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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Frieden – ein politisches Projekt

Si non vis bel­lum, para pacem.

Es mag über­ra­schen, aber in den mar­tia­li­schen Reden des der­zei­ti­gen Bun­des­kanz­lers Olaf Scholz tau­chen nicht nur neue Buz­zwords (wie die berüch­tig­te »Zei­ten­wen­de«), sen­ti­men­ta­le Flos­keln oder Daten zur Auf­rü­stung auf, son­dern immer wie­der auch die Begrif­fe: Frie­den, fried­lich, Frie­dens­ord­nung. Was ist von ihnen zu hal­ten? Wie kon­kret oder ernst­ge­meint sind sie? Oder ver­schlei­ern auch sie – wie mitt­ler­wei­le in öffent­li­chen Ver­laut­ba­run­gen (und in den soge­nann­ten Leit­me­di­en) weit­hin üblich – nur die wah­ren Sachverhalte?

In der am 27.2.2022, also nur drei Tage nach dem Beginn des Ukrai­ne-Krie­ges, gehal­te­nen Rede spricht Scholz sogleich und ohne Begrün­dung von einer angeb­li­chen Zei­ten­wen­de. Gemeint war damit offen­sicht­lich, dass in Euro­pa – wie­der – Krieg geführt wird. Ein Krieg, der auf das Kon­to eines Man­nes gehe, dem Kalt­blü­tig­keit, Men­schen­ver­ach­tung und dubio­se poli­ti­sche Moti­ve beschei­nigt wer­den. Über die kon­kre­te Lage in den Mona­ten und Jah­ren zuvor wird kein Wort ver­lo­ren. Statt­des­sen ste­hen »der« Krieg und des­sen schreck­li­che »Bil­der« im Fokus. Statt Erklä­run­gen zu lie­fern, wird Emo­tio­na­li­tät erzeugt, ja, eine ins Kli­schee­haf­te abglei­ten­de Sen­ti­men­ta­li­tät, die sich auch nicht scheut, an die schlim­men Kriegs­er­fah­run­gen der Deut­schen (nicht etwa der von ihnen Über­fal­le­nen) im Zwei­ten Welt­krieg zu erinnern.

Für die Jün­ge­ren sei »der« Krieg gera­de­zu unfass­bar, so als ob die letz­ten drei­ßig Jah­re nicht vol­ler schreck­li­cher, in den Medi­en stets prä­sen­ter Kriegs­ka­ta­stro­phen gewe­sen sei­en. Wäh­rend der Krieg als schreck­li­che Rea­li­tät dar­ge­stellt wird, wer­den die Grün­de, die kon­kre­ten Umstän­de sei­ner Ent­ste­hung, wohl­weis­lich nicht erwähnt. So ist bei­spiels­wei­se kei­ne Rede davon, dass in der Ukrai­ne bereits seit 2014 Krieg herrscht, Bür­ger­krieg. Scholz macht statt­des­sen Putin als Draht­zie­her aus, der die Uhr ins 19. Jahr­hun­dert zurück­stel­len wol­le, in das Jahr­hun­dert des Impe­ria­lis­mus. Mit solch dür­ren Argu­men­ten begrün­det Scholz dann anschlie­ßend ein aus­ge­dehn­tes Auf­rü­stungs­pro­gramm, das die BRD zu einem de fac­to Kriegs­land macht. Gleich­wohl bestehe das Ziel dar­in, den Krieg in der Ukrai­ne zu stop­pen. Es gehe dar­um, den erwie­se­nen Feind der euro­päi­schen Sicher­heits- und Frie­dens­ord­nung in die Schran­ken zu wei­sen. Stär­ke sei nötig, um unse­ren Wohl­stand, unse­re Demo­kra­tie, unse­re Sicher­heit zu wahren.

