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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Dreyeckland: Wiege der Umweltbewegung

»Kaa-mr asoo schwät­zä, wia-mr doo schwätzt norm­aa­ler­wi­is? Ich mein graad, ebis bro­fi­di­a­ra-mr doch bi däm gan­za Griag, wu iiber uns goht. Mr säh­nä wider amool, daß-mr zam­ma ghä­ära. Un mit nit anders brin­gä-mr des bes­ser zuam Üsdruck wia mit unse­ra eige­na Sprooch, mit-erä Sprooch, wu säl­li in Paris nit vrsch­dehn, wu-si in Bonn nit vrsch­dehn un wu sal­li in Min­cha au nit vrsch­dehn, aber wu miir üs-em ale­man­nischa Räum alli vrschdehn!«

[Mein­rad Schwö­rer aus Wyhl (D) am 20.9.1974 in Marck­ols­heim (F)]

Vor dem Gor­le­ben-Treck 1979 sei die Anti-Atom­kraft-Bewe­gung nur »lokal begrenzt« aktiv gewe­sen, äußer­te Wolf­gang Ehm­ke neben­bei in einem kennt­nis­rei­chen Bei­trag (»Gor­le­ben-Treck: Spu­ren­su­che«, Ossietzky 13/​2019) und erwähn­te in dem Zusam­men­hang Wyhl. Der 45. Jah­res­tag der ersten Platz­be­set­zung im Dreyeck­land soll Anlass sein, die Behaup­tung zu hin­ter­fra­gen und zu zei­gen: Im Süd­we­sten wur­de die Bewe­gung früh staats­gren­zen­über­schrei­tend aktiv, gab sich schon 1974 eine trans­na­tio­na­le Struk­tur und enga­gier­te sich für die Umwelt, das heißt vor allem, aber eben nicht aus­schließ­lich, gegen Atom­kraft. Um Zusam­men­hän­ge, den Begriff »Dreyeck­land« und das kei­nes­wegs nur »lokal begrenz­te« Agie­ren ver­ständ­lich zu machen, soll kurz aus­ge­holt werden.

Ale­man­nisch verbindet

Viel weiß man nicht über die Ursprün­ge der Ale­man­nen. Sie schei­nen zunächst zusam­men­ge­wür­fel­te Heer­hau­fen aus Män­nern und Frau­en gewe­sen zu sein, die aus dem Osten kamen. Letz­ter bekann­ter zeit­wei­li­ger Auf­ent­halts­ort, bevor sie wei­ter süd­west­wärts zogen, war eine Regi­on, die man heu­te als Meck­len­burg, Mit­tel­el­be- und Saa­le­ge­biet bezeich­net. Ab etwa dem 2. Jahr­hun­dert sie­del­ten sie im Vor­feld des Limes. Durch die­sen bewach­ten Schutz­wall ver­such­te das Römi­sche Reich damals zu ver­hin­dern, dass »Bar­ba­ren« (anders­spra­chi­ge Nicht­rö­mer) unkon­trol­liert ins Land kamen. Doch schon damals hal­fen auf Dau­er kei­ne Wach­tür­me und Mau­ern oder Schutz­wäl­le gegen Zuwan­de­rung. Der Limes fiel, und etwa ab dem 5. Jahr­hun­dert leb­te der nun­meh­ri­ge Stamm der Ale­man­nen unter ande­rem in dem Gebiet, das man heu­te als Süd­ba­den, Elsass und Nord­west­schweiz kennt.

Die­se Regi­on, durch Natio­nal­staa­ten­bil­dung von Staats­gren­zen durch­schnit­ten, ist inzwi­schen als Dreyeck­land bekannt – ein Begriff, der den trotz poli­ti­scher Gren­zen gemein­sa­men Sied­lungs­raum betont (im Gegen­satz zum »Drei­län­der­eck«, an dem drei getrenn­te Län­der auf­ein­an­der­tref­fen). Ob man vom Pass her als Fran­zo­se, Schwei­ze­rin oder Deutsche/​r gilt: Im Dreyeck­land spre­chen vie­le Men­schen in ver­schie­de­nen Vari­an­ten die glei­che Mund­art, das Ale­man­ni­sche. Die­se histo­risch beding­te gemein­sa­me sprach­li­che Basis soll­te sich für das, was vor fünf Jahr­zehn­ten auf die Men­schen im Dreyeck­land zukam, als hilf­reich erweisen.

