Wir erleben derzeit, wie sich ein Unbehagen hinsichtlich des Zustands unserer Gesellschaft verfestigt. Das Gefühl, dass es auf so vielen Feldern des öffentlichen Lebens nichts mehr so richtig rund läuft. Wir verbinden dieses Unbehagen oft mit der Ahnung eines schwindenden inneren Zusammenhalts oder gar mit der Befürchtung eines möglichen Zerfalls des »Gemeinwesens«. Andere reden sogar von Spaltung, auch deshalb, weil die Verteilung der gemeinschaftlich erwirtschafteten Wertschöpfung immer einseitiger von der doch recht schmalen Schicht der Inhaber des Kapitals absorbiert wird.
Spaltung hat eine innere und äußere Dimension. Wenn ein Mensch aus einem inneren Zwist heraus lebt, aus dem so etwas wie ein Kampf gegen sich selbst entsteht, kann das, als Projektion, in eine »Notwendigkeit« zum Kampf gegen Minderheiten münden. Schlimmstes Beispiel ist der Antisemitismus. Eine äußere Spaltung kann entstehen aus sozialen Ungleichheiten, in denen Menschen als Folge ihrer materiellen Mangellage eine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verwehrt ist. Spaltung steht also für ein oft unerbittliches Gegeneinander und für eine Frontbildung.
Das Unbehagen über den Zustand unseres Gemeinwesens beinhaltet auch das erkennbare Erodieren der demokratischen Substanz, nicht nur vom rechten Rand her, sondern auch aus der Mitte der Gesellschaft. Ist uns eigentlich noch bewusst, auf welchen Voraussetzungen ein gelingendes Gemeinwesen beruht? Zweifel sind erlaubt. Vielleicht lohnt es sich, gerade deshalb, weit zurückzugehen zu den Anfängen der europäischen Kultur, in das antike Griechenland, und einzutreten in den reichen Gedankenkosmos des Philosophen Platon (428-348 v. Chr.).
Unser bürgerlich-kapitalistisches Bewusstsein, das ja vor allem aus einem blutleeren Effizienzdenken mitsamt einem Kreisen um die möglichst perfekte Selbstoptimierung besteht, hat eigentlich recht wenig mit dem geistigen Reichtum Platons zu tun. Wir betreten also eine ganz andere Welt.
Zentrale Achse des platonischen Denkens ist die Frage nach dem gelingenden Leben. Dieses Suchen führte dazu, dass Platon im Begriff der »Lebendigkeit« den Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage fand. Dem ging voraus, dass er sowohl den einzelnen Menschen als auch das Gemeinwesen zuallererst als lebendige Organismen verstand. Diese ihrerseits bestehen aus einzelnen, unterschiedlichen oder gegensätzlichen Teilen, die durch ein Interagieren schließlich das gemeinsame Leben des Ganzen sichern. Schon die Denker der Antike waren sich der Möglichkeit des Scheiterns eines Gemeinwesens sehr bewusst. Die zentrale Ursache identifizierten sie in der Verfolgung privater Interessen oder des Eigennutzes durch die Herrschenden oder Privilegierten eines Systems. Das gelingende Gemeinwesen zeigt sich in dem Bestreben, das Allgemeinwohl durchzusetzen. Anders ausgedrückt, immer wenn private Interessen, oft schön verschleiert als angebliches Interesse aller, zur Handlungsmaxime einer Regierung werden, ist das Gemeinwesen in seinem Kern gefährdet. So mutiert dann eine Demokratie zur Ochlokratie, einer Herrschaft des Pöbels, wie Platon Menschen, ausschließlich fixiert auf ihr privates Interesse, zu bezeichnen pflegte.
