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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die alte Leier: 69 + 4

Öko­no­men haben kei­nen guten Ruf. Schon Karl Valen­tin sin­nier­te, dass Pro­gno­sen nun mal schwie­rig sind, beson­ders wenn sie die Zukunft betref­fen. Sie lie­gen stets dane­ben, weil sie ein­sei­tig bestimm­te Aspek­te über- und ande­re unter­be­wer­ten. Die Hell­se­her der Öko­no­mie kor­ri­gie­ren ihre Vor­aus­sa­gen nie etwa beschämt, son­dern mit gro­ßem Gedöns und unge­bro­che­nem Selbstvertrauen.

Jetzt haben die Öko­no­mie­ex­per­ten der Bun­des­bank her­aus­ge­fun­den, dass die Leu­te bis zum 69. Lebens­jahr arbei­ten müss­ten und noch vier Mona­te oben­drauf, damit das stra­pa­zier­te deut­sche Ren­ten­sy­stem nicht kol­la­bie­re. Die Ren­te erst so spät aus­zu­zah­len, erscheint aus einem bestimm­ten Blick­win­kel plau­si­bel. Die Erwerbs­tä­ti­gen zah­len Ver­si­che­rungs­bei­trä­ge in den Ren­ten­fonds ein. Aus die­sem Fonds wer­den die aktu­el­len Ren­ten gezahlt. Man nennt das Finan­zie­rungs­mo­dell den Gene­ra­tio­nen­ver­trag. Die Jun­gen sor­gen für die Alten. Das System funk­tio­niert so lan­ge, wie das Ein­zah­lungs­vo­lu­men den Aus­zah­lungs­be­darf deckt. Eine stei­gen­de Zahl von Rent­nern kann nur ver­sorgt wer­den, wenn ent­we­der die Ver­si­cher­ten mehr oder/​und län­ger ein­zah­len oder die Ren­ten gekürzt wer­den. Das Pro­blem sei, dass immer weni­ger arbei­te­ten, wäh­rend die Zahl der Nicht­er­werbs­tä­ti­gen zuneh­me. Der Rück­gang der Gebur­ten­zahl und die stei­gen­de Lebens­er­war­tung führ­ten dazu, dass die Zahl der Alten im Ver­gleich zu den im Arbeits­al­ter ste­hen­den Per­so­nen stei­ge. Neo­li­be­ra­le Öko­no­men ver­lan­gen aus die­sem Grund, die Lebens­ar­beits­zeit zu ver­län­gern und damit die Ren­ten­be­zugs­dau­er zu kürzen.

Es soll Demo­gra­fen geben, die die Berech­nun­gen über die Zahl der Deut­schen und ihre Zusam­men­set­zung bis 2050 für rei­nen Hum­bug hal­ten. »Ende des 19. Jahr­hun­derts«, bemerk­te der Kaba­ret­tist Peter Ensi­kat, »sol­len Sta­ti­sti­ker aus­ge­rech­net haben, dass ange­sichts der stän­dig wach­sen­den Zahl der Pfer­de­drosch­ken Ber­lin spä­te­stens im Jah­re 1950 im Pfer­de­mist erstickt wäre.« (Ensi­kat: »Wo der Spaß auf­hört«, Ber­lin 2010, S. 197) Fällt nie­man­dem auf, dass die Zahl der Alten nicht stän­dig stei­gen kann, wenn von Jahr zu Jahr weni­ger Kin­der gebo­ren wer­den? Seit 1964 sin­ken die Gebur­ten­zah­len in Deutsch­land, 1972 erst­mals unter eine Mil­li­on pro Jahr. Ab 2012 stei­gen sie, errei­chen 2016 mit 792.141 Gebo­re­nen den höch­sten Wert seit 2000. In den bei­den Fol­ge­jah­ren geht die Zahl wie­der etwas zurück. Lang­fri­stig ent­spannt sich die Lage von selbst. Ab 2030 wird die Zahl der Alten sin­ken. Es ist bezeich­nend, dass es Kaba­ret­ti­sten bedarf, um hin­ter den Schwach­sinn der »Sach­ver­stän­di­gen« zu kom­men. »Nach allem, was uns die Demo­gra­fen heu­te vor­aus­sa­gen, sind die Rent­ner die Ein­zi­gen, die sich bei uns noch ver­meh­ren … War­um haben die Demo­gra­fen unse­ren Müt­tern nur nicht recht­zei­tig pro­phe­zeit, dass aus den vie­len Kin­dern, die sie frü­her unter Schmer­zen zur Welt gebracht haben, letzt­end­lich ein­mal fast genau­so vie­le Rent­ner wür­den?« (Ensi­kat 2010, S. 193 f.)

