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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Staatsgewalt gegen das Volk

Mar­tin Luther pre­dig­te immer wie­der: »Jeder­mann sei unter­tan der Obrig­keit, die Gewalt über ihn hat« (Römer 13,1). Zum Glück hielt er sich nicht dar­an gegen­über Papst und Kai­ser, aber zum Unglück der Juden und auf­stän­di­schen Bau­ern mein­te er es ihnen gegen­über ernst: Unter­werft Euch der Gewalt der Obrigkeit.

Fünf­hun­dert Jah­re danach heißt der­sel­be Satz, gespro­chen auch von christ­li­chen Poli­ti­kern: »Es besteht das Gewalt­mo­no­pol des Staa­tes.« Das bedeu­tet, die Obrig­keit darf Gewalt gegen das Volk anwen­den, das Volk sich aber nicht weh­ren. Das bedeu­tet fer­ner, dass im Grund­ge­setz Arti­kel 20 zwar steht: »Alle Staats­ge­walt geht vom Vol­ke aus.« Es steht dort aber nicht, wo die Gewalt dann hin­geht. Zur­zeit erle­ben wir den Staat als Befeh­len­den, nicht als einen um die Coro­na-Abwehr­maß­nah­men um Ver­ständ­nis ringenden.

Ganz kon­kret heißt ab dem 1. Janu­ar in vie­len nord­rhein-west­fä­li­schen Städ­ten, dass die Gewalt dann von Uni­for­mier­ten aus­geht, die Zivi­li­sten mit Tasern trak­tie­ren, ver­let­zen, ja auch in Lebens­ge­fahr brin­gen dür­fen. In der Pan­de­mie fiel die­se Anord­nung der Lan­des­re­gie­rung nicht groß auf.

Was sind Taser? Das sind »Distanz-Elek­tro­im­puls­ge­rä­te« der gleich­na­mi­gen Fir­ma. Die Elek­tro­schocker, die mit einer Span­nung von 50 000 Volt arbei­ten, kön­nen töd­lich sein und schwer­wie­gen­de Ver­let­zun­gen nach sich zie­hen. Das ist ein­deu­tig doku­men­tiert (Frank­fur­ter Rund­schau vom 15.11.20). Amne­sty Inter­na­tio­nal infor­mier­te dar­über, dass zwi­schen 2001 und 2008 allein in den USA 334 Men­schen wäh­rend oder nach dem Ein­satz der Waf­fe gestor­ben sind. Mit den Elek­tro­schockern kön­nen mit Dräh­ten ver­se­he­ne Pro­jek­ti­le über eine Ent­fer­nung von bis zu zehn Metern auf Men­schen geschos­sen wer­den. Es sind zwei­fel­los Folterinstrumente.

Was immer gemel­det wird über die Rechts­ent­wick­lung, es ist immer etwas aus NRW dabei. Im Fal­le des Spe­zi­al-Ein­satz­kom­man­dos SEK, das in Güstrow auf einem Schieß­platz der Rechts­ra­di­ka­len trai­nier­te, sind bei­spiels­wei­se Poli­zi­sten aus Ruhr-Städ­ten zu nen­nen. Vor allem aus Dort­mund. Und die­se dür­fen nun Gewalt gegen das Volk anwenden?

Am 14. Dezem­ber mel­de­te die Ber­li­ner Zei­tung: »Den öster­rei­chi­schen Sicher­heits­be­hör­den ist ein schwe­rer Schlag gegen ein grenz­über­grei­fen­des rechts­extre­mes Netz­werk gelun­gen. Bei meh­re­ren Raz­zi­en wur­den in der ver­gan­ge­nen Woche gro­ße Men­gen an ille­ga­len Waf­fen, Muni­ti­on und Spreng­stoff sicher­ge­stellt. Nach Aus­sa­gen eines der fünf in Öster­reich fest­ge­nom­me­nen Tat­ver­däch­ti­gen waren die Waf­fen für deut­sche Neo­na­zis gedacht, die eine bewaff­ne­te Miliz auf­bau­en woll­ten. Auch in der Bun­des­re­pu­blik gab es Fest­nah­men. Einer (der Fest­ge­nom­me­nen) soll aus­ge­sagt haben, die Waf­fen wären für den geplan­ten Auf­bau einer rech­ten Miliz in Deutsch­land gedacht gewe­sen.« Zu die­sen Waf­fen zäh­len nun Taser.

