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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Eine Liebe zu Zeiten Ceaușescus

1974, am ersten Weih­nachts­tag, fuhr ich gegen Abend mit dem Lini­en­bus nach Mag­de­burg, von dort mit dem Zug nach Ber­lin-Schö­ne­feld. Auf einer Bank ver­brach­te ich die Nacht in der küh­len, dämm­ri­gen Hal­le des Flug­ha­fens. Kein Kiosk war geöff­net, die elek­tri­schen Ker­zen am Pla­stik­weih­nachts­baum aus­ge­schal­tet, zwei­mal muss­te ich einer Volks­po­li­zei­strei­fe mei­nen Aus­weis und das Flug­ticket zei­gen und erklä­ren, dass ich im Flug­ha­fen­ho­tel nicht unter­ge­kom­men war und dar­um hier auf den Abflug war­ten müss­te. Die Zeit schien sich zu ver­klum­pen, bis end­lich gegen sechs Uhr das Licht in der Hal­le hel­ler wur­de, Men­schen her­ein­ström­ten und die Schal­ter geöff­net wurden.

Nach Buda­pest ver­kehr­te eine IL-18, die voll besetzt war. Ich saß am Gang, trank Kaf­fee, Weih­nachts­kaf­fee, wie die Ste­war­des­sen ver­si­cher­ten, aß die dazu gereich­ten Pra­li­nen, schlief halb ein und erwach­te von einem Stich in den Ober­schen­kel. Mei­ne Mut­ter hat­te vor der Abrei­se an mei­ner Hose her­um­ge­näht und die Nadel ver­ges­sen. Ich muss­te lan­ge vor der WC-Tür war­ten, erst kurz vor den Lan­de­vor­be­rei­tun­gen konn­te ich mich, mit der Stopf­na­del am Revers, wie­der hinsetzen.

Den Tag ver­brach­te ich auf einer Bank des Bahn­hofs Buda­pest-Kele­ti. Der Zug nach Bucu­reşti über Arad hat­te fast eine Stun­de Ver­spä­tung, es dun­kel­te, als er aus der Hal­le roll­te. In Békéscsa­ba, dem letz­ten Halt auf der unga­ri­schen Sei­te, pack­te ich das Schmuck­käst­chen aus und steck­te mir mei­nen Ver­lo­bungs­ring an. Aber die rumä­ni­sche Zöll­ne­rin, die in Cur­ti­ci in mein Abteil trat, schau­te weder in mei­nen Kof­fer noch in die Tasche, sie blät­ter­te nur in mei­ner Rei­se­lek­tü­re, einem Buch mit dem Titel »Bet­ti­na pflückt wil­de Nar­zis­sen«. Viel­leicht glaub­te sie, ich hät­te Geld­schei­ne hineingelegt.

Mei­ne Erleich­te­rung ver­flog, als ich merk­te, dass eini­ge Rei­sen­de aus­stei­gen muss­ten, der Zug durch­sucht wur­de und nicht wei­ter­fuhr. Nach andert­halb Stun­den erst kop­pel­te man die Die­sel­lok der C.F.R, der Căi­le Fera­te Româ­ne, an.

Gegen 22 Uhr war ich in Arad, erreich­te den letz­ten Zug nach Timişo­ara Nord. Nur im Wagen, wo der Schaff­ner sei­nen Platz hat­te, brann­te Licht. Den­noch bedräng­ten mich zwei Män­ner, sie ver­lang­ten Ziga­ret­ten. Ich über­ließ ihnen eine der für Leni bestimm­ten Schach­teln CLUB, wor­auf sie mich in Ruhe lie­ßen. Doch zum ersten Mal weh­te mich in die­sem Land die Furcht an, die ich sonst vor des­sen Uni­for­mier­ten empfand.

Mit einem völ­lig ver­dreck­ten Taxi, dem ein­zi­gen, das am Bahn­hof stand, gelang­te ich in die stra­da Lenin­grad, wo ich Leni aus dem Bett klin­geln muss­te. Sie war immer wie­der zum Bahn­hof gefah­ren, solan­ge der O-Bus verkehrte.

Ihre Mut­ter Flo­ri­ca war auch erwacht, begrüß­te mich, begann zu wei­nen, als sie den Ring an mei­ner lin­ken Hand sah. Das brin­ge Unglück, ghi­ni­on, nenoro­ci­re, pro­phe­zei­te sie, puste­te mich an, spuck­te hin­ter sich. Ich hat­te ver­ges­sen, dass man in Rumä­ni­en Ver­lo­bungs­rin­ge rechts und Ehe­rin­ge links trug. Und nicht ein­mal einen Ver­lo­bungs­ring dür­fe man allein tra­gen. Zum ersten Mal fühl­te ich den Ver­dacht, dass sie die­ses Unglück her­bei­wünsch­te, um ihre Toch­ter bei sich behal­ten zu kön­nen. Ich bug­sier­te den Ring zurück in das Käst­chen, stell­te die Geschen­ke auf den Küchen­tisch. Leni rief, waschen müs­se ich mich nicht, sie sei selbst schmut­zig, isch cha­be mei­ne Tag­ge, rief sie auf Deutsch, um Flo­ri­ca vom Ver­ste­hen aus­zu­schlie­ßen. Ich sank in die Wär­me des Bet­tes und der Frau und konn­te mich erst rei­ni­gen, als Flo­ri­ca und Leni um halb sechs die Woh­nung ver­lie­ßen, um zur Arbeit ins GUBAN-Werk zu fahren.

