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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Furchtbarer Jurist

Als am 15. März 1945, kurz nach 16 Uhr, der jun­ge Matro­se Wal­ter Grö­ger wegen »Fah­nen­flucht im Fel­de« hin­ge­rich­tet wur­de, fand nicht nur ein jun­ges Leben ein Ende, auch das Leben einer Frau, sei­ner Mut­ter, lag fort­an in Trüm­mern. Ihr war – weni­ge Mona­te vor Kriegs­en­de – der ein­zi­ge Sohn genom­men wor­den. Das Hin­rich­tungs­do­ku­ment trug die Unter­schrift des Mari­ne­st­abs­rich­ters Fil­bin­ger. »Im Namen des Volkes«.

Fil­bin­ger hat­te immer wie­der betont, er habe kein Todes­ur­teil selbst gefällt. Vor dem Stutt­gar­ter Land­ge­richt hat­te er zudem erklärt, er habe als Mari­ne­rich­ter über­all gehol­fen, »wo irgend­ei­ne Aus­sicht auf Hil­fe war«, und dabei Men­schen geret­tet oder vor har­ter Stra­fe bewahrt. Dabei habe er selbst »Leib und Leben« riskiert.

In gro­ßen Tei­len der Öffent­lich­keit wur­de damals die­se Ver­tei­di­gung als ein Skan­dal emp­fun­den. Vor allem im sozi­al­de­mo­kra­tisch-libe­ra­len Spek­trum sah man in Fil­bin­ger einen Reprä­sen­tan­ten der »Ewig­gest­ri­gen«, der Selbst­ge­rech­ten und Unbuß­fer­ti­gen. In den lin­ken Milieus galt er als Unper­son. Doch selbst sei­ne Freun­de aus der CDU befürch­te­ten, durch des­sen starr­sin­ni­ge Recht­fer­ti­gungs­hal­tung könn­te der »Schat­ten des NS-Unheils« nun auf die eige­ne Par­tei fal­len. Doch Fil­bin­ger beteu­er­te immer wie­der, er habe kei­ne Schuld auf sich gela­den. Nie gab er zu erken­nen, dass er sei­ne Mit­wir­kung als Mari­ne­rich­ter bedau­er­te oder bereu­te. Der dama­li­ge Oppo­si­ti­ons­füh­rer im baden-würt­tem­ber­gi­schen Land­tag, Erhard Epp­ler, atte­stier­te dem CDU-Mini­ster­prä­si­den­ten ein »patho­lo­gisch gutes Gewis­sen«. Die Süd­deut­sche Zei­tung schob nach: »…und ein patho­lo­gisch schlech­tes Gewissen«.

Wolf­ram Wet­te u. a. haben Fil­bin­gers zwei­fel­haf­te Kar­rie­re doku­men­tiert. Ihre For­schungs­ar­bei­ten bele­gen: Fil­bin­ger war an Todes­ur­tei­len betei­ligt, und er hat selbst Todes­ur­tei­le gefällt. Er hat in dem mili­tä­ri­schen Gewalt­ap­pa­rat des NS-Regimes bestens funk­tio­niert und sich in der Rol­le des Mili­tär­rich­ters genau­so ver­hal­ten, wie es die mili­tä­ri­sche und poli­ti­sche Obrig­keit des NS-Staa­tes von ihm erwar­te­te. Rolf Hoch­huth präg­te damals den Begriff des »furcht­ba­ren Juri­sten«. Die­se Juri­sten beharr­ten auch nach dem Ende der Hit­ler-Dik­ta­tur auf der Recht­mä­ßig­keit ihrer Urtei­le. Ihre beschä­men­de Recht­fer­ti­gung: »Was damals Recht war, kann heu­te nicht Unrecht sein.« Auch Fil­bin­ger selbst sah sich stets als Opfer einer Ruf­mord­kam­pa­gne – muss­te aber schließ­lich 1978, nach zwölf Jah­ren vom Amt des baden-würt­tem­ber­gi­schen Mini­ster­prä­si­den­ten, zurücktreten.

Die Dis­kus­si­on über ihn wur­de im Jah­re 2007 neu ent­facht, als Gün­ther Oet­tin­ger, als einer der Nach­fol­ger Fil­bin­gers als Mini­ster­prä­si­dent des Lan­des, in einer Trau­er-Rede für den zuvor im Alter von 93 Jah­ren gestor­be­nen Ex-Mari­ne­rich­ter für Empö­rung sorg­te. »Hans Fil­bin­ger war kein Natio­nal­so­zia­list. Im Gegen­teil, er war ein Geg­ner des NS-Regimes«, ver­kün­de­te Oet­tin­ger. Nie­mand hat­te ob die­ser Unge­heu­er­lich­keit die Trau­er­fei­er im Frei­bur­ger Dom demon­stra­tiv ver­las­sen, doch es war eine Rede, die selbst die Bun­des­kanz­le­rin zwang, sich öffent­lich zu äußern. Sie hät­te sich, so Ange­la Mer­kel, eine Dif­fe­ren­zie­rung »ins­be­son­de­re im Blick auf die Gefüh­le der Opfer und Betrof­fe­nen gewünscht«.