Was trägt also zu einem gelingenden Gemeinwesen bei? Es ist die Suche nach dem guten Leben. Dieses wird verwirklicht, wenn es sich entfesseln kann, wenn es lebendig wird. Das bedeutet, dass jedes Lebewesen ganz bei sich selbst, seinem Wesen, ankommt, und dieses auch lebt. Je mehr eine Gesellschaft dies ermöglicht, umso entschiedener befindet sie sich auf der Spur des Guten. Je mehr dies geschieht, sowohl im Mikrokosmos Mensch als auch im Makrokosmos Gesellschaft, gelingt Leben, erschließt sich der Sinn des Lebens.
Von dieser Grundlage aus nähert sich Platon der Frage nach der Gerechtigkeit in einem Gemeinwesen. Die Entfesselung des Lebendigen führt zu einer gerechten Gesellschaft, wenn jedes Teil seinem Wesen gemäß sich entfalten kann. Das Lebendige wird als die Kraft erkannt, die alles eint. Die Energie des Lebendigen ist der Eros. Er ist die Kraft, die alles Leben umfängt, miteinander verbindet und integriert. Sie ist zugleich die Kraft, die den Frieden in der Welt durchsetzt. Sie ist die Kraft, die der existentiellen Gefährdung des Menschen durch das überall lauernde Joch der Normalität, die das Gegeneinander und die Spaltung zunächst im Inneren des Menschen hervorbringt, entgegenwirkt. Der Weg, auf dem alles Leben sich entfesselt und Widersprüche als Quelle aller Bewegung und Lebendigkeit verstanden und integriert werden, führt zur Harmonie, zum Einklang mit sich selbst und der Welt. Hier liegt nach Platon der Durchbruch hin zum gelingenden Leben und zum Sinn des Lebens.
Wir spüren, wie sehr Platon auch dem gewaltfreien Denken Räume eröffnet. Die Konsequenz einer lebendigen Gesellschaft ist, dass die Menschlichkeit, die Empathie, die Rücksichtnahme, der Respekt vor der Verschiedenheit der Menschen sich entfalten können.
Es erübrigt sich beinahe, festzustellen, dass unsere Gesellschaft vom Ideal eines solchen Einklangs weit entfernt ist. Wir sind ja schon erleichtert, wenn die Eskalation der Gewalt eingedämmt werden kann. Warum ist das so? Bezogen auf Platon müssen wir feststellen, dass in unserer Gesellschaft die Verfolgung privater Interessen Vorrang hat vor der Durchsetzung des Allgemeinwohls. Dies ist die logische Folge, wenn eine Gesellschaft dem Kapitalismus ausgeliefert wird. Margaret Thatcher bemerkte einmal: »Es gibt so etwas wie eine Gesellschaft nicht.« Denn Kapitalisten verfolgen vor allem Einzelinteressen, oft unfassbar rücksichtslos gegen die Mehrheit. Hinzukommt, dass die einmal getroffene Entscheidung, das Privateigentum zu Lasten des gemeinsamen Eigentums zu priorisieren, letztlich immer auch den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft unterminiert. Wer die Mehrung des Eigentums zum Daseinszweck erklärt, schafft eine Lebensform, die nicht lebendig macht. Sie erzeugt Kälte und Empathielosigkeit, tagtäglich spürbar. Deutschland zählt knapp hinter den USA zu den Ländern, in der die Vermögen besonders ungleich verteilt sind. Unser Land steht vor der zentralen Herausforderung der Transformation unserer Gesellschaft hin zu einer klimafreundlichen Produktionsweise, was eine ungeheure, auch finanzielle Kraftanstrengung darstellt. Es geht um unsere Zukunft, um eine lebenswerte Welt für die nachkommenden Generationen. Es ist erschütternd, dass letztlich alles abgeblockt wird, um die Profiteure dieses Wirtschaftssystems zu einem solidarischen, finanziellen Beitrag zu verpflichten.
Platon sieht eine Demokratie gefährdet, wenn private Interessen das Allgemeinwohl überlagern. Das heißt, das Wesen einer Demokratie ist fundamental verknüpft mit einem Bewusstsein, das sich verantwortlich fühlt für das Ganze, das heißt die Sicherung der Lebens- und Entfaltungsrechte aller.