Es gibt vie­le ver­nünf­ti­ge Vor­schlä­ge, das bis­he­ri­ge Umla­ge­ver­fah­ren der Ren­ten­fi­nan­zie­rung zu erhal­ten, ohne die Lebens­ar­beits­zeit zu ver­län­gern, wozu Men­schen in vie­len Beru­fen gar nicht in der Lage sind. So könn­te man, um das Bei­trags­auf­kom­men der Ren­ten­kas­sen zu erhö­hen, die Beschäf­ti­gungs­la­ge nach­hal­tig ver­bes­sern, die Min­dest­löh­ne erhö­hen und ihre Ein­hal­tung streng über­wa­chen, die Bei­trags­be­mes­sungs­gren­ze an- oder auf­he­ben, Nied­rig­löh­ne abschaf­fen, den Trend zu pre­kä­ren, sozi­al­ver­si­che­rungs­frei­en und Mini­jobs stop­pen, die Zuwan­de­rung von Arbeits­kräf­ten erleich­tern, wei­te­re Bevöl­ke­rungs­grup­pen, zum Bei­spiel Beam­te, Poli­ti­ker, Frei­be­ruf­ler, in die Pflicht­ver­si­che­rung und außer Lohn und Gehalt auch ande­re Ein­kom­men in die gesetz­li­che Ren­ten­ver­si­che­rung ein­be­zie­hen, die Ein­stel­lungs­be­reit­schaft der Unter­neh­mer stär­ken und die Wei­ter­bil­dungs­mög­lich­kei­ten ver­bes­sern. So begrü­ßens­wert das alles ist, bleibt doch Skep­sis, ob auf die­se Wei­se die sozi­al­ver­träg­li­che Lösung der »Ren­ten­fra­ge« gelin­gen kann. Letzt­lich gehen die Vor­schlä­ge davon aus, dass Poten­ti­al für Wachs­tum vor­han­den sei. In gesät­tig­ten und altern­den Gesell­schaf­ten aber wächst die Nach­fra­ge nach Kon­sum- und Inve­sti­ti­ons­gü­tern nicht in dem Maße, das erfor­der­lich ist, um in nen­nens­wer­tem Umfang neue Arbeits­plät­ze zu schaf­fen. Ist es so schwer ein­zu­se­hen, dass es eines ande­ren Systems der Finan­zie­rung bedarf, wenn mit dem bis­he­ri­gen die Pro­ble­me nicht mehr gestemmt wer­den kön­nen? Ist ein ande­res Finan­zie­rungs­sy­stem möglich?

Bei ganz­heit­li­cher, kom­ple­xer Ana­ly­se erkennt man, dass die sozia­len Siche­rungs­sy­ste­me nur vor­der­grün­dig Inter­es­sen­ge­gen­sät­ze zwi­schen Jun­gen und Alten, Kran­ken und Gesun­den, Beschäf­tig­ten und Arbeits­lo­sen aus­glei­chen müs­sen. Der ent­schei­den­de Kon­flikt ist der zwi­schen Arm und Reich. Der anhal­ten­de Pro­duk­ti­vi­täts­an­stieg und die Erhö­hung des Volks­ein­kom­mens ver­bes­sern die Mög­lich­kei­ten, die erwerbs­lo­sen Men­schen am Wohl­stand der Nati­on zu betei­li­gen. Das Volks­ein­kom­men pro Kopf der Bevöl­ke­rung – ver­ein­facht die Sum­me aus Löh­nen und Pro­fi­ten – hat sich von 1991 bis 2018 fast ver­dop­pelt, von 15.404 auf 30.202 Euro. Die Sta­ti­stik trügt nicht: Es gibt nicht weni­ger, son­dern mehr zu ver­tei­len. Wir haben kein Ren­ten-, son­dern ein Ver­tei­lungs­pro­blem. Die Gret­chen­fra­ge ist, wer in wel­chem Maße und auf wel­che Wei­se am Pro­duk­ti­vi­täts­an­stieg und am Wachs­tum des Volks­ein­kom­mens par­ti­zi­pie­ren soll. Die Zah­len zei­gen ein­deu­tig: Eine Gesell­schaft, die durch den tech­ni­schen Fort­schritt rei­cher wird, ist mühe­los in der Lage, jene ange­mes­sen am Wohl­stands­zu­wachs zu betei­li­gen, die für die Güter­er­zeu­gung nicht mehr benö­tigt wer­den oder die aus Alters­grün­den aus dem Arbeits­le­ben aus­schei­den. Dazu darf aber das Ein­kom­mens- und Ver­mö­gens­ge­fäl­le nicht wie bis­her zunehmen.

