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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Gegeneinander oder Miteinander

Wir erle­ben der­zeit, wie sich ein Unbe­ha­gen hin­sicht­lich des Zustands unse­rer Gesell­schaft ver­fe­stigt. Das Gefühl, dass es auf so vie­len Fel­dern des öffent­li­chen Lebens nichts mehr so rich­tig rund läuft. Wir ver­bin­den die­ses Unbe­ha­gen oft mit der Ahnung eines schwin­den­den inne­ren Zusam­men­halts oder gar mit der Befürch­tung eines mög­li­chen Zer­falls des »Gemein­we­sens«. Ande­re reden sogar von Spal­tung, auch des­halb, weil die Ver­tei­lung der gemein­schaft­lich erwirt­schaf­te­ten Wert­schöp­fung immer ein­sei­ti­ger von der doch recht schma­len Schicht der Inha­ber des Kapi­tals absor­biert wird.

Spal­tung hat eine inne­re und äuße­re Dimen­si­on. Wenn ein Mensch aus einem inne­ren Zwist her­aus lebt, aus dem so etwas wie ein Kampf gegen sich selbst ent­steht, kann das, als Pro­jek­ti­on, in eine »Not­wen­dig­keit« zum Kampf gegen Min­der­hei­ten mün­den. Schlimm­stes Bei­spiel ist der Anti­se­mi­tis­mus. Eine äuße­re Spal­tung kann ent­ste­hen aus sozia­len Ungleich­hei­ten, in denen Men­schen als Fol­ge ihrer mate­ri­el­len Man­gel­la­ge eine ange­mes­se­ne Teil­ha­be am gesell­schaft­li­chen Leben ver­wehrt ist. Spal­tung steht also für ein oft uner­bitt­li­ches Gegen­ein­an­der und für eine Frontbildung.

Das Unbe­ha­gen über den Zustand unse­res Gemein­we­sens beinhal­tet auch das erkenn­ba­re Ero­die­ren der demo­kra­ti­schen Sub­stanz, nicht nur vom rech­ten Rand her, son­dern auch aus der Mit­te der Gesell­schaft. Ist uns eigent­lich noch bewusst, auf wel­chen Vor­aus­set­zun­gen ein gelin­gen­des Gemein­we­sen beruht? Zwei­fel sind erlaubt. Viel­leicht lohnt es sich, gera­de des­halb, weit zurück­zu­ge­hen zu den Anfän­gen der euro­päi­schen Kul­tur, in das anti­ke Grie­chen­land, und ein­zu­tre­ten in den rei­chen Gedan­ken­kos­mos des Phi­lo­so­phen Pla­ton (428-348 v. Chr.).

Unser bür­ger­lich-kapi­ta­li­sti­sches Bewusst­sein, das ja vor allem aus einem blut­lee­ren Effi­zi­enz­den­ken mit­samt einem Krei­sen um die mög­lichst per­fek­te Selbst­op­ti­mie­rung besteht, hat eigent­lich recht wenig mit dem gei­sti­gen Reich­tum Pla­tons zu tun. Wir betre­ten also eine ganz ande­re Welt.

