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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die dunkle Seite eines Wortes

Das Wort »Wahn­sinn« hat Kon­junk­tur in unse­rer All­tags­spra­che, kaum eine Sport­re­por­ta­ge, kei­ne Wer­be­an­prei­sung kommt ohne es aus. Dass Lite­ra­tur die Auf­ga­be hat, alle Wort­be­deu­tun­gen ans Licht zu brin­gen, schwang immer wie­der mit in der Lesung Hel­ga Schu­berts im Mag­de­bur­ger Rat­haus­saal, die ich am 23.9.2021 mode­rie­ren durf­te. Die Bach­mann-Preis-Gewin­ne­rin des Jah­res 2020 sprach vor aus­ver­kauf­tem Audi­to­ri­um nach der Lesung des prä­mier­ten Tex­tes »Vom Auf­ste­hen« über ihr Miss­trau­en gegen­über dem Pathos oder von ihrer Angst vor geschlos­se­nen Gesellschaften.

Denn nur in sol­chen, dies ist Hel­ga Schu­berts feste Über­zeu­gung, ist das mög­lich, was sie in ihrem Buch »Die Welt da drin­nen« nach­drück­lich in unser Bewusst­sein rückt: Die so genann­te Eutha­na­sie im Drit­ten Reich, also, dass Ärz­te zu Mör­dern wer­den. Die Autorin führt das vor am Bei­spiel von 179 Fäl­len aus der Schwe­ri­ner Ner­ven­kli­nik; Men­schen, die als »lebens­un­wert« ermor­det wur­den. Die Akten blie­ben nach dem Ende der Nazi­dik­ta­tur unter Ver­schluss, und zwar im Mini­ste­ri­um für Staats­si­cher­heit der DDR. Erst nach 1990, als die Unter­la­gen in das Bun­des­ar­chiv kamen, wur­den sie zugänglich.

Die Mei­ster­schaft Hel­ga Schu­berts besteht nun dar­in, dass sie im Zuge der Aus­wer­tung der Akten kei­ne histo­ri­sche Stu­die anfer­tig­te, son­dern mit den Mit­teln der Lite­ra­tur Schick­sa­le ins Heu­te hol­te, Blicke in die wahn­sin­ni­ge Innen­welt der Täter und ihrer Opfer ermög­licht und den Leser hin­ein­zieht in das grau­si­ge Geschehen.

Ein Zet­tel, geschrie­ben von Adolf Hit­ler im Jah­re 1939 (er sprach von der Gewäh­rung des »Gna­den­to­des« für »unheil­bar Kran­ke«), bil­de­te die Grund­la­ge für die gehei­me Tötung von Gei­stes­kran­ken und behin­der­ten Kin­dern in psych­ia­tri­schen Ein­rich­tun­gen. Zwei der erschüt­ternd­sten Sät­ze des Buches lau­ten: »Die­sem Erlass fie­len bis zum Ende des Zwei­ten Welt­kriegs etwa 100 000 Erwach­se­ne und 5000 Kin­der zum Opfer. Dabei arbei­te­ten Ärz­te, Pfle­ger, Schwe­stern, Für­sor­ge­rin­nen, Sach­be­ar­bei­ter, Gut­ach­ter, Trans­por­teu­re, Kraft­fah­rer, Stan­des­be­am­te, Rei­ni­gungs­kräf­te, Par­tei­funk­tio­nä­re, Geheim­dienst­mit­ar­bei­ter und Kre­ma­to­ri­ums­be­dien­ste­te in genau bestimm­ter Rol­len­ver­tei­lung zusammen.«

Das Grau­en, das zur Spra­che gebracht wird, kul­mi­niert dann in den ein­zel­nen Tex­ten des Buches, wel­che die Schick­sa­le der Opfer und die Welt der Täter und ihrer Hel­fer in ein Licht stel­len, das die Unmensch­lich­keit scharf aus­leuch­tet. Dazu gehö­ren die Recht­fer­ti­gungs­ver­su­che eben­so wie die so sel­te­nen, aber doch immer­hin mög­li­chen Ver­su­che, wenn nicht Wider­stand zu lei­sten, so doch dem Mit­tun sich zu entziehen.

Gewal­ti­ge Wir­kungs­kraft gewinnt Hel­ga Schu­bert aus der Kon­fron­ta­ti­on des Ver­gan­ge­nen mit dem Heu­ti­gen. So etwa ihr Bericht von zwei Stun­den in einem Ber­li­ner Gym­na­si­um, die Reak­tio­nen und Ant­wor­ten von Schü­le­rin­nen und Schü­lern (Lei­stungs­kur­se Geschich­te und Deutsch) und ihrer Leh­re­rin­nen. Sie wur­den beauf­tragt, sich vor­zu­stel­len, sie sei­en einer der auf dem Zet­tel Hit­lers erwähn­ten »Aus­füh­rer« (Reichs­lei­ter Bouh­ler oder Leib­arzt Brandt), und sie soll­ten nun den Auf­trag des »Füh­rers« ver­wirk­li­chen. Oder der Besuch in Amster­dam in einem Haus, wo auf einem Klin­gel­schild steht: G. f. f. E., wobei E. für Eutha­na­sie steht, denn die­ses Fremd­wort wird auch im Nie­der­län­di­schen so geschrie­ben. Aber das The­ma Ster­be­hil­fe ist dort nicht weni­ger schwer zu bespre­chen als hier­zu­lan­de, der Vor­sit­zen­de jener Gesell­schaft gibt sich bei einem geheim­nis­vol­len Tref­fen auf einem Bahn­hof als Kauf­mann zu erken­nen, wo man doch einen Medi­zi­ner erwar­tet, wenn es um der­glei­chen geht.

Die­ses Buch ist kei­ne ange­neh­me Lek­tü­re, und man zögert manch­mal mit dem Wei­ter­le­sen. Aber es ist eine über­aus not­wen­di­ge Lek­tü­re, weil sie nicht zuletzt zeigt, wie leicht man Täter oder Opfer wer­den kann, wenn man in einer geschlos­se­nen Gesell­schaft ohne freie Pres­se und unab­hän­gi­ge Justiz lebt. »Wenn es kon­kret wird«, ist es grau­en­haft«, schreibt Hel­ga Schu­bert im Vor­wort des jetzt wie­der­ver­öf­fent­lich­ten Wer­kes von 2003.

Zur Erin­ne­rung an die gemein­sa­me Ver­an­stal­tung ließ ich mir das Buch von der Autorin signie­ren, und von dem am Bücher­ver­kaufs­tisch Ste­hen­den grif­fen vie­le danach. Das stimmt zuver­sicht­lich, denn sie wer­den sich mit dem Geschil­der­ten aus­ein­an­der­set­zen und hof­fent­lich anders damit umge­hen, als die im Klap­pen­text erwähn­ten mög­li­chen Leser, wel­che nur eine begrenz­te Aus­wahl von Eutha­na­sie-Schick­sa­len lesen woll­ten oder gar zwei­fel­ten, ob sie sich das »antun« würden.

Doch, man muss es sich antun, damit man wach bleibt, wenn gewis­se Leu­te jene Jah­re mit ihrer rei­bungs­los funk­tio­nie­ren­den Tötungs­ma­schi­ne­rie auf Vogel­ex­kre­ment­grö­ße redu­zie­ren wollen.

Hel­ga Schu­bert: Die Welt da drin­nen dtv 2021, 296 S., 12 €.