Plä­ne: Atom­kraft­wer­ke am Oberrhein

Sowohl fluss­ab als auch fluss­auf des Rhein­knies bei Basel gibt es Anfang der 1970er Jah­re Pro­te­ste gegen geplan­te Atom­kraft­wer­ke (AKWs): in Fes­sen­heim (Elsass/​Frankreich) und Kai­ser­augst (Aargau/​Schweiz). Bei den Eid­ge­nos­sen kommt es zu einer »Pro­be­be­set­zung«, als anders­wo noch nie­mand das Wort »Beset­zung« über­haupt in den Mund nimmt. In Deutsch­land wer­den die­se Pro­te­ste und Wider­stands­for­men zunächst wenig beach­tet, mehr Auf­merk­sam­keit erfährt die Nach­richt, dass die baden-würt­tem­ber­gi­sche Lan­des­re­gie­rung den äußer­sten Süd­we­sten der Bun­des­re­pu­blik mit einer groß­zü­gi­gen Indu­strie­an­sied­lung in der Rhein­ebe­ne zu beglücken gedenkt. Indu­strie benö­tigt Elek­tri­zi­tät, die angeb­lich nur AKWs kosten­gün­stig und in aus­rei­chen­dem Maße lie­fern kön­nen. Also sol­len auch auf deut­scher Sei­te – wie Per­len an einer Ket­te – Atom­re­ak­to­ren ent­lang des Ober­rheins ent­ste­hen. Des­sen Was­ser ist als »kosten­lo­ses« Kühl­mit­tel zur Abfuhr der Reak­ti­ons­hit­ze gedacht. Ein erstes AKW aus gleich vier Reak­to­ren wird im Juni 1971 für Brei­sach west­lich von Frei­burg im Breis­gau bean­tragt und der Rhein­au­e­wald bei Wyhl, eini­ge Kilo­me­ter fluss­ab­wärts, als mög­li­cher Ersatz­stand­ort ins Auge gefasst.

Befür­wor­ter spre­chen lie­ber von »Kern­kraft­werk« und »Kern­re­ak­to­ren«, weil das Wort »Atom« die Men­schen ver­schrecken könn­te, schließ­lich steckt es auch in dem all­seits bekann­ten Begriff »Atom­bom­be«. Die »fried­li­che Nut­zung der Kern­ener­gie« sei eine fei­ne Sache, erfah­ren die Men­schen aus den Medi­en der dama­li­gen Zeit – Zei­tung und Rund­funk. Eini­ge Natur­wis­sen­schaft­ler und Stu­den­ten der Frei­bur­ger Uni­ver­si­tät sehen das anders und geben ihre Kennt­nis­se auf Infor­ma­ti­ons­ver­an­stal­tun­gen wei­ter. Auch man­che Land­wir­te sind skep­tisch, sogar wenn sie selbst eigent­lich nichts gegen die Atom­ener­gie­nut­zung hät­ten, aber sie wol­len auch zukünf­tig sicher­stel­len, dass (anders als bei­spiels­wei­se in Nord­deutsch­land) am Ober­rhein auf rela­tiv klei­nen Flä­chen rela­tiv vie­le Men­schen ihr Aus­kom­men haben. Dort wach­sen neben Gemü­se und Getrei­de ein­träg­li­che Son­der­kul­tu­ren: Tabak­pflan­zen und Wein­re­ben. Fän­den Wein und ande­re Erzeug­nis­se aus Angst vor Strah­len­schä­den bei Ver­brau­chern kei­nen Absatz, wäre die Land­wirt­schaft am Ende.

»Links­ra­di­ka­le« Proteste

In Ort­schaf­ten um den beab­sich­tig­ten AKW-Stand­ort Brei­sach und auch in der nahen Uni­ver­si­täts­stadt Frei­burg bil­den sich erste Bür­ger­initia­ti­ven (BIs), die 1972 eine Arbeits­ge­mein­schaft mit regel­mä­ßi­gen Tref­fen ver­ein­ba­ren und – auch durch gut sicht­ba­re Schil­der an Scheu­nen und in Vor­gär­ten – öffent­lich gegen das geplan­te AKW pro­te­stie­ren. Mini­ster­prä­si­dent Hans Fil­bin­ger (CDU), ein ehe­ma­li­ger NS-Mari­ne-Rich­ter, ver­liert die Con­ten­an­ce und bezeich­net alle AKW-Geg­ner/in­nen als »Links­ra­di­ka­le«. Die Wort­wahl lässt sofort an den von Bun­des­kanz­ler Wil­ly Brandt (SPD) mit­ver­ant­wor­te­ten »Radi­ka­len­er­lass« den­ken. Und ab da sehen die in den BIs akti­ven Jura-, Lehr­amts- und ande­ren Stu­die­ren­den, die auf­grund ihrer Stu­di­en­fä­cher eine Stel­le im Staats­dienst anstre­ben, das Damo­kles­schwert des Berufs­ver­bots über sich hängen.

