh­le und Getrei­de aus Russ­land hät­ten die Bun­des­re­pu­blik in ihrer außen­po­li­ti­schen Beweg­lich­keit ein­ge­schränkt. Beque­me Belie­fe­run­gen über Pipe­lines aus Russ­land wur­den gekün­digt. Mini­ste­ria­le Ama­teu­re unse­rer Ampel­re­gie­rung jet­ten durch die Welt, um anders­wo um Gas, Öl und Koh­le, selbst bei »Dik­ta­to­ren« und in »Auto­kra­tien«, zu bet­teln und teu­rer ein­zu­kau­fen. Gleich­zei­tig über­schla­gen sie sich in Ankün­di­gun­gen, dass – mut­maß­lich – unser Volk und die Völ­ker in Euro­pa bzw. die Armen die­ser Welt im kom­men­den Win­ter und auch dar­über hin­aus »durch Putins Krieg gegen die Ukrai­ne« mit Preis­stei­ge­run­gen und Ein­spa­run­gen aller Art zu rech­nen hät­ten. In der Ära Mer­kel wären mit Russ­land fal­sche Ver­trä­ge abge­schlos­sen wor­den – die jetzt den Kanz­ler stel­len­de SPD hat­te unter Mer­kel meist Außen- und Finanz­mi­ni­ste­ri­um in ihrer Hand. Wahr­lich eine »Zei­ten­wen­de«!

Die­ses mono­to­ne Geschwa­fel und die zum Teil emo­tio­nal über­stei­ger­ten, pene­tran­ten Hass­ti­ra­den gegen Russ­land und sei­nen Prä­si­den­ten, z. B. durch Herrn Merz (CDU) und die von histo­ri­schem Wis­sen weit­ge­hend unge­trüb­te Außen­mi­ni­ste­rin Baer­bock (B‘90/Grüne) – die »Russ­land rui­nie­ren« will –, müss­ten eigent­lich das Volk auf­rüt­teln. Es muss die Regie­rung zwin­gen, in der Außen­po­li­tik end­lich deut­sche Inter­es­sen zu ver­tre­ten und nicht die der USA. Die Been­di­gung der seit 1949 bestehen­den Vor­mund­schaft der USA wäre eine ech­te »Zei­ten­wen­de« in der deut­schen Außenpolitik.

Der Krieg Russ­lands gegen die Ukrai­ne – des­sen Vor­ge­schich­te und Hin­ter­grün­de bun­des­deut­sche Medi­en kaum inter­es­sie­ren – ist unstrit­tig völ­ker­rechts­wid­rig, aber nicht der wirk­li­che Grund für den mit »Straf­pa­ke­ten« gespick­ten, anma­ßen­den wirt­schafts­po­li­ti­schen Kreuz­zug von USA und Nato gegen Russ­land. Wirt­schafts­sank­tio­nen gegen Russ­land sind bereits Krieg, Wirt­schafts­krieg, noch dazu, wenn zeit­gleich eine gigan­ti­sche deut­sche mili­tä­ri­sche Auf­rü­stung betrie­ben wird. Gegen wen ist sie gerich­tet, und wer sind die Nutz­nie­ßer? Zei­ten­wen­de hin zum Krieg?

Wenn Russ­lands Prä­si­dent Putin wegen des Ein­mar­sches in die Ukrai­ne als Kriegs­ver­bre­cher denun­ziert wird, dann hät­ten vor ihm eini­ge USA-Prä­si­den­ten und Chefs euro­päi­scher Nato-Staa­ten wegen von ihnen zu ver­ant­wor­ten­der Kriegs­ver­bre­chen in Viet­nam, gegen Jugo­sla­wi­en, Afgha­ni­stan, Irak, Liby­en, Syri­en – um nur eini­ge Bei­spie­le zu nen­nen – schon längst vor Gericht gestellt und ver­ur­teilt wer­den müs­sen. USA und Nato fei­er­ten sich auf dem G-7-Gip­fel Ende Juni 2022 in Bay­ern als Schöp­fer einer neu­en Frie­dens­ord­nung für Euro­pa, ohne Russ­land und unter Füh­rung Deutsch­lands. Alle waren sicht­lich erha­ben über ihre offen demon­strier­te poli­ti­sche Doppelmoral.