Daraus lässt sich folgern, dass die DNA des Kapitalismus sich gegen die Demokratie richtet. Ein Beispiel: Der Wohnungsmarkt wurde 1989 per Gesetz von den »Fesseln« der Gemeinnützigkeit befreit, mit der Konsequenz, dass die Profitmaximierung sich ungehemmt »ausleben« konnte und kann. Dies betraf etwa 4 Millionen Wohnungen. Viele Wohnanlagen, vor allem in den Metropolen, in denen Menschen über 40 Jahre lang zu erschwinglichen Mieten lebten, wurden in großen Stil von Finanzinvestoren und Wohnungskonzernen aufgekauft, luxussaniert oder als Eigentumswohnungen an zahlungskräftige Kunden verkauft. Dies bedeutete faktisch eine Vertreibung der bisherigen BewohnerInnen.
»Die Würde des Menschen ist unantastbar« (Art.1, GG). Es ist nicht überzogen, in diesen legalen Verhaltensweisen des Kapitals einen Angriff auf die Würde der Menschen zu erkennen, aus welcher sich eigentlich ein Grundrecht auf sicheres Wohnen mit erschwinglichen Mieten ergibt. Es gibt keine ernsthaften Bestrebungen der etablierten Parteien – mit Ausnahme vielleicht der Linkspartei –, die Menschen zu schützen vor dem entfesselten Kapital.
Der Kapitalismus ist so angelegt, dass er das Leben von Menschen beschädigt, entwertet und Menschen demütigt. Dies ist systembedingt. Es sollte nicht verwundern, dass daraus Wut und Empörung erwächst. Wir erleben derzeit, dass viele ArbeitnehmerInnen in Europa aus dieser Ohnmachtserfahrung heraus, auch um ein Zeichen des Protests zu setzen, bei rechtsextremistischen Parteien Zuflucht suchen. Dies ist absurd, denn Parteien wie die AfD interessieren sich nicht für die Stärkung von Arbeitnehmerrechten. Zum anderen zeigt es an, dass es keine gefestigte linke Identität mehr gibt. Wir sehen, dass der reformistische Weg der SPD ab August 1914, also die Akzeptanz der kapitalistischen Spielregeln, immer klarer eine Form von innerer und äußerer Auflösung einst gefestigter Haltungen zur Folge hat. Diese Entwicklung verschärfte sich erheblich, als in den 80er Jahren die neoliberale Ideologie ihren Siegeszug in den Staaten des Westens antrat. Sie ist der Versuch, den Menschen von Grund auf umzuformen in eine (Markt)-Konformität. Sie ist ihren Wesen nach autoritär, und wirkt subtil wie eine allmähliche Zersetzung der demokratischen Substanz in unserer Gesellschaft. Könnte eine Rückbesinnung auf die geistigen Ressourcen der alten Arbeiterbewegung zur Quelle neuer linker Selbstbehauptung gegen diesen Frontalangriff werden?
Die berechtigte Wut aufgreifen und kanalisieren, dass sie zu einer Veränderung der Verhältnisse im Sinne des Aufbaus einer menschlicheren Welt genutzt wird, dies ist die Aufgabe linker Bewusstseinsbildung. Sie ist existentiell, um die Gesellschaft zu schützen vor dem Absturz in den faschistischen Zivilisationsbruch. Dies leistet der reformistische Weg nicht.
Zurück zu Platon: Die gerechte Gesellschaft ist zugleich die zur Lebendigkeit fähige Gesellschaft. Wir sehen, dass die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft diese Wertsetzung nicht teilt. Radikale Gesellschaftskritik braucht den Widerstand gegen die Lebensform des Warenfetischismus. Es ist ein Denken, das im Gesamtzusammenhang, im Ganzen der Wirklichkeit ankommt, was zugleich die Demokratie festigt. Denn diese – so Platon – ist in großer Gefahr, wenn private Interessen alles dominieren. Sie ist also in Gefahr, solange wir dem Kapitalismus nicht Einhalt gebieten.