Drei Tage nach der ver­ba­len Ent­glei­sung des »Lan­des­va­ters« bestei­gen zahl­rei­che poli­tisch kon­ser­va­ti­ve, also »links­ra­di­ka­le« Wein- und Gemü­se­bau­ern ihre Trak­to­ren und ver­an­stal­ten zwi­schen dem bean­trag­ten AKW-Stand­ort und des­sen mög­li­chem Ersatz­ort eine Schlep­per­de­mon­stra­ti­on. Für einen Sam­mel­ein­spruch kom­men 65.000 Unter­schrif­ten zusam­men. Drei­ßig Wis­sen­schaft­ler for­dern in einer Reso­lu­ti­on die Ein­ho­lung von Gut­ach­ten zu zahl­rei­chen Sach­ver­hal­ten. Zwei Wochen spä­ter gibt der zustän­di­ge Wirt­schafts­mi­ni­ster bei einer Anhö­rung zu, dass die bis­he­ri­gen Gut­ach­ten unge­nü­gend sind. Und zu guter Letzt wird das Geneh­mi­gungs­ver­fah­ren für Brei­sach abgebrochen.

Wyhl am Kaiserstuhl

Doch ein ech­ter Sieg ist das im Som­mer 1973 nicht. Denn jetzt soll die klei­ne Ort­schaft Wyhl, ein paar Kilo­me­ter strom­ab­wärts am Kai­ser­stuhl gele­gen, die vier Atom­re­ak­to­ren bekom­men. Die Bau­ern pro­te­stie­ren zu Land, die Fischer auf dem Alt­rhein. Im Früh­jahr demon­strie­ren 400 Trak­to­ren durch den Kai­ser­stuhl. Es geht wei­ter mit Unter­schrif­ten­samm­lun­gen, Infor­ma­ti­ons­ver­an­stal­tun­gen, Erör­te­rungs­ter­min und gro­ßem Sternmarsch.

Neue Bür­ger­initia­ti­ven wer­den gegrün­det – und das nicht nur auf deut­schem Boden. Im fran­zö­si­schen Elsass haben die Bewohner/​innen zwar »ihr« Atom­kraft­werk am Ober­rhein, in Fes­sen­heim, nicht ver­hin­dern kön­nen, doch nun sind sie neben der dro­hen­den Errich­tung von vier wei­te­ren Reak­to­ren (AKW Wyhl) mit noch einem neu­en Pro­blem kon­fron­tiert. Auch des­sen Ursprung fin­det sich in Deutschland.

Blei­che­mie aus Bayern

Kur­ze Rück­blen­de: 1972 Olym­pi­sche Spie­le in Mün­chen. Dafür ist vor­her viel Neu­es gebaut wor­den, vor allem der Olym­pia­park samt Pres­se- und Olym­pia­dorf mit (nach­olym­pi­schem) Wohn­raum für bis zu 25.000 Men­schen. Seit der Kai­ser­zeit steht dort aber auch eine Blei­che­mie­fa­brik, die ihre Abluft durch inzwi­schen über 20 Kami­ne in den Him­mel schickt. Und die­se Fabrik möch­ten die Che­mi­schen Wer­ke Mün­chen (CWM) drin­gend ver­grö­ßern. Man­che der neu­en Anrainer/​innen befürch­ten aber, dass der Blei­staub aus den Kami­nen ihrer Gesund­heit abträg­lich sein könn­te, und errei­chen für das Gebiet eine Ver­än­de­rungs­sper­re. Also macht sich der zweit­größ­te deut­sche Blei­ver­ar­bei­ter auf die Suche nach einem ande­ren Stand­ort – und wird, nach einem Fehl­schlag im fran­zö­si­schen Loth­rin­gen, im Elsass fün­dig. Das modern­ste Blei­che­mie­werk Euro­pas soll nun bei der klei­nen Gemein­de Marck­ols­heim ent­ste­hen, die über eine Pon­ton­brücke auch vom nahe­ge­le­ge­nen Kai­ser­stuhl aus schnell erreich­bar ist. Wie unge­fähr­lich die Blei­che­mie-Abluft für die Marckolsheimer/​innen wäre, erfah­ren die­se aus beru­fe­nem Münch­ner Mund: Durch den vor­herr­schen­den Süd­west­wind wer­de alles nach Deutsch­land (Süd­ba­den) hinübergeweht.