Scholz lässt es nicht an wei­te­ren star­ken Wor­ten feh­len: Putin habe die euro­päi­sche Sicher­heits­ord­nung »zer­trüm­mert«, er wol­le die Ukrai­ne von der Welt­kar­te »ver­til­gen«. In der UNO habe die infa­me Völ­ker­rechts­ver­let­zung nur auf­grund des rus­si­schen Vetos nicht ver­ur­teilt wer­den kön­nen. Die eige­ne Mis­si­on gilt als »Mis­si­on des Frie­dens«. Der Begriff Frie­den taucht tat­säch­lich immer wie­der auf. Zunächst ein­mal mag er ein Hin­wir­ken auf die Been­di­gung des Krie­ges bedeu­ten. Doch könn­te man natür­lich fra­gen, was zuvor zur Frie­den­si­che­rung unter­nom­men – oder eben nicht unter­nom­men wor­den ist. Dies geschieht nicht. Statt­des­sen heißt es vage, man wol­le sich auch wei­ter­hin für den Frie­den ein­set­zen. Scholz kon­zen­triert sich auf eine Rei­he von »Hand­lungs­auf­trä­gen«, die es zu erle­di­gen gel­te. Dazu gehö­ren dann etwas das »Son­der­ver­mö­gen Bun­des­wehr«, die Unter­stüt­zung der Ukrai­ne mit Geld und Waf­fen und die diver­sen, gegen die rus­si­schen Olig­ar­chen gerich­te­ten Sank­tio­nen. Man gewinnt somit den Ein­druck, als sei­en die­se Maß­nah­men ein Ein­satz für den Frie­den. Von einer sofor­ti­gen Been­di­gung des Krie­ges ist aller­dings nicht die Rede.

Zugu­te­hal­ten kann man Scholz, dass er sich nicht der dann bald ein­rei­ßen­den Rus­so­pho­bie anschließt, und die »Aus­söh­nung« zwi­schen Rus­sen und Deut­schen nicht gefähr­den will. Frei­lich fällt kein Wort über den deut­schen Über­fall auf die dama­li­ge Sowjet­uni­on, die 27 Mil­lio­nen Tote zu bekla­gen hat­te. Der Begriff Aus­söh­nung klingt so, als hand­le es sich um eine letzt­lich uner­klär­li­che Feind­schaft der fer­nen Ver­gan­gen­heit. Der Rest der Rede vom 27.2.2022 kon­zen­triert sich auf die Details der Auf­rü­stung von Bun­des­wehr und beglei­ten­der EU-Poli­tik, die jetzt, mili­tä­risch und poli­tisch geeint, Stär­ke zei­gen soll. Dies alles gilt der Siche­rung des Frie­dens. Damit ist offen­sicht­lich gemeint, dass man ein Über­grei­fen auf ande­re Län­der ver­hin­dern will. Den Kriegs­fall, der ein­trä­te, wenn Russ­land ein Nato-Land angrei­fe, neh­me man »sehr ernst«. Nach alt­be­kann­ter Manier beruht also die Frie­dens­be­reit­schaft auf eige­ner Stär­ke. Ernst­haf­te Frie­dens­an­ge­bo­te oder kon­struk­ti­ve Lösun­gen sind nicht vor­ge­se­hen, da dar­an, wie es – ohne Beweis heißt – auf der ande­ren Sei­te kein Inter­es­se bestehe.