In man­chen Städ­ten hat sich im Rin­gen gegen Neo­na­zis eine durch­aus kon­struk­ti­ve Zusam­men­ar­beit von Poli­zei und Anti­fa­schi­sten ent­wickelt. Ver­wie­sen sei auf die Gemein­sam­keit gegen Dort­mun­der Nazi­lä­den, die es gab und die hof­fent­lich auch gegen den neu­en Nazi­la­den Thor Stei­nar an der Dort­mun­der Kuckel­ke geben wird. Dies wäre der ein­zi­ge die­ser Nazi­lä­den in Westdeutschland.

Aber der­zeit nimmt die Dort­mun­der Poli­zei einen Spit­zen­platz in der Repres­si­ons­po­li­tik und -pra­xis ein. Eine empör­te Bür­ge­rin schrieb an die Medi­en der Stadt: »Es ist an Zynis­mus und abgrund­tie­fer Men­schen­ver­ach­tung nicht zu über­bie­ten! Fol­ter­in­stru­men­ten gleich­kom­men­de Waf­fen – Taser – gegen die Bevöl­ke­rung der Dort­mun­der Nord­stadt ein­zu­set­zen, ist (…) ein Hin­weis auf das völ­li­ge Ver­sa­gen der Dort­mun­der Poli­tik gegen­über der Lebens­si­tua­ti­on der dort leben­den Menschen.«

Die Nord­stadt Dort­munds befin­det sich zwi­schen dem legen­dä­ren Bor­sig­platz, Hei­mat des BVB, und dem Hafen. Den Dort­mun­der Nor­den prä­gen mit der höch­sten Bevöl­ke­rungs­dich­te und über 73 Pro­zent Migra­ti­ons­an­teil auch die höch­sten Wer­te im Bereich Arbeits­lo­sig­keit, gering­fü­gi­ger Beschäf­ti­gung und Wohn­raum­knapp­heit. Coro­na lässt den Stadt­teil zum explo­si­ven Hot­spot wer­den. Nir­gend­wo in der Stadt sind die Lern­be­din­gun­gen und Zukunfts­chan­cen für die Kin­der aus gro­ßen Fami­li­en so schlecht wie in der Nord­stadt. Hier wird Armut kon­zen­triert und stig­ma­ti­siert. Die Bür­ge­rin: »Es macht mich wütend und fas­sungs­los. Nicht die Schaf­fung von Arbeits­plät­zen, der Aus­bau des sozia­len Woh­nungs­baus oder Inve­sti­tio­nen ins Schul­we­sen wer­den hier for­ciert, nein besten­falls Gen­tri­fi­zie­rung, För­de­rung von Miet­spe­ku­la­ti­on bzw. Ver­drän­gung der Men­schen aus der Nord­stadt als Kon­zept der Armutsbekämpfung.«

Und nun noch dies: Die Men­schen der Nord­stadt als Ver­suchs­ka­nin­chen für eine Waf­fe, die die Opfer lähmt, in einen Schock­zu­stand ver­setzt oder bei ent­spre­chen­den Vor­er­kran­kun­gen zum Tod füh­ren kann. Der Pro­test­brief fragt: »Was wird hier geprobt? Das Auf­be­geh­ren gegen struk­tu­rel­le Gewalt in die­sem get­toi­sier­ten Stadt­teil einzudämmen?«

Es ist nicht zu über­se­hen: Neben den alten rech­ten Grup­pie­run­gen, neben AfD und Hoo­li­gans gibt es inzwi­schen eine feste rechts­extre­me Struk­tur im Beam­ten­ap­pa­rat der Poli­zei und der Bun­des­wehr. Dies beson­ders im Ruhr­ge­biet, aber nicht nur dort.

Und die­sem Appa­rat gegen­über, die­ser Obrig­keit gegen­über sol­len wir unter­tan sein? Nein, lie­ber Mar­tin Luther und sehr geehr­te Obrigkeit.