1974, am ersten Weihnachtstag, fuhr ich gegen Abend mit dem Linienbus nach Magdeburg, von dort mit dem Zug nach Berlin-Schönefeld. Auf einer Bank verbrachte ich die Nacht in der kühlen, dämmrigen Halle des Flughafens. Kein Kiosk war geöffnet, die elektrischen Kerzen am Plastikweihnachtsbaum ausgeschaltet, zweimal musste ich einer Volkspolizeistreife meinen Ausweis und das Flugticket zeigen und erklären, dass ich im Flughafenhotel nicht untergekommen war und darum hier auf den Abflug warten müsste. Die Zeit schien sich zu verklumpen, bis endlich gegen sechs Uhr das Licht in der Halle heller wurde, Menschen hereinströmten und die Schalter geöffnet wurden.
Nach Budapest verkehrte eine IL-18, die voll besetzt war. Ich saß am Gang, trank Kaffee, Weihnachtskaffee, wie die Stewardessen versicherten, aß die dazu gereichten Pralinen, schlief halb ein und erwachte von einem Stich in den Oberschenkel. Meine Mutter hatte vor der Abreise an meiner Hose herumgenäht und die Nadel vergessen. Ich musste lange vor der WC-Tür warten, erst kurz vor den Landevorbereitungen konnte ich mich, mit der Stopfnadel am Revers, wieder hinsetzen.
Den Tag verbrachte ich auf einer Bank des Bahnhofs Budapest-Keleti. Der Zug nach Bucureşti über Arad hatte fast eine Stunde Verspätung, es dunkelte, als er aus der Halle rollte. In Békéscsaba, dem letzten Halt auf der ungarischen Seite, packte ich das Schmuckkästchen aus und steckte mir meinen Verlobungsring an. Aber die rumänische Zöllnerin, die in Curtici in mein Abteil trat, schaute weder in meinen Koffer noch in die Tasche, sie blätterte nur in meiner Reiselektüre, einem Buch mit dem Titel »Bettina pflückt wilde Narzissen«. Vielleicht glaubte sie, ich hätte Geldscheine hineingelegt.
Meine Erleichterung verflog, als ich merkte, dass einige Reisende aussteigen mussten, der Zug durchsucht wurde und nicht weiterfuhr. Nach anderthalb Stunden erst koppelte man die Diesellok der C.F.R, der Căile Ferate Române, an.
Gegen 22 Uhr war ich in Arad, erreichte den letzten Zug nach Timişoara Nord. Nur im Wagen, wo der Schaffner seinen Platz hatte, brannte Licht. Dennoch bedrängten mich zwei Männer, sie verlangten Zigaretten. Ich überließ ihnen eine der für Leni bestimmten Schachteln CLUB, worauf sie mich in Ruhe ließen. Doch zum ersten Mal wehte mich in diesem Land die Furcht an, die ich sonst vor dessen Uniformierten empfand.
Mit einem völlig verdreckten Taxi, dem einzigen, das am Bahnhof stand, gelangte ich in die strada Leningrad, wo ich Leni aus dem Bett klingeln musste. Sie war immer wieder zum Bahnhof gefahren, solange der O-Bus verkehrte.
Ihre Mutter Florica war auch erwacht, begrüßte mich, begann zu weinen, als sie den Ring an meiner linken Hand sah. Das bringe Unglück, ghinion, nenorocire, prophezeite sie, pustete mich an, spuckte hinter sich. Ich hatte vergessen, dass man in Rumänien Verlobungsringe rechts und Eheringe links trug. Und nicht einmal einen Verlobungsring dürfe man allein tragen. Zum ersten Mal fühlte ich den Verdacht, dass sie dieses Unglück herbeiwünschte, um ihre Tochter bei sich behalten zu können. Ich bugsierte den Ring zurück in das Kästchen, stellte die Geschenke auf den Küchentisch. Leni rief, waschen müsse ich mich nicht, sie sei selbst schmutzig, isch chabe meine Tagge, rief sie auf Deutsch, um Florica vom Verstehen auszuschließen. Ich sank in die Wärme des Bettes und der Frau und konnte mich erst reinigen, als Florica und Leni um halb sechs die Wohnung verließen, um zur Arbeit ins GUBAN-Werk zu fahren.
