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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Großes Kopfkino

Den Vater Paul Maar (82) lie­ben alle Kin­der, seit­dem er 1973 mit »Eine Woche vol­ler Sams­ta­ge« das respekt­lo­se Sams mit sei­nen roten Haa­ren, der Rüs­sel­na­se und den blau­en Punk­ten im Gesicht auf die Fami­lie Taschen­bier los­ließ. Ein Dut­zend wei­te­re ver­gnüg­li­che Aben­teu­er folg­ten. Dass Taschen­biers in der E.T.A.-Hoffmann-Straße woh­nen, ist nur eine von vie­len lite­ra­ri­schen Anspie­lun­gen, die sich Paul M. erlaub­te. Sie alle aus­zu­lo­ten, wäre eine Auf­ga­be für sei­nen Sohn Michael.

Micha­el Maar (60) ist Ger­ma­nist und wie der Vater Schrift­stel­ler. Dar­über hin­aus und vor allem aber hat er sich als Lite­ra­tur­kri­ti­ker einen Namen gemacht, glei­cher­ma­ßen geschätzt und geehrt als Lite­ra­ten­flü­ste­rer wie als Literatensezierer.

Wen hat er nicht alles mit der Zeit unter die Lupe genom­men oder durch die Man­gel gedreht. Mar­cel Proust zum Bei­spiel in »Proust Pha­rao«. Vla­di­mir Nabo­kov und des­sen »schö­ne böse Welt« – eine Welt, »die so abgrün­dig ist, als wür­de sie nicht von Gott, son­dern von einem bösen Demi­ur­gen gelenkt« – in »Solus Rex«, der ersten deutsch­spra­chi­gen Mono­gra­fie über den Schriftsteller.

Vor allem aber ist Tho­mas Mann zu nen­nen. Als die­ser 1928 von einer Frau­en­zeit­schrift nach dem stärk­sten lite­ra­ri­schen Ein­druck sei­nes Lebens befragt wur­de, ant­wor­te­te er: die Mär­chen von H. C. Ander­sen. Maar spür­te in »Gei­ster und Kunst« die­ser Andeu­tung nach und ent­deck­te das »offe­ne Geheim­nis« des in Lübeck gebo­re­nen Dich­ters, »eines der dau­er­haf­te­sten Tabus der neue­ren Lite­r­ar­tur­ge­schich­te: die Dar­stel­lung der Lie­be zwi­schen Män­nern«, wie es Han­jo Kest­ing in sei­nem Micha­el Maar gewid­me­ten Essay »Zau­be­rer und Mär­chen­dich­ter« for­mu­liert hat.

Die Mär­chen lie­ßen Micha­el Maar nicht los. In »Hexen­ge­wis­per« beschäf­tig­te er sich mit der Fra­ge, war­um sie »unsterb­lich« sind. Dorn­rös­chen, Rot­käpp­chen, Hän­sel und Gre­tel, Ander­sens See­jung­frau erschei­nen plötz­lich in einem ganz ande­ren Licht und mit ande­rem Sinn. Für Kin­der Ein­tritt verboten.

Mär­chen­haft klingt auch der Titel des neue­sten Buches des Lite­ra­tur­for­schers: »Die Schlan­ge im Wolfs­pelz«. Auch hier geht es um etwas Ver­bor­ge­nes, um das »Geheim­nis gro­ßer Lite­ra­tur«. Zitie­ren wir aus dem Klappentext:

»Was ist das Geheim­nis des guten Stils, wie wird aus Spra­che Lite­ra­tur? Was ist Manier, was ist Jar­gon, und in wel­che Feh­ler­fal­len tap­pen fast alle? Wie müs­sen die Ele­men­tar­teil­chen zusam­men­spie­len für den per­fek­ten Pro­sa­satz? Wer kann Dia­log, wer nicht? War­um wird Höl­der­lin über- und Rahel Varn­ha­gen unter­schätzt? War­um brä­che ohne die öster­rei­chi­schen Juden ein Kon­ti­nent des Stils weg? War­um ist Kaf­ka ein Ali­en, und war­um reicht nur Hei­mi­to von Dode­rer an Tho­mas Mann heran?«