Zen­tra­le Ach­se des pla­to­ni­schen Den­kens ist die Fra­ge nach dem gelin­gen­den Leben. Die­ses Suchen führ­te dazu, dass Pla­ton im Begriff der »Leben­dig­keit« den Schlüs­sel zur Beant­wor­tung die­ser Fra­ge fand. Dem ging vor­aus, dass er sowohl den ein­zel­nen Men­schen als auch das Gemein­we­sen zual­ler­erst als leben­di­ge Orga­nis­men ver­stand. Die­se ihrer­seits bestehen aus ein­zel­nen, unter­schied­li­chen oder gegen­sätz­li­chen Tei­len, die durch ein Inter­agie­ren schließ­lich das gemein­sa­me Leben des Gan­zen sichern. Schon die Den­ker der Anti­ke waren sich der Mög­lich­keit des Schei­terns eines Gemein­we­sens sehr bewusst. Die zen­tra­le Ursa­che iden­ti­fi­zier­ten sie in der Ver­fol­gung pri­va­ter Inter­es­sen oder des Eigen­nut­zes durch die Herr­schen­den oder Pri­vi­le­gier­ten eines Systems. Das gelin­gen­de Gemein­we­sen zeigt sich in dem Bestre­ben, das All­ge­mein­wohl durch­zu­set­zen. Anders aus­ge­drückt, immer wenn pri­va­te Inter­es­sen, oft schön ver­schlei­ert als angeb­li­ches Inter­es­se aller, zur Hand­lungs­ma­xi­me einer Regie­rung wer­den, ist das Gemein­we­sen in sei­nem Kern gefähr­det. So mutiert dann eine Demo­kra­tie zur Och­lok­ra­tie, einer Herr­schaft des Pöbels, wie Pla­ton Men­schen, aus­schließ­lich fixiert auf ihr pri­va­tes Inter­es­se, zu bezeich­nen pflegte.

Was trägt also zu einem gelin­gen­den Gemein­we­sen bei? Es ist die Suche nach dem guten Leben. Die­ses wird ver­wirk­licht, wenn es sich ent­fes­seln kann, wenn es leben­dig wird. Das bedeu­tet, dass jedes Lebe­we­sen ganz bei sich selbst, sei­nem Wesen, ankommt, und die­ses auch lebt. Je mehr eine Gesell­schaft dies ermög­licht, umso ent­schie­de­ner befin­det sie sich auf der Spur des Guten. Je mehr dies geschieht, sowohl im Mikro­kos­mos Mensch als auch im Makro­kos­mos Gesell­schaft, gelingt Leben, erschließt sich der Sinn des Lebens.

Von die­ser Grund­la­ge aus nähert sich Pla­ton der Fra­ge nach der Gerech­tig­keit in einem Gemein­we­sen. Die Ent­fes­se­lung des Leben­di­gen führt zu einer gerech­ten Gesell­schaft, wenn jedes Teil sei­nem Wesen gemäß sich ent­fal­ten kann. Das Leben­di­ge wird als die Kraft erkannt, die alles eint. Die Ener­gie des Leben­di­gen ist der Eros. Er ist die Kraft, die alles Leben umfängt, mit­ein­an­der ver­bin­det und inte­griert. Sie ist zugleich die Kraft, die den Frie­den in der Welt durch­setzt. Sie ist die Kraft, die der exi­sten­ti­el­len Gefähr­dung des Men­schen durch das über­all lau­ern­de Joch der Nor­ma­li­tät, die das Gegen­ein­an­der und die Spal­tung zunächst im Inne­ren des Men­schen her­vor­bringt, ent­ge­gen­wirkt. Der Weg, auf dem alles Leben sich ent­fes­selt und Wider­sprü­che als Quel­le aller Bewe­gung und Leben­dig­keit ver­stan­den und inte­griert wer­den, führt zur Har­mo­nie, zum Ein­klang mit sich selbst und der Welt. Hier liegt nach Pla­ton der Durch­bruch hin zum gelin­gen­den Leben und zum Sinn des Lebens.

Wir spü­ren, wie sehr Pla­ton auch dem gewalt­frei­en Den­ken Räu­me eröff­net. Die Kon­se­quenz einer leben­di­gen Gesell­schaft ist, dass die Mensch­lich­keit, die Empa­thie, die Rück­sicht­nah­me, der Respekt vor der Ver­schie­den­heit der Men­schen sich ent­fal­ten können.