Doch auch die öffent­li­che Rüge der Kanz­le­rin mach­te die näch­sten rhe­to­ri­schen Scharf­schüt­zen nicht klug – jeden­falls nicht jene, die in der poli­ti­schen Are­na Gla­dia­to­ren­kämp­fe füh­ren und Vasal­len-Treue bewei­sen wol­len. »Jedes Wort war rich­tig, da kann man nur fünf Aus­ru­fe­zei­chen dahin­ter machen«, ließ etwa Georg Brunn­hu­ber, dama­li­ger CDU-Lan­des­grup­pen­chef (und spät hoch­do­tier­ter Lob­by­ist der Bahn AG) im Deut­schen Bun­des­tag, ver­lau­ten. Man könn­te der­lei Äuße­run­gen als ver­ba­le Irr­läu­fer gereiz­ter, über­ar­bei­te­ter Poli­ti­ker abtun, wenn sich dar­in nicht ein struk­tu­rel­les Sym­ptom abbil­den wür­de: die nach­träg­li­che Soli­da­ri­tät mit den Tätern, die wie­der­hol­te Belei­di­gung der Opfer. In jedem Fall eine erle­se­ne Geschmack­lo­sig­keit, die von histo­ri­scher Ahnungs­lo­sig­keit und oppor­tu­ni­sti­scher Drei­stig­keit zeugt.

Zu einer ande­ren Bewer­tung kam Susan­na Fil­bin­ger-Rig­gert, Toch­ter des post­hum zum »Wider­stands­kämp­fer« ernann­ten Ex-Mari­ne­richt­ers. In ihrem Frei­bur­ger Eltern­haus hat­te sie die etwa 60 Tage­bü­cher ent­deckt und Zita­te dar­aus in ihrem Buch 2013 erschie­ne­nen Buch »Kein wei­ßes Blatt – Eine Vater-Toch­ter-Bio­gra­phie« ver­öf­fent­licht. Ihr Resü­mee: »Mein Vater war kein Geg­ner des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Das waren die Stauf­fen­bergs und Goer­de­lers.« Den Moment, als im August 1978 ihr Vater vom Amt des Mini­ster­prä­si­den­ten zurück­ge­tre­ten war, schil­der­te sie in einem Gespräch mit der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Sonn­tags­zei­tung: »Als er nach Hau­se kam, war er nicht mehr der­sel­be. War er nicht mehr mein Vater. Da war er zutiefst erschüt­tert. Sein Leben lag in Trüm­mern.« Heu­te, selbst im hohen Alter, hegt sie kei­nen Groll mehr gegen ihn. Sie hat ihrem Vater ver­ge­ben, was er ihr und sei­ner Fami­lie zuge­mu­tet hat.

Davon war Gün­ther Oet­tin­ger weit ent­fernt, als er im April 2007 in sei­ner Trau­er­re­de im Frei­bur­ger Dom Fil­bin­ger als einen »Mann des Wider­stan­des im Drit­ten Reich« wür­dig­te. Schon Jah­re zuvor, im Juni 1993, hat­te Vol­ker Kau­der, spä­ter Vor­sit­zen­der der CDU/C­SU-Frak­ti­on im Deut­schen Bun­des­tag, ver­laut­ba­ren las­sen: »Dr. Fil­bin­ger war ein aus­ge­wie­se­ner Geg­ner des natio­nal­so­zia­li­sti­schen Regimes. Die Kam­pa­gne gegen ihn gehört zu den spek­ta­ku­lär­sten Ent­hül­lungs- und Fäl­schungs­kam­pa­gnen der Sta­si.« Die­ser bizar­ren Erzäh­lung folg­te Oet­tin­ger 2007 in sei­ner Trau­er­re­de, was das Ende des Lan­des­po­li­ti­kers ein­lei­te­te – ihm aber als Ent­schä­di­gung eine gut dotier­te Abschie­bung als EU-Kom­mis­sar in Brüs­sel bescher­te. Von 2010 bis 2019 gehör­te Oet­tin­ger der EU-Kom­mis­si­on an, zuletzt als Kom­mis­sar für Haus­halt und Per­so­nal. Fil­bin­ger und Oet­tin­ger: zwei Poli­ti­ker-Gene­ra­tio­nen – ein Bei­spiel deut­scher Geschichts-Ver­ges­sen­heit und Wirklichkeits-Verleugnung.