Russ­land ist der größ­te Staat in Euro­pa und in der Welt. Ver­trä­ge Deutsch­lands mit Russ­land beruh­ten auf dem Grund­satz des gegen­sei­ti­gen Vor­teils, wie es bei gleich­be­rech­tig­ten Staa­ten die Regel ist und in der Schluss­ak­te der KSZE von 1975 zwi­schen den Teil­neh­mer­staa­ten fest­ge­schrie­ben war. Bei­de Sei­ten haben sich bewusst in »Abhän­gig­keit« von­ein­an­der bege­ben, weil die glo­ba­len Pro­ble­me Kli­ma, Ener­gie, Welt­ar­mut u. a. nur mul­ti­la­te­ral zu lösen sind, weil man sich ver­trau­en konn­te und die­se Abkom­men über Jahr­zehn­te zuver­läs­sig ein­ge­hal­ten wor­den sind. Im Unter­schied dazu for­dert die gegen­wär­ti­ge USA-Regie­rung mit ihren Welt­macht­al­lü­ren von ihren Bünd­nis­part­nern in der Nato, bestehen­de gün­sti­ge Ver­trä­ge mit Russ­land zu kün­di­gen, d. h. ver­trags­brü­chig zu wer­den, und gegen ungün­sti­ge­re und teu­re­re Abkom­men ein­zu­tau­schen, betr. Gas und Öl mit den USA. Und die Bun­des­re­gie­rung unter Olaf Scholz springt. Wer sol­che Freun­de hat, der braucht kei­ne Feinde.

Das alles gewinnt noch dadurch an Pikan­te­rie, dass der welt­erfah­re­ne Polit­pro­fi Hen­ry Kis­sin­ger auf dem Win­ter­gip­fel­tref­fen 2022 in Davos den glei­chen Poli­ti­kern aus Nato und EU beschwö­rend erklärt hat, dass ihre Poli­tik gegen Russ­land abso­lut falsch sei. Kis­sin­ger ist wahr­lich kein Putin-Ver­ste­her, son­dern ein Anti­kom­mu­nist der übel­sten Sor­te. Sein noto­ri­scher Anti­kom­mu­nis­mus ver­ne­belt aber nicht sei­ne ana­ly­ti­schen Fähig­kei­ten, die er als USA-Außen­mi­ni­ster stets im Inter­es­se der USA ein­setz­te. Kis­sin­ger ver­stand und ver­steht sich als ein Patri­ot sei­nes Lan­des, der auch vor Ver­bre­chen nicht zurück­ge­schreckt ist, wenn es für die USA nütz­lich war (z. B. die Ermor­dung Allen­des in Chile).

In Davos 2022 erklär­te Kis­sin­ger nun, der Ukrai­ne-Krieg muss schnell­stens durch Ver­hand­lun­gen been­det wer­den, »bevor es zu Ver­wer­fun­gen und Span­nun­gen kommt, die nicht leicht zu über­win­den sind. (…) Den Krieg (…) fort­zu­set­zen, wür­de nicht die Frei­heit der Ukrai­ne betref­fen, son­dern einen neu­en Krieg gegen Russ­land selbst bedeu­ten.« Weder Schwe­den, Napo­le­on, vier­zehn kapi­ta­li­sti­sche Staa­ten, die von 1918 bis 1922 Sowjet­russ­land über­fal­len hat­ten, und schon gar nicht Hit­ler­deutsch­land haben ihre Krie­ge gegen Russ­land gewon­nen. Für Kis­sin­ger gehört zum Hand­werks­zeug jeder Diplo­ma­tie, vor Ver­trags­ab­schluss die Inter­es­sen des Gegen­übers zu beach­ten und zu den eige­nen Inter­es­sen ins Ver­hält­nis zu set­zen. Russ­lands Inter­es­se auf Sicher­heit hält Kis­sin­ger für voll­auf berech­tigt. Die jet­zi­ge fal­sche Russ­land­po­li­tik der USA und Nato treibt Russ­land, so Kis­sin­ger, »in die Arme Chi­nas« – Chi­na ist für die USA Kon­kur­rent Num­mer eins – was Chi­na stär­ken und die USA schwä­chen wür­de. Der Nato-Gip­fel vom 28./29. Juni 2022 bezeich­ne­te »Russ­land als größ­te Bedro­hung der Nato« und damit de fac­to des Frie­dens und »Chi­na als die größ­te Her­aus­for­de­rung« in der Gegen­wart und Zukunft. Kis­sin­gers War­nung wur­den von der Nato und Prä­si­dent Selen­skyj selbst­herr­lich igno­riert, Selen­skyj for­der­te sogar den Aus­schluss Russ­lands aus der UNO. (Ange­merkt sei, ich habe weder in deut­schen TV-Nach­rich­ten­sen­dun­gen noch ande­ren offi­zi­el­len Medi­en Infor­ma­tio­nen über Kis­sin­gers Rede gefunden.)

Fried­rich Merz, die­ser Zög­ling des USA-Finanz­we­sens und gegen­wär­tig CDU-Vor­sit­zen­der, for­der­te am 1. Juni 2022 im Deut­schen Bun­des­tag, die deut­sche Poli­tik gegen­über Indi­en, Chi­na u. a. Staa­ten zu über­prü­fen, weil sie der Ver­ur­tei­lung Russ­lands nicht zuge­stimmt haben. In die­sem Atem­zug monier­te er, dass Klaus von Dohn­anyi, ein ange­se­he­ner, eigen­stän­dig den­ken­der Demo­krat mit anti­fa­schi­sti­schen Tra­di­tio­nen im fami­liä­ren Hin­ter­grund, in öffent­li­chen Dis­kus­sio­nen »Putin ver­tei­digt« hät­te. Main­stream kommt vor Meinungsfreiheit!

