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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Freundinnen-Konstellation

Fast alle Erzäh­lun­gen des Ban­des »Licht hin­ter dem Fen­ster« von Tat­ja­na Gering­as gehen von Freun­din­nen­fi­gu­ren aus, deren Kon­stel­la­ti­on alles hal­ten und tra­gen soll, was mit­ge­teilt wird. Das frei­lich kann nicht immer funk­tio­nie­ren, und so gera­ten die Geschich­ten (zum Glück!) zur Dar­stel­lung man­nig­fal­ti­ger Geschicke. Die­se berüh­ren oft stark, Tat­ja­na Gering­as Fähig­keit, mensch­li­che Tra­gö­di­en zu suchen, zu fin­den, viel­leicht auch zu kon­stru­ie­ren, zu schil­dern, ist bemer­kens­wert. So etwa Mascha, die nach dem Tod ihrer Mut­ter deren schwie­ri­ges Wesen und deren Ver­let­zun­gen, die sie ohne zu zögern wei­ter­gab, begreift; aber auch, dass sie die­ser Frau nie rich­tig nahe­ge­kom­men ist. Den­noch waren und sind bei­de auf ihre Art sogar glück­lich. Lei­der gibt die Autorin manch­mal ihrer Nei­gung zum Pre­di­gen nach, und so endet die­se Erzäh­lung im »Wort-zum-Tage-Ton«. Scha­de – der Leser ver­stün­de auch ohne Beleh­rung, was hier ver­han­delt wurde.

Der läng­ste und über­zeu­gend­ste Text des Buches ist die Titel­er­zäh­lung. Dass sich Teen­ager oft fremd und allein in der Welt füh­len, ist bekannt. Der Schü­le­rin Tina geht es nicht anders. Sie lebt mit ihren Eltern in einer Mos­kau­er »Kom­mu­nal­ka«, das ist eine Gemein­schafts­woh­nung, wo die Fami­lie (Vater, Mut­ter, Kind, Oma und Kat­ze) zwei Zim­mer inne­hat, was als Glücks­fall gilt. Tina hat natür­lich auch Freun­de und Freun­din­nen, erlebt »Fla­schen­spie­le« um Küs­se und die erste Lie­be, aber wirk­lich ver­traut ist sie nur mit ihrer Groß­mutter. Die Anre­de »Töch­ter­chen«, die sie ver­wen­det, sagt alles. Über­haupt ist die­se Erzäh­lung so rich­tig »rus­sisch«, etwas, das man in ande­ren mit­un­ter ver­misst: Sie sind nach Hand­lungs­ort und Hand­lungs­zeit nicht immer pro­blem­los zuzu­ord­nen. Hier aber wird klar, dass man sich in den sowje­ti­schen sieb­zi­ger oder frü­hen acht­zi­ger Jah­ren befin­det: »Wie­der zu Hau­se schimpf­te der Vater laut­stark über den Zustand der Wirt­schaft in die­sem Land: Nichts sei zu krie­gen, nicht ein­mal ein Sarg sei zu bekom­men!« Denn die Oma ist gestor­ben, sie hat­te geahnt, dass sie der Aus­wan­de­rung der Fami­lie nach Isra­el (der Vater hat sich plötz­lich auf sei­ne jüdi­schen Wur­zeln beson­nen) im Wege ste­hen wür­de. Die Eltern küm­mern sich nur um ihre Plä­ne und Kar­rie­ren, kaum um Tina, die zwei Näch­te neben ihrer toten Groß­mutter schla­fen muss. Hier spürt man die Tra­di­ti­on der gro­ßen rus­si­schen Lite­ra­tur, die einen in den Bann schla­gen kann mit All­tags­schil­de­run­gen, wor­in sich in bana­len und son­der­ba­ren Bege­ben­hei­ten der Zustand der Gesell­schaft zeigt.

Nicht ganz über­zeu­gend ist jedoch das Nach­tra­gen von Fak­ten, mit­ten im Text heißt es dann: »Ein paar Wor­te über …«. Oder in Tinas Geschich­te liest man, dass nach einem Monat Neu­jahr­fest sei. Ein paar Sei­ten spä­ter, dass nun der Dezem­ber näher rücke, und plötz­lich holt der Vater den Tan­nen­baum ins Zim­mer. Wur­de nicht bemerkt, dass hier die Chro­no­lo­gie holpert?

»Die Ver­söh­nung« nimmt sich eines äußerst wich­ti­gen The­mas an, näm­lich der Ver­ge­wal­ti­gung deut­scher Frau­en durch sowje­ti­sche Sol­da­ten nach dem Ende des II. Welt­kriegs. Lei­der geschieht das etwas pla­ka­tiv und unge­nau. Wie­der geht es um zwei Freun­din­nen, der einen wider­fährt das Furcht­ba­re. Sie hät­ten sich vor Kriegs­be­ginn in der Ber­li­ner Hum­boldt-Uni ken­nen­ge­lernt. Die aber heißt erst seit 1949 so. Auch mit Ber­lin, West­ber­lin, Mau­er, Mau­er­fall geht es kei­nes­falls logisch zu. Eine Autorin kann irren, nur soll­ten die mit der Buch­edi­ti­on Befass­ten mit­un­ter etwas genau­er hin­se­hen, viel­leicht auch den über­mä­ßi­gen Gebrauch des Adverbs »irgend­wie« ein­däm­men. Denn schnell machen sol­che Schwä­chen ver­drieß­lich, und das scha­de­te dem Emp­fin­den der über­zeu­gen­den Vor­schlä­ge Tat­ja­na Gering­as zu Mit­mensch­lich­keit und Vergebung.

Tat­ja­na Gering­as: Licht hin­ter dem Fen­ster. Aus dem Rus­si­schen von Chri­sti­ne Hen­ge­voss. Mit­tel­deut­scher Ver­lag, 136 S., 14 .