Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Gesprächsprotokolle aus der Kampfzone

Rena­te K. aus B.

Ich lie­be das Gefühl mora­li­scher Über­le­gen­heit, mit dem ich mor­gens in den Spie­gel gucken kann. Dafür kau­fe ich häss­li­che Han­dy-Hül­len aus Filz, häk­le Sei­fen­säck­chen aus Woll­re­sten für mei­ne Freun­de, lege die Sala­mi nicht mehr dop­pelt aufs Brot und gen­de­re natür­lich auch Tier­na­men. Wann immer sie mir über den Weg lau­fen, bespucke ich Quer­den­ker. Mein Mine­ral­was­ser und mei­ne Zahn­sei­de sind selbst­ver­ständ­lich vegan, ich gewöh­ne mich lang­sam an die Men­strua­ti­ons­tas­se und fah­re mit dem Lasten­fahr­rad zum Unver­packt-Laden. Ich bin Pro­to­koll­füh­re­rin im »Ver­ein gegen Sil­ve­ster­knal­ler, Wun­der­ker­zen und Pla­stik­kor­ken«, his­se am »Inter­na­tio­na­le Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Trans­feind­lich­keit« die Regen­bo­gen­fah­ne und kann feh­ler­frei »LSBTTIQQAA« sagen. Neu­er­dings bin ich Mit­glied im »Apo­ka­lyp­ti­schen Chor«. Im Moment üben wir für ein Kon­zert an der Oder.

Mein Leben ist oft freund­los, aber immer korrekt.
Ich ste­he auf der rich­ti­gen Seite.

Gabi G. aus K.

Gestern habe ich mich wie­der am Bio­la­den vor­bei­ge­schli­chen, um bei Aldi ein­zu­kau­fen; ich besit­ze kein Lasten­fahr­rad, son­dern schät­ze mein Auto mit Ver­bren­nungs­mo­tor; ich ken­ne kei­ne Flug­scham und ent­sor­ge die stin­ken­den Win­deln mei­ner Pfle­ge­fäl­le in zahl­lo­sen hilf­rei­chen Pla­stik­tü­ten; auf dem Weg zu einer der letz­ten Rau­cher­knei­pen gehe ich ger­ne auf einen Hap­pen bei McDo­nalds vor­bei; in mei­ner Kind­heit habe ich mich mit Vor­lie­be als India­ners­quaw ver­klei­det und bis heu­te tra­ge ich das Elfen­bein­arm­band von Tan­te Toni. Ich leh­ne das Gen­dern ab, fin­de »Lay­la« lustig und hal­te die auch von der SPD Sach­sen gefor­der­te Aus­stat­tung von Män­ner­toi­let­ten mit Hygie­ne-Eimern für die Bam­bus-Tam­pons von men­stru­ie­ren­den Män­nern für ein eher nach­ran­gi­ges Welt­ret­tungs­pro­jekt. Die SPD soll­te sich lie­ber für die Inbe­trieb­nah­me von Nord Stream 2 ein­set­zen. Übri­gens leh­ne ich die erneu­te Mas­ken­pflicht ab

Kri­sen? Kata­stro­phen? Apo­ka­lyp­se? In sol­che Fil­me gehe ich nicht. Es wird schon gut gehen!
Ich gebe es zu: Ich bin eine mora­li­sche Total­ver­sa­ge­rin. Und kann des­halb nicht mehr in den Spie­gel schau­en. Wes­we­gen ich das Bade­zim­mer nur noch mit Schlaf­mas­ke betre­te. Glück­li­cher­wei­se fin­de ich die Zahn­bür­ste auch blind.
Mein Leben ist vol­ler Spaß, aber sel­ten korrekt.
Ich ste­he auf der rich­ti­gen Seite.

Anna­le­na B. aus P. 

Mei­ne mora­li­sche Über­le­gen­heit habe ich mir ohne grö­ße­ren Auf­wand erwor­ben. Wofür ich mich von Her­zen bei allen Coro­na-Leug­nern und Impf­geg­nern bedan­ken möch­te. Wegen Euch, lie­be Quer­den­ker, konn­te ich mich in den ver­gan­ge­nen zwei Jah­ren so rich­tig gut füh­len, als bes­se­rer Mensch. Nur drei, vier Piek­se in den Ober­arm, die Mas­ke immer griff­be­reit und hier und da eine klei­ne Denun­zia­ti­on mei­ner Nach­barn wegen des Ver­sto­ßes gegen das Abstands­ge­bot – schon gehör­te ich zu den Guten. Und gel­te als soli­da­ri­scher ver­ant­wor­tungs­vol­ler Mitbürger.

Arme berau­ben, Alte weg­sper­ren, Waf­fen­lie­fe­run­gen im gro­ßen Stil?
Kein Pro­blem. Ich darf das. Ich bin ja geimpft.
Grund­rech­te ein­schrän­ken, Über­wa­chung aus­bau­en, öffent­lich-recht­li­che Shits­torms organisieren?
Kein Pro­blem. Ich darf das. Ich bin ja kein Querdenker.
Und ich weiß, wie es geht!

Übri­gens bie­tet mir die kri­sen­haf­te Gegen­wart ein neu­es Sprung­brett für mei­ne mora­li­sche Über­le­gen­heit: Den Krieg in der Ukrai­ne. Ich habe sofort alle rus­si­schen Autoren aus mei­nem Bücher­re­gal gezerrt, sie zu den Klän­gen von »The Star-Span­gled Ban­ner« auf dem Hof ver­brannt und mich anschlie­ßend bei Twit­ter als Fol­lower von Selen­skyj zum Kriegs­ein­satz gemel­det. Für die Ver­tei­di­gung unse­rer west­li­chen Wer­te. Aber damit kennt Ihr Euch ja nicht aus, Ihr Putin-Ver­ste­her! Ihr Lum­pen­pa­zi­fi­sten! Doch ich – ich weiß, wie es geht.

Mein Leben ist ein Leben in der Schafherde.
Ich ste­he immer auf der rich­ti­gen Seite.
Und habe über­all in der Woh­nung Spie­gel aufgehängt.