Den Tag soll­te ich allein in der Woh­nung ver­brin­gen, die Tür zu öff­nen, war mir streng ver­bo­ten. Es war neu­er­dings unter­sagt, Aus­län­der in Pri­vat­woh­nun­gen zu beher­ber­gen, die hat­ten grund­sätz­lich im Hotel zu woh­nen, wo es aller­dings nie freie Zim­mer gab. Die per­so­an­ele străi­ne soll­te im Haus mög­lichst nicht bemerkt wer­den. Zum ande­ren schrien Trupps der vagabon­zii immer wie­der in das Trep­pen­haus hin­ein: Stic­le goale cumpărăm, wir kau­fen lee­re Fla­schen. Wer dann öff­ne­te, muss­te Über­fall und Dieb­stahl befürch­ten. So war es mir, bevor wir für zwei, drei Stun­den ein­schlie­fen, ein­ge­trich­tert worden.

Es wur­de nicht rich­tig hell in Timişo­ara an die­sem 27. Dezem­ber 1974. Ich saß am Wohn­zim­mer­tisch, schal­te­te die Beleuch­tung nicht ein, schrieb Rei­se­no­ti­zen in eine dicke Büro­klad­de, die mir Leni bereit­ge­legt hat­te. Lan­ge allein blei­ben muss­te ich nicht, fünf­zig Lei hat­ten Leni den Fei­er­abend nach fünf Stun­den Arbeit ermöglicht.

Nach dem Mit­tag­essen um 16 Uhr schli­chen wir die Trep­pe hin­un­ter an die fri­sche Luft. Es war schon dun­kel, kal­ter Nie­sel­re­gen fiel. In einem Lokal am Bega-Kanal tran­ken wir Mur­f­at­lar-Wein, ich ver­such­te, Leni das Wort die Ver­lob­te bei­zu­brin­gen, lern­te logod­nică. An mei­nem Arm schritt sie nach Hau­se, wo uns ein Poli­zist erwar­te­te. Der für die stra­da Lenin­grad zustän­di­gen Dienst­stel­le der Miliția Popu­lară, der Volks­po­li­zei, war ein Aus­län­der gemel­det wor­den, der sich in der Woh­nung Num­mer 5 auf­hielt. Auf dem Tisch lag, von Flo­ri­ca geholt, das Schäch­tel­chen mit den Rin­gen. Leni nahm mei­ne rech­te Hand, steck­te mir mei­nen und danach sich ihren auf. Wahr­schein­lich hat­ten sie und ihre Mut­ter die Komö­die sogar für die­sen Fall ver­ab­re­det, Flo­ri­ca begann zu schluch­zen, Leni in der Ton­la­ge zu kei­fen, die ich an den Fisch­markt­stän­den gehört hat­te. Die aber­wit­zi­ge Sze­ne ende­te mit dem Abzug des Wacht­mei­sters, der vor dem Geschrei von Bot­schaft der Sozia­li­sti­schen Repu­blik Rumä­ni­en in Ber­lin und Ver­lo­bung kapi­tu­lier­te. Der Auf­tritt mit Aplomb half in die­sem Obrig­keits­land manch­mal weiter.

Die Ver­lo­bung fand am 31. Dezem­ber statt. Einen Weih­nachts­baum gab es nicht, nur eine Ker­ze. Lenis Bru­der Alex­an­dru, San­dru geru­fen, erschien mit einer blond gefärb­ten Frau, die Kuky genannt wer­den woll­te: eine Bana­ter Schwä­bin. Sie über­setz­te, was San­dru mir zu sagen hat­te. Ein­mal, dass es eines Man­nes unwür­dig sei, mit Toi­let­ten­pa­pier im Ein­kaufs­netz durch die Stadt zu gehen. Ich hat­te am Nach­mit­tag ein paar Rol­len die­ses im Lan­de immer raren Arti­kels ergat­tert. Zum ande­ren wol­le er sei­ne Schwe­ster eigent­lich kei­nem Mann geben, aber einem lang­haa­ri­gen Deut­schen schon gar nicht. Obwohl mir Leni zuflü­ster­te, ich sol­le den Mund hal­ten, er sei von der Armee völ­lig ver­dreht zurück­ge­kom­men, konn­te ich mich nicht ent­hal­ten, ihm mit dem Wort zu ant­wor­ten, das mir so gefiel, weil es direkt aus dem latei­ni­schen futue­re, huren, beschla­fen her­kam: Fute! Flo­ri­ca begann wie­der zu wei­nen, Kuky blin­zel­te mir ver­schwö­re­risch zu, Leni knuff­te mich unter dem Tisch, San­dru schau­te mich aner­ken­nend an. Zum Schluss betran­ken wir uns alle mit Rachiu, ich sang »Es ist ein Ros ent­sprun­gen«, wir lach­ten, als Nico­lae Ceauşes­cu im Fern­se­hen sprach, wir tanz­ten zur Muzi­ca uso­ara aus dem Radio, man brach­te mir bei, war­um Ceauşes­cu nicht auf den rumä­ni­schen Brief­mar­ken abge­bil­det war: Sie wür­den nicht kle­ben, weil die Leu­te immer auf die fal­sche Sei­te spucken wür­den, um anzufeuchten.

In der Nacht vor mei­ner Abrei­se am 2. Janu­ar schlie­fen wir auch fast nicht, wir ahn­ten, dass wir uns erst im Mai wie­der­se­hen wür­den, eine Rei­se­ge­neh­mi­gung schon für den Febru­ar zu erhal­ten, hielt Leni für aus­sichts­los. Zumal nach mei­nem Besuch in der Bot­schaft, wo ich ihren Namen und ihre Adres­se genannt hatte.

Biblio­gra­fi­scher Hin­weis: Der Text ist ein Aus­zug aus der gleich­na­mi­gen, noch unver­öf­fent­lich­ten Erzählung.