Mit­te Mai 2020 bekam ich Post von der Chef­re­dak­ti­on der Frank­fur­ter Rund­schau, dar­in ein wei­te­res Kuvert, adres­siert zu mei­nen Hän­den. Absen­der: Susan­na Fil­bin­ger-Rig­gert. Als Replik auf mei­nen Arti­kel »Schuld, Schutt und Scham – 75 Jah­re Kriegs­en­de am 8.Mai«, der zuvor in der Frank­fur­ter Rund­schau erschie­nen war, schrieb sie mir einen zwei­sei­ti­gen Brief, der hier nicht gänz­lich ver­öf­fent­licht wer­den soll – nur so viel: Sie kri­ti­sier­te, dass ich ihren Vater in mei­nem Bei­trag in der Frank­fur­ter Rund­schau als »Kriegs­rich­ter« bezeich­net habe, »der es zum Mini­ster­prä­si­den­ten eines Bun­des­lan­des brach­te«. Und sie zitier­te in ihrem Brief Pres­se­ar­ti­kel, die schon damals die Ver­si­on Hoch­huths, ihr Vater sei für den Tod des jun­gen Matro­sen Grö­ger ver­ant­wort­lich, als Lüge bezeich­net hatten.

»Ich wäre Ihnen dank­bar, wenn mehr Genau­ig­keit und auch juri­sti­sche Dif­fe­ren­zie­rung beim Ver­fas­ser von Arti­keln ange­wandt wür­den, ins­be­son­de­re aus Anlass wich­ti­ger Gedenk­ta­ge wie dem 75. Jah­res­tag des Endes des 2. Welt­krie­ges«, mahn­te sie mit »freund­li­chen Grü­ßen«. Ihr Brief ende­te mit einem per­sön­li­chen Appell: »Es ist auch die histo­ri­sche Genau­ig­keit, die dazu bei­trägt, nach­fol­gen­de Gene­ra­tio­nen auf­zu­klä­ren und dabei mit­zu­wir­ken, dass sich das Schreck­li­che eines sol­chen Krie­ges nie wie­der­ho­len kann.«

Weni­ge Tage spä­ter ant­wor­te­te ich: »Sehr geehr­te Frau Fil­bin­ger-Rig­gert, Ihren Brief vom 13. Mai 2020, betr. mei­nes Arti­kel ›Schutt, Schuld und Scham‹ in der Frank­fur­ter Rund­schau, wur­de mir von der Redak­ti­on zuge­lei­tet. Dazu: Brach­te nicht das Zitat vom dama­li­gen Recht, das heu­te nicht Unrecht sein kön­ne, Ihren Vater ums Amt des Mini­ster­prä­si­den­ten? Das Zitat belegt in sei­ner prä­gnan­ten Kür­ze, dass da jemand nicht begrif­fen hat­te und nicht begrei­fen woll­te, dass for­ma­les Recht nur all­zu rasch Unrecht wer­den kann. Es ist dem gera­de ver­stor­be­nen Rolf Hoch­huth zu ver­dan­ken, dass er 1978 die Ver­gan­gen­heit des NS-Mari­ne­richt­ers Fil­bin­ger ent­hüllt und ihn einen furcht­ba­ren Juri­sten genannt hat. Ich möch­te ihm unein­ge­schränkt zustim­men. Sie sor­gen sich dar­um, sehr geehr­te Frau Fil­bin­ger-Rig­gert, das Schreck­li­che des Krie­ges möge sich nie mehr wie­der­ho­len. Ich möch­te anmer­ken: Erst ein Heer oppor­tu­ni­sti­scher Kar­rie­ri­sten, die bereit waren, ver­werf­li­che, ernied­ri­gen­de, men­schen­un­wür­di­ge Geset­ze blind zu akzep­tie­ren und im Namen des ›Füh­rers‹ bis zum bit­te­ren Ende zu voll­strecken, ermög­lich­ten die Nazi-Bar­ba­rei. Ihr Vater steht exem­pla­risch für die­se will­fäh­ri­ge Täter-Gene­ra­ti­on. Mit freund­li­chen Grüßen.«

Der unge­kürz­te Text erscheint im April in: Hel­mut Ort­ner, WIDERSTREIT – Über Macht, Wahn und Wider­stand, Nomen Ver­lag, Frankfurt.