Die Bei­be­hal­tung des bewähr­ten umla­ge­fi­nan­zier­ten Ren­ten­sy­stems soll­te durch eine steu­er­ge­stütz­te Finan­zie­rung ergänzt wer­den. Dabei müss­ten die Ren­ten nicht mehr an die Ent­wick­lung der Löh­ne, son­dern an die des Volks­ein­kom­mens, der Prei­se und der Pro­duk­ti­vi­tät gekop­pelt wer­den. Zuschüs­se aus dem Staats­haus­halt glei­chen die Dif­fe­renz zwi­schen dem Auf­kom­men an Bei­trä­gen und dem Aus­zah­lungs­be­darf aus. Die Kom­bi­na­ti­on ist sinn­voll, wenn sie mit einer grö­ße­ren Steu­er­ge­rech­tig­keit ver­knüpft wird. Der Fis­kus darf den Arbei­ten­den in Form höhe­rer Abga­ben nicht neh­men, was die Ren­ten­kas­se den Jün­ge­ren durch den Ver­zicht auf stei­gen­de Ver­si­che­rungs­bei­trä­ge belässt. Ruhe­ständ­lern aus dem Staats­säckel zu hel­fen, ist nur recht und bil­lig. Schließ­lich haben die Alten auch ein Leben lang in jenes ein­ge­zahlt. Haus­halts­nö­te? Geld ist genü­gend da. Wie lan­ge soll der Bevöl­ke­rung zuge­mu­tet wer­den, dass ihre Steu­ern ver­schwen­det, für Kriegs­ein­sät­ze ver­pul­vert, für die Ret­tung spe­ku­lie­ren­der Ban­ken ein­ge­setzt und als Sub­ven­tio­nen an rei­che Unter­neh­men flie­ßen, wor­aus die­se die Pro­duk­ti­on von Über­schüs­sen finan­zie­ren? War­um auf Trump hören und zwei Pro­zent des Sozi­al­pro­dukts für Rüstung und Mili­tär aus­ge­ben? In Deutsch­land wären das jähr­lich etwa 70 Mil­li­ar­den Euro. Zehn Pro­zent davon wären ange­sichts feh­len­der Bedro­hung von außen noch immer mehr als genug. Nicht nur Aus­ga­ben­kür­zun­gen an der rich­ti­gen Stel­le sind mög­lich. Auch zusätz­li­che Ein­nah­me­quel­len gibt es: Man kann unter ande­rem den Spit­zen­steu­er­satz und den Kör­per­schaft­steu­er­satz anhe­ben, hohe Ver­mö­gen und Finanz­trans­ak­tio­nen besteu­ern, Steu­er­flucht unter­bin­den und die Erb­schafts- und Schen­kungs­steu­er reformieren.

Mit einem neu­en Finan­zie­rungs­sy­stem kann eine Gesell­schaft, die durch die Zunah­me der Pro­duk­ti­vi­tät immer rei­cher wird, das nomi­na­le Ren­ten­ni­veau nicht nur garan­tie­ren, son­dern die Alten am wach­sen­den Reich­tum in ange­mes­se­ner Wei­se betei­li­gen. Und sie muss auch nicht das Ren­ten­al­ter hoch­set­zen. Es kommt nicht dar­auf an, wie sich die Rela­ti­on zwi­schen Erwerbs­tä­ti­gen zu Nicht­er­werbs­tä­ti­gen, son­dern das Ver­hält­nis des ver­teil­ba­ren Reich­tums einer Gesell­schaft zur Anzahl ihrer Mit­glie­der ändert. Und die­se Zahl steigt! Des­halb ist der Sozi­al­staat prin­zi­pi­ell in der Lage, ein Ren­ten­sy­stem zu schaf­fen, dass es den Alten nach einem arbeits­rei­chen Leben ermög­licht, ab dem 60. Jahr ein ent­spann­tes und aus­ge­gli­che­nes Dasein ohne Lei­stungs- und Exi­stenz­druck zu füh­ren. Der Mensch hat das Recht, ab dem 60., spä­te­stens ab dem 65. Lebens­jahr gesund und im Ein­klang mit See­le und Natur sei­nen Lebens­abend zu genie­ßen. Neo­li­be­ra­le For­de­run­gen, die das Gegen­teil wol­len, sind wirt­schaft­lich unbe­grün­det und inhu­man. Wer län­ger arbei­ten möch­te, weil er dar­in Erfül­lung fin­det, soll­te dies dür­fen und durch die Gesell­schaft dabei unter­stützt wer­den, nicht aber durch Gesetz oder Armut dazu gezwun­gen sein.