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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Geheimnis und Fantasie

Im letz­ten Jahr habe ich nach vie­len Jah­ren Pau­se anläss­lich des Besu­ches mei­ner Nich­te und ihrer bei­den klei­nen Töch­ter das Niko­laus­ko­stüm aus dem Schrank geholt. Wäh­rend mei­ne Frau und einer mei­ner Söh­ne unse­re Gäste im Wohn­zim­mer begrüß­ten, hielt ich mich ver­steckt. In einem pas­sen­den Moment schlich ich mich in den Kel­ler, zog mir das Kostüm an, schau­te in einen Spie­gel und erkann­te mich selbst nicht mehr. Kein Zwei­fel, das war er, der mir da im Spie­gel­bild ent­ge­gen lächel­te, der Niko­laus mit sei­ner Knol­len­na­se. Über die Ter­ras­se ging ich offen auf unser Haus zu, die bei­den Mäd­chen ent­deck­ten mich sofort und kamen auf die Tür zuge­lau­fen. Die Klei­ne­re hat mich zwar sofort erkannt, aber das mach­te nichts. Bevor der Niko­laus die Geschen­ke aus sei­nem Sack hol­te, haben bei­de brav ein Gedicht auf­ge­sagt und natür­lich nicht mit der Rute Bekannt­schaft gemacht. Wo kämen wir da hin? Die bekam sanft einer mei­ner Söh­ne zu spü­ren, weil der sei­nen Vater im ver­flos­se­nen Jahr geär­gert hat­te. Der Niko­laus hat­te irgend­wie davon erfahren.

Nach­her, um die Zwei­fel der Kin­der zu meh­ren, ging der Niko­laus für alle sicht­bar an unse­rem Haus vor­bei zur Nach­bar­stra­ße, dreh­te sich noch ein paar­mal um und wink­te ihnen zum Abschied zu. Was der Niko­laus nicht wuss­te, im Nach­bar­haus pack­ten gera­de zwei Kin­der ihre Stie­fel aus, in die der Niko­laus etwas hin­ein­ge­legt hat­te, und der Grö­ße­re, ein Grund­schul­jun­ge, erklär­te selbst­be­wusst, den Niko­laus gäbe es gar nicht, es sei sei­ne Oma gewe­sen, die die Stie­fel gefüllt und an die Kel­ler­tür gehängt hät­te. Hat­te sie auch und wuss­te des­halb kei­ne Ant­wort. Aber dann schau­te sie zufäl­lig aus dem Fen­ster und rief: »Aber da ist er ja, der Niko­laus. Kommt schnell, dann könnt ihr ihn noch sehen. Es gibt ihn doch!« Die Kin­der stürm­ten zum Fen­ster und tat­säch­lich, da stand ein klei­ner dicker Niko­laus mit Knol­len­na­se vor ihnen auf der Stra­ße. Und noch bes­ser, er wink­te ihnen sogar zu, jeden­falls glaub­ten sie das. Selbst der Skep­ti­ker, der Grund­schul­jun­ge, staun­te mit offe­nem Mund und wink­te, zur Freu­de sei­ner Oma, zag­haft zurück.

Kind­heit braucht Geheim­nis­se, an denen sich Fan­ta­sie ent­zün­det. Gera­de der uralte Mythos lie­fert sie und gibt Anstoß, die Welt anders zu sehen, als sie gera­de erscheint. Kin­der neh­men das mit ins Leben, haben Freu­de an wei­te­ren Geheim­nis­sen und emp­fin­den es als Anstoß, die Welt mit Fan­ta­sie immer neu zu sehen. Und neben­bei schult es ihre Sozi­al­kom­pe­tenz. Dar­in geübt kön­nen sie sich bes­ser in die Lage ihres Näch­sten ver­set­zen, kön­nen sei­ne Pro­ble­me, Äng­ste und Freu­den nach­emp­fin­den und rück­sichts­voll auf ihn ein­ge­hen. Unser Niko­laus war jeden­falls zufrie­den mit sei­nem Auf­tritt. Er hat­te kei­ne Kin­der geäng­stigt, wie das oft als Argu­ment gegen den Mythos ver­wen­det wird, son­dern er hat ihre Vor­stel­lun­gen von Leben erwei­tert und Zwei­fel an der rein ratio­na­len Zweck­mä­ßig­keit gestreut. Unser Niko­laus soll, als er heim­lich in den Kel­ler zurück­kehr­te, laut gelacht haben. Aber ob stimmt, muss man ihn am besten sel­ber fragen.