Es erüb­rigt sich bei­na­he, fest­zu­stel­len, dass unse­re Gesell­schaft vom Ide­al eines sol­chen Ein­klangs weit ent­fernt ist. Wir sind ja schon erleich­tert, wenn die Eska­la­ti­on der Gewalt ein­ge­dämmt wer­den kann. War­um ist das so? Bezo­gen auf Pla­ton müs­sen wir fest­stel­len, dass in unse­rer Gesell­schaft die Ver­fol­gung pri­va­ter Inter­es­sen Vor­rang hat vor der Durch­set­zung des All­ge­mein­wohls. Dies ist die logi­sche Fol­ge, wenn eine Gesell­schaft dem Kapi­ta­lis­mus aus­ge­lie­fert wird. Mar­ga­ret That­cher bemerk­te ein­mal: »Es gibt so etwas wie eine Gesell­schaft nicht.« Denn Kapi­ta­li­sten ver­fol­gen vor allem Ein­zel­in­ter­es­sen, oft unfass­bar rück­sichts­los gegen die Mehr­heit. Hin­zu­kommt, dass die ein­mal getrof­fe­ne Ent­schei­dung, das Pri­vat­ei­gen­tum zu Lasten des gemein­sa­men Eigen­tums zu prio­ri­sie­ren, letzt­lich immer auch den inne­ren Zusam­men­halt einer Gesell­schaft unter­mi­niert. Wer die Meh­rung des Eigen­tums zum Daseins­zweck erklärt, schafft eine Lebens­form, die nicht leben­dig macht. Sie erzeugt Käl­te und Empa­thie­lo­sig­keit, tag­täg­lich spür­bar. Deutsch­land zählt knapp hin­ter den USA zu den Län­dern, in der die Ver­mö­gen beson­ders ungleich ver­teilt sind. Unser Land steht vor der zen­tra­len Her­aus­for­de­rung der Trans­for­ma­ti­on unse­rer Gesell­schaft hin zu einer kli­ma­freund­li­chen Pro­duk­ti­ons­wei­se, was eine unge­heu­re, auch finan­zi­el­le Kraft­an­stren­gung dar­stellt. Es geht um unse­re Zukunft, um eine lebens­wer­te Welt für die nach­kom­men­den Gene­ra­tio­nen. Es ist erschüt­ternd, dass letzt­lich alles abge­blockt wird, um die Pro­fi­teu­re die­ses Wirt­schafts­sy­stems zu einem soli­da­ri­schen, finan­zi­el­len Bei­trag zu verpflichten.

Pla­ton sieht eine Demo­kra­tie gefähr­det, wenn pri­va­te Inter­es­sen das All­ge­mein­wohl über­la­gern. Das heißt, das Wesen einer Demo­kra­tie ist fun­da­men­tal ver­knüpft mit einem Bewusst­sein, das sich ver­ant­wort­lich fühlt für das Gan­ze, das heißt die Siche­rung der Lebens- und Ent­fal­tungs­rech­te aller.

Dar­aus lässt sich fol­gern, dass die DNA des Kapi­ta­lis­mus sich gegen die Demo­kra­tie rich­tet. Ein Bei­spiel: Der Woh­nungs­markt wur­de 1989 per Gesetz von den »Fes­seln« der Gemein­nüt­zig­keit befreit, mit der Kon­se­quenz, dass die Pro­fit­ma­xi­mie­rung sich unge­hemmt »aus­le­ben« konn­te und kann. Dies betraf etwa 4 Mil­lio­nen Woh­nun­gen. Vie­le Wohn­an­la­gen, vor allem in den Metro­po­len, in denen Men­schen über 40 Jah­re lang zu erschwing­li­chen Mie­ten leb­ten, wur­den in gro­ßen Stil von Finanz­in­ve­sto­ren und Woh­nungs­kon­zer­nen auf­ge­kauft, luxus­sa­niert oder als Eigen­tums­woh­nun­gen an zah­lungs­kräf­ti­ge Kun­den ver­kauft. Dies bedeu­te­te fak­tisch eine Ver­trei­bung der bis­he­ri­gen BewohnerInnen.