Die Zei­ten­wen­de-Flos­kel taucht auch in einer im Okto­ber in den USA gehal­te­nen und dort publi­zier­ten Rede auf. Scholz spricht jetzt sogar von einer »glo­ba­len Zei­ten­wen­de«. Damit ist die Ent­wick­lung zu einer mul­ti­po­la­ren Welt gemeint. Dies wird nicht näher erläu­tert – es über­schnei­det sich iro­ni­scher­wei­se mit Putins bereits frü­her for­mu­lier­ten, aber Scholz wohl nur teil­wei­se bekann­ten Sicht­wei­se. Es geht nicht mehr (nur) um die Ukrai­ne, son­dern die Fol­ge­run­gen für die Welt­po­li­tik und die Bedro­hung der »regel­ba­sier­ten Ord­nung«, wie es mit einem wei­te­ren Buz­zword heißt. Gemeint ist auch hier eine Frie­dens- und Sicher­heits­ord­nung im Sin­ne der eige­nen – west­li­chen – Inter­es­sen. Frie­den ist somit dann mög­lich, wenn alle sich an die Regeln hal­ten, Regeln, deren Her­kunft und Reich­wei­te nor­ma­ler­wei­se nicht prä­zi­siert wer­den. Gewöhn­lich sind damit Men­schen­rech­te oder ande­re Grund­rech­te gemeint, doch was deren Inhalt ist, oder inwie­weit sie von ein­zel­nen Staa­ten respek­tiert, gewahrt oder wei­ter­ent­wickelt wer­den, bleibt meist im Dun­keln. Man begnügt sich mit einer Nega­tiv­de­fi­ni­ti­on, näm­lich dem Hin­weis auf die ver­meint­li­chen Geg­ner sol­cher Wer­te und Regeln. So wird das »Wir« gestärkt, und der Geg­ner in die Defen­si­ve gedrängt.

Scholz hat sich dar­über hin­aus ein bestimm­tes Geschichts­mo­dell zurecht­ge­legt, des­sen Wider­sprüch­lich­keit frap­pie­rend ist. Dem­nach waren die 30 Jah­re nach 1990 eine Zeit »rela­ti­ven Frie­dens«, ja, weit­ge­hen­der welt­wei­ter Pro­spe­ri­tät. Die soge­nann­ten Bal­kan­krie­ge, der völ­ker­rechts­wid­ri­ge Angriff auf Ser­bi­en 1999, die Krie­ge in Afgha­ni­stan, Irak, Liby­en oder Syri­en wer­den nicht erwähnt. All dies hat die ins Auge gefass­te »Frie­dens­ord­nung«, die auf dem Sieg über den Kom­mu­nis­mus basier­te, anschei­nend nicht tan­giert. Wenn Scholz dann den­noch die end­lo­se Rei­he von Krie­gen und Bür­ger­krie­gen, Inter­ven­ti­ons­ver­su­chen und Sank­ti­ons­re­gime kurz streift, dann um sie den – nicht näher bezeich­ne­ten – auto­ri­tä­ren, faschi­sti­schen oder impe­ria­li­sti­schen Kräf­ten anzu­la­sten. In die­sem Kon­text sieht Scholz dann auch den Krieg in der Ukrai­ne, für den er einen »revan­chi­sti­schen Impe­ria­lis­mus« ver­ant­wort­lich macht. Kurz: Die Welt war nach dem Zusam­men­bruch der mei­sten kom­mu­ni­sti­schen Staa­ten – für Scholz ein Sieg der Demo­kra­tie – drei Jahr­zehn­te lang in Ord­nung. Die diver­sen Krie­ge sind nicht der Rede wert. Der Frie­den oder irgend­wel­che Frie­dens­ord­nun­gen sind an die west­li­che Poli­tik gekop­pelt. Putins Krieg in der Ukrai­ne wird dem­entspre­chend als uner­hör­ter Angriff auf die­se – stets so all­ge­mein bezeich­ne­te – Frie­dens­ord­nung gewertet.