Die badisch-elsäs­si­schen Bürgerinitiativen

Sol­cher­ma­ßen mit abseh­bar unge­sun­den Groß­pro­jek­ten auf bei­den Sei­ten des Rheins kon­fron­tiert, schlie­ßen sich Deut­sche und Fran­zo­sen föde­ra­tiv zusam­men und grün­den im Som­mer 1974 das Inter­na­tio­na­le Komi­tee der (inzwi­schen 21) badisch-elsäs­si­schen Bür­ger­initia­ti­ven, das anschlie­ßend auch Kon­takt zur Gewalt­frei­en Akti­on Kai­ser­augst (GAK) in der Schweiz pflegt. Die in der Regi­on gebräuch­li­chen Amts­spra­chen Deutsch bezie­hungs­wei­se Fran­zö­sisch hät­ten zu tren­nen­den Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­ble­men füh­ren kön­nen, aber in den BIs fin­det die Ver­stän­di­gung in star­kem Maße auf Ale­man­nisch statt, auch bei den Kund­ge­bun­gen wer­den vie­le Rede­bei­trä­ge auf Ale­man­nisch gehal­ten. Wer nur Fran­zö­sisch oder Schrift­deutsch (Hoch­deutsch) ver­steht, braucht eine/​n kundige/​n Kame­ra­den oder Freun­din als Dolmetscher/​in.

Man ver­ein­bart, sich gegen­sei­tig zu hel­fen, sobald die Rodung oder ande­re Arbei­ten zur Vor­be­rei­tung der Bau­plät­ze los­ge­hen. Benö­tigt wer­den die Umweltschützer/​innen zuerst auf fran­zö­si­schem Boden: Am 20. Sep­tem­ber 1974 wird der CWM-Bau­platz bei Marck­ols­heim besetzt. Eine Beset­zung zu orga­ni­sie­ren und dann mona­te­lang Tag und Nacht bei Herbst­re­gen im Schlamm oder spä­ter bei Minus­tem­pe­ra­tu­ren im Schnee durch­zu­hal­ten, ist kei­ne leich­te Sache – aber das ist eine wei­te­re Geschichte.

Kurz­fas­sung einer lan­gen Geschichte

Aus klei­nen Anfän­gen vor fünf Jahr­zehn­ten erwuchs damals im ale­man­ni­schen Dreyeck­land eine Bewe­gung, die unter­schied­lich­ste Bevöl­ke­rungs­grup­pen zusam­men­brach­te: Fran­zo­sen, Schwei­zer und Deut­sche, Alte und Jun­ge vom Land und aus der Stadt, Win­ze­rin­nen und Bau­ern, Handwerker/​innen, Arbei­ter und Stu­die­ren­de, Welt­kriegs­teil­neh­mer und über­zeugt Gewalt­freie, Kon­ser­va­ti­ve, Libe­ra­le und Lin­ke … Die Bewe­gung gab sich eine trans­na­tio­na­le, also Staats­gren­zen über­schrei­ten­de Struk­tur, war trotz des gegen Atom­kraft­nut­zung gerich­te­ten Schwer­punkts nicht mono­the­ma­tisch aus­ge­rich­tet und blieb, bei kla­ren Wur­zeln, nicht lokal ver­haf­tet, son­dern wur­de letzt­lich in drei euro­päi­schen Staa­ten gegen umwelt­schäd­li­che Groß­pro­jek­te aktiv und strahl­te in wei­te­re Län­der aus. Einen ersten Höhe­punkt erreich­te das Enga­ge­ment vor genau 45 Jah­ren mit der Platz­be­set­zung im fran­zö­si­schen Marck­ols­heim. Mit weni­gen Mona­ten Abstand folg­te dann die Beset­zung je eines AKW-Bau­plat­zes im deut­schen Wyhl und im schwei­ze­ri­schen Kai­ser­augst. Seit­her gilt das Dreyeck­land als Wie­ge der Umwelt(schutz)bewegung. – Und 45 Jah­re nach ihrer ersten Platz­be­set­zung wer­den sich man­che Akti­vi­sten von damals nun wohl punkt­ge­nau am 20. Sep­tem­ber als grau­haa­ri­ge Unterstützer/​innen bei der einen oder ande­ren »Fri­days for Future«-Kundgebung im Land wiedersehen.