»Die Wür­de des Men­schen ist unan­tast­bar« (Art.1, GG). Es ist nicht über­zo­gen, in die­sen lega­len Ver­hal­tens­wei­sen des Kapi­tals einen Angriff auf die Wür­de der Men­schen zu erken­nen, aus wel­cher sich eigent­lich ein Grund­recht auf siche­res Woh­nen mit erschwing­li­chen Mie­ten ergibt. Es gibt kei­ne ernst­haf­ten Bestre­bun­gen der eta­blier­ten Par­tei­en – mit Aus­nah­me viel­leicht der Links­par­tei –, die Men­schen zu schüt­zen vor dem ent­fes­sel­ten Kapital.

Der Kapi­ta­lis­mus ist so ange­legt, dass er das Leben von Men­schen beschä­digt, ent­wer­tet und Men­schen demü­tigt. Dies ist system­be­dingt. Es soll­te nicht ver­wun­dern, dass dar­aus Wut und Empö­rung erwächst. Wir erle­ben der­zeit, dass vie­le Arbeit­neh­me­rIn­nen in Euro­pa aus die­ser Ohn­machts­er­fah­rung her­aus, auch um ein Zei­chen des Pro­tests zu set­zen, bei rechts­extre­mi­sti­schen Par­tei­en Zuflucht suchen. Dies ist absurd, denn Par­tei­en wie die AfD inter­es­sie­ren sich nicht für die Stär­kung von Arbeit­neh­mer­rech­ten. Zum ande­ren zeigt es an, dass es kei­ne gefe­stig­te lin­ke Iden­ti­tät mehr gibt. Wir sehen, dass der refor­mi­sti­sche Weg der SPD ab August 1914, also die Akzep­tanz der kapi­ta­li­sti­schen Spiel­re­geln, immer kla­rer eine Form von inne­rer und äuße­rer Auf­lö­sung einst gefe­stig­ter Hal­tun­gen zur Fol­ge hat. Die­se Ent­wick­lung ver­schärf­te sich erheb­lich, als in den 80er Jah­ren die neo­li­be­ra­le Ideo­lo­gie ihren Sie­ges­zug in den Staa­ten des Westens antrat. Sie ist der Ver­such, den Men­schen von Grund auf umzu­for­men in eine (Markt)-Konformität. Sie ist ihren Wesen nach auto­ri­tär, und wirkt sub­til wie eine all­mäh­li­che Zer­set­zung der demo­kra­ti­schen Sub­stanz in unse­rer Gesell­schaft. Könn­te eine Rück­be­sin­nung auf die gei­sti­gen Res­sour­cen der alten Arbei­ter­be­we­gung zur Quel­le neu­er lin­ker Selbst­be­haup­tung gegen die­sen Fron­tal­an­griff werden?

Die berech­tig­te Wut auf­grei­fen und kana­li­sie­ren, dass sie zu einer Ver­än­de­rung der Ver­hält­nis­se im Sin­ne des Auf­baus einer mensch­li­che­ren Welt genutzt wird, dies ist die Auf­ga­be lin­ker Bewusst­seins­bil­dung. Sie ist exi­sten­ti­ell, um die Gesell­schaft zu schüt­zen vor dem Absturz in den faschi­sti­schen Zivi­li­sa­ti­ons­bruch. Dies lei­stet der refor­mi­sti­sche Weg nicht.

Zurück zu Pla­ton: Die gerech­te Gesell­schaft ist zugleich die zur Leben­dig­keit fähi­ge Gesell­schaft. Wir sehen, dass die bür­ger­lich-kapi­ta­li­sti­sche Gesell­schaft die­se Wert­set­zung nicht teilt. Radi­ka­le Gesell­schafts­kri­tik braucht den Wider­stand gegen die Lebens­form des Waren­fe­ti­schis­mus. Es ist ein Den­ken, das im Gesamt­zu­sam­men­hang, im Gan­zen der Wirk­lich­keit ankommt, was zugleich die Demo­kra­tie festigt. Denn die­se – so Pla­ton – ist in gro­ßer Gefahr, wenn pri­va­te Inter­es­sen alles domi­nie­ren. Sie ist also in Gefahr, solan­ge wir dem Kapi­ta­lis­mus nicht Ein­halt gebieten.