Viel­leicht lohnt es sich, einen Blick auf die Geschich­te zu wer­fen, und zwar auf das letz­te Jahr­zehnt des 18. Jahr­hun­derts. Die fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on von 1789 feg­te bin­nen weni­ger Jah­re das alte feu­da­li­stisch-kle­ri­ka­le Zwangs­sy­stem hin­weg und eröff­ne­te damit die Per­spek­ti­ve auf eine Welt ohne Krieg. Krie­ge waren jahr­hun­der­te­lang dem Macht- und Berei­che­rungs­in­ter­es­sen eini­ger weni­ger geschul­det, die selbst kei­ner­lei Opfer zu brin­gen brauch­ten. Es schien mög­lich, die­se Gei­ßel der Mensch­heit ein für alle Mal aus­zu­rot­ten, wenn­gleich sich schon bald zeig­te, dass die Fran­zo­sen ihren neu­en Staat und ihre Ver­fas­sung gegen den Ansturm der reak­tio­nä­ren Mon­ar­chien ver­tei­di­gen muss­ten und dann wenig spä­ter sogar zur Gegen­of­fen­si­ve über­gin­gen. Im wenig revo­lu­tio­nä­ren, aber revo­lu­ti­ons­freund­li­chen Deutsch­land kam es zu lang­jäh­ri­gen Debat­ten über die Fra­ge von Krieg und Frie­den. Der Königs­ber­ger Phi­lo­soph Imma­nu­el Kant schrieb Ende 1795 sei­ne im Stil eines Ver­trags für die Zukunft gehal­te­ne Kampf­schrift »Zum ewi­gen Frie­den«, in dem er, durch­aus rea­li­stisch, die Chan­cen eines dau­er­haf­ten Frie­dens dis­ku­tier­te. Dazu gehör­te etwa eine repu­bli­ka­ni­sche (sprich: demo­kra­ti­sche) Staats­form, die Abschaf­fung ste­hen­der Hee­re sowie das Ver­bot der Über­schul­dung zu Kriegs­zwecken. Kant erwog diver­se For­men einer über­na­tio­na­len Rege­lung, warn­te aber vor einer uni­ver­sel­len Mon­ar­chie oder der Hege­mo­nie eines ein­zel­nen Staa­tes – auch wenn die­ser als wohl­wol­lend gel­ten kön­ne. Die Viel­falt der Natio­nen müs­se gewahrt blei­ben. Für Kant war bereits klar, dass nicht nur die alten abso­lu­ti­sti­schen Mäch­te Kriegs­trei­ber und -pro­fi­teu­re waren, son­dern auch Han­dels­mäch­te wie Eng­land, das bereits reprä­sen­ta­ti­ve Regie­rungs­for­men hat­te, aber rie­si­ge Geld­men­gen in die Bekämp­fung der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on investierte.

So anti­quiert das eine oder ande­re in der damals breit dis­ku­tier­ten Schrift heu­te erschei­nen mag, Kant mach­te das Kon­zept des »ewi­gen«, das heißt eines wirk­lich dau­er­haf­ten Frie­dens zu einem poli­ti­schen Pro­jekt, das auch Poli­ti­ker, jeden­falls »mora­li­sche«, d. h. ver­nunft­ge­lei­te­te Poli­ti­ker zu beher­zi­gen hät­ten. Schließ­lich ging es schon damals um das lang­fri­sti­ge Über­le­ben der Gat­tung, wor­auf Kant tief­sin­nig-scherz­haft mit sei­nem Bezug zum Ewi­gen anspiel­te. Krieg, der Krieg aller gegen alle, füh­re sonst zum ewi­gen Frie­den des Fried­hofs. Auch heu­te wäre in Kants Geist zu prü­fen, wel­che Frie­dens­kon­zep­te wirk­lich trag­fä­hig sind und der Viel­falt unse­rer Welt ent­spre­chen. Blo­ße Frie­dens­de­kla­ra­tio­nen oder der selbst­ge­rech­te Anspruch, eine bestimm­te (macht­ge­stütz­te) Form des Frie­dens garan­tie­ren oder durch­set­zen zu wol­len, sind unzu­rei­chend, ja, unter­mi­nie­ren einen mög­li­chen Frie­den. Die alte For­mel, wonach die beste Frie­dens­si­che­rung vor allem in der eige­nen (mili­tä­ri­schen) Stär­ke bestehe, soll­te end­lich ver­ab­schie­det wer­den. Statt­des­sen soll­te gel­ten: »Wenn du kei­nen Krieg willst, schaf­fe die Vor­aus­set­zun­gen für den Frieden.«