Den Tag sollte ich allein in der Wohnung verbringen, die Tür zu öffnen, war mir streng verboten. Es war neuerdings untersagt, Ausländer in Privatwohnungen zu beherbergen, die hatten grundsätzlich im Hotel zu wohnen, wo es allerdings nie freie Zimmer gab. Die persoanele străine sollte im Haus möglichst nicht bemerkt werden. Zum anderen schrien Trupps der vagabonzii immer wieder in das Treppenhaus hinein: Sticle goale cumpărăm, wir kaufen leere Flaschen. Wer dann öffnete, musste Überfall und Diebstahl befürchten. So war es mir, bevor wir für zwei, drei Stunden einschliefen, eingetrichtert worden.
Es wurde nicht richtig hell in Timişoara an diesem 27. Dezember 1974. Ich saß am Wohnzimmertisch, schaltete die Beleuchtung nicht ein, schrieb Reisenotizen in eine dicke Bürokladde, die mir Leni bereitgelegt hatte. Lange allein bleiben musste ich nicht, fünfzig Lei hatten Leni den Feierabend nach fünf Stunden Arbeit ermöglicht.
Nach dem Mittagessen um 16 Uhr schlichen wir die Treppe hinunter an die frische Luft. Es war schon dunkel, kalter Nieselregen fiel. In einem Lokal am Bega-Kanal tranken wir Murfatlar-Wein, ich versuchte, Leni das Wort die Verlobte beizubringen, lernte logodnică. An meinem Arm schritt sie nach Hause, wo uns ein Polizist erwartete. Der für die strada Leningrad zuständigen Dienststelle der Miliția Populară, der Volkspolizei, war ein Ausländer gemeldet worden, der sich in der Wohnung Nummer 5 aufhielt. Auf dem Tisch lag, von Florica geholt, das Schächtelchen mit den Ringen. Leni nahm meine rechte Hand, steckte mir meinen und danach sich ihren auf. Wahrscheinlich hatten sie und ihre Mutter die Komödie sogar für diesen Fall verabredet, Florica begann zu schluchzen, Leni in der Tonlage zu keifen, die ich an den Fischmarktständen gehört hatte. Die aberwitzige Szene endete mit dem Abzug des Wachtmeisters, der vor dem Geschrei von Botschaft der Sozialistischen Republik Rumänien in Berlin und Verlobung kapitulierte. Der Auftritt mit Aplomb half in diesem Obrigkeitsland manchmal weiter.
Die Verlobung fand am 31. Dezember statt. Einen Weihnachtsbaum gab es nicht, nur eine Kerze. Lenis Bruder Alexandru, Sandru gerufen, erschien mit einer blond gefärbten Frau, die Kuky genannt werden wollte: eine Banater Schwäbin. Sie übersetzte, was Sandru mir zu sagen hatte. Einmal, dass es eines Mannes unwürdig sei, mit Toilettenpapier im Einkaufsnetz durch die Stadt zu gehen. Ich hatte am Nachmittag ein paar Rollen dieses im Lande immer raren Artikels ergattert. Zum anderen wolle er seine Schwester eigentlich keinem Mann geben, aber einem langhaarigen Deutschen schon gar nicht. Obwohl mir Leni zuflüsterte, ich solle den Mund halten, er sei von der Armee völlig verdreht zurückgekommen, konnte ich mich nicht enthalten, ihm mit dem Wort zu antworten, das mir so gefiel, weil es direkt aus dem lateinischen futuere, huren, beschlafen herkam: Fute! Florica begann wieder zu weinen, Kuky blinzelte mir verschwörerisch zu, Leni knuffte mich unter dem Tisch, Sandru schaute mich anerkennend an. Zum Schluss betranken wir uns alle mit Rachiu, ich sang »Es ist ein Ros entsprungen«, wir lachten, als Nicolae Ceauşescu im Fernsehen sprach, wir tanzten zur Muzica usoara aus dem Radio, man brachte mir bei, warum Ceauşescu nicht auf den rumänischen Briefmarken abgebildet war: Sie würden nicht kleben, weil die Leute immer auf die falsche Seite spucken würden, um anzufeuchten.
In der Nacht vor meiner Abreise am 2. Januar schliefen wir auch fast nicht, wir ahnten, dass wir uns erst im Mai wiedersehen würden, eine Reisegenehmigung schon für den Februar zu erhalten, hielt Leni für aussichtslos. Zumal nach meinem Besuch in der Botschaft, wo ich ihren Namen und ihre Adresse genannt hatte.
Bibliografischer Hinweis: Der Text ist ein Auszug aus der gleichnamigen, noch unveröffentlichten Erzählung.