Wie bor­niert müs­sen Poli­ti­ker und Medi­en­bos­se sein, die Putin als ver­trags­brü­chig beschimp­fen, weil er Gas- bzw. Öllie­fe­run­gen kürzt? Offen­sicht­lich wird ver­ges­sen, dass die Embar­go­po­li­tik des Westens vor­aus­ge­gan­gen ist, an deren Betei­li­gung ande­re Staa­ten de fac­to genö­tigt wor­den sind, eben­falls ver­trags­brü­chig zu wer­den. Die rus­si­sche Regie­rung hält dage­gen. Durch die­se Ver­trags­brü­che wird Russ­land in Zukunft auf kei­ne Abhän­gig­keit zu Nato- und EU-Staa­ten ein­ge­hen. Die Embar­go­po­li­tik des Westens stran­gu­lier­te auch den Han­del zwi­schen den KSZE-Staaten.

Die von Herrn Merz hoch­ge­prie­se­ne »Char­ta von Paris« 1991 war kei­ne Wei­ter­ent­wick­lung der KSZE, son­dern ihre Demon­ta­ge. Die west­li­chen Nato-Staa­ten bestimm­ten nun in Fra­gen über Frie­den und Sicher­heit in Euro­pa, nicht mehr die KSZE. Die Wirt­schafts­po­li­tik wur­de von der EU domi­niert. Der Teil Kul­tu­rel­le Bezie­hun­gen der Schluss­ak­te von Hel­sin­ki 1975 wur­de zum Kern der OSZE (Orga­ni­sa­ti­on für Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit). Die OSZE beschäf­tigt sich mit der Ver­brei­tung west­li­cher Demo­kra­tie­vor­stel­lun­gen und Wahl­be­ob­ach­tun­gen. Ende 1992 wur­de in den »Ver­tei­di­gungs­po­li­ti­schen Richt­li­ni­en für die Bun­des­wehr« erst­ma­lig seit 1949 fest­ge­hal­ten, dass zu ihren Auf­ga­ben auch Frei­hal­tung und Schutz der Han­dels­we­ge zu Roh­stof­fen gehö­ren. Noch im 20. Jahr­hun­dert führ­te die Nato Krieg gegen Jugo­sla­wi­en, ein Mit­glied von KSZE und OSZE.

Wer im Krieg Russ­lands gegen die Ukrai­ne den Beginn einer »Zei­ten­wen­de« sieht, der über­sieht, dass seit 1990 die müh­sam erar­bei­te­te erste euro­päi­sche Frie­dens­ord­nung nach dem Zwei­ten Welt­krieg, die KSZE, zu Fall gebracht wor­den ist, pri­mär von den USA und der Regie­rung Hel­mut Kohl. Da Bun­des­prä­si­dent Stein­mei­er am 3. Juli 2022 vom »Epo­chen­bruch« gespro­chen hat, wäre dar­an zu erin­nern, dass deut­sche »Epo­chebe­stim­mun­gen« meist Wunsch­den­ken mit Selbst­über­schät­zun­gen waren. Ein »Bruch« im Nach­kriegs­ver­lauf ist 1990/​1991 ein­ge­tre­ten. Sei­ne Merk­ma­le waren Ein­glie­de­rung der DDR in die BRD, die Selbst­auf­lö­sung der Sowjet­uni­on und des Mili­tär­bünd­nis­ses War­schau­er Ver­trag und die Unter­wer­fung der KSZE durch Nato und EU. Das im Kal­ten Krieg ent­stan­de­ne Kräf­te­ver­hält­nis zwi­schen Ost und West gab es nicht mehr. Die Nato – 1948 als west­li­cher Mili­tär­block gegen Russ­land gegrün­det – wei­te­te ihren Ein­fluss nach Osten bis an die Gren­zen Russ­lands aus und miss­ach­te­te die Sicher­heits­in­ter­es­sen Russ­lands. Es ent­stand ein gewalt­be­rei­tes System von Unsi­cher­hei­ten und Abhän­gig­kei­ten. Das Säbel­ge­ras­sel ame­ri­ka­ni­scher, deut­scher, ukrai­ni­scher und ande­rer hel­den­süch­ti­ger mili­tan­ter Groß­mäu­ler spitzt die inter­na­tio­na­le Lage wei­ter zu. Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz fürch­tet wegen der mit Kriegs­un­ter­stüt­zung von Nato und EU in der Ukrai­ne ver­bun­de­nen Infla­ti­on in Deutsch­land und Euro­pa sozia­le Erhe­bun­gen. Die­se Sor­ge ist berechtigt.