Und wei­ter: Wie macht es der Autor, die Autorin, wel­che sti­li­sti­schen Instru­men­te wer­den ein­ge­setzt? Wie gehen sie mit Meta­phern um, wie mit Adjek­ti­ven? (Im Meta­pho­rik-Kapi­tel ent­hüllt sich auch der Titel des Buches. Die »Schlan­ge im Wolfs­pelz« ist eine ver­dreh­te Redens­art, ver­gleich­bar der »Mas­ke des Bie­der­mei­ers« oder »mit der Kir­che ins Dorf fallen«.)

Fast 170 Sei­ten spürt Maar die­sen Fra­gen nach, bevor er die Türen zu sei­ner Biblio­thek auf­stößt und ankün­digt: »Die­se Pri­vat­bi­blio­thek hat gro­ße Lücken und ist von Vor­lie­ben, Des­in­ter­es­sen und Abnei­gun­gen bestimmt.« Fünf­zig Por­träts, von Goe­the bis Gern­hardt, von Kleist bis Kro­nau­er zei­gen: Die­ses Buch ist Essenz und Quint­essenz in einem, es ist das Haupt- und Lebens­werk eines Hom­me de Lett­res, eines Agent Lit­tèrai­re, der vier­zig Jah­re lang gele­sen und gele­sen hat und auf einen rand­vol­len Zet­tel­ka­sten zugrei­fen kann, bild­lich gesprochen.

Doch schau­en wir uns jene Lücken an, die sofort ins Auge fal­len. Lite­ra­tur­le­xi­ka und Wiki­pe­dia mögen sich noch so bemü­hen, die Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger Gün­ter Grass und Hein­rich Böll als die bedeu­tend­sten und inter­na­tio­nal geach­tet­sten deut­schen Schrift­stel­ler der Nach­kriegs­zeit her­vor­zu­he­ben. Für ihr lite­ra­ri­sches Werk hat Maar nur Des­in­ter­es­se übrig. Oder Spott, wenn er zum Bei­spiel Peter Slo­ter­di­jk den Dich­ter Ger­hart Haupt­mann einen »deut­schen Reprä­sen­tanz­töl­pel vom Dienst« nen­nen und fort­fah­ren lässt, »bevor Gün­ter Grass das Amt über­nahm«. Sieg­fried Lenz ist noch nicht ein­mal im Regi­ster erwähnt.

In Maars Biblio­thek gibt es kei­ne Unter­schei­dung zwi­schen Hoch und Unter­hal­tungs­li­te­ra­tur: »Wer wür­de auf die ein­sa­me Insel Fin­ne­gans Wake mit­neh­men, wenn im Köf­fer­chen auch Platz für Har­ry Pot­ter wäre?« (Maars Ein­schät­zung die­ses Buch­erfolgs ist in »War­um Nabo­kov Har­ry Pot­ter gemocht hät­te« zu finden.)

Und weil die Unter­schei­dung zwi­schen E und U in Maars Biblio­thek nicht statt­fin­det, »sei nie­mand über­rascht, wenn wir uns einer Autorin zuwen­den, die in den übli­chen Lite­ra­tur­be­trach­tun­gen fehlt«: Hil­de­gard Knef. Ver­blüf­fung. Groß­zü­gig lässt Maar die Fra­ge offen, ob sie einen Ghost­wri­ter hat­te – eine Fra­ge, die ich per­sön­lich für wesent­lich erach­te – aber: »Im Zwei­fels­fall für die Ange­klag­te.« (Solch einen Rich­ter hät­te sich wohl Fran­zis­ka Gif­fey gewünscht.)

Die Knef ist auch heu­te noch als Schau­spie­le­rin bekannt, na ja, den Jün­ge­ren viel­leicht nicht mehr. »Unbe­kannt«, das schreibt Maar selbst, ist sie jedoch »als Vir­tuo­sin der Spra­che«. Für ihn ist die Ver­fas­se­rin des Memoi­ren-Ban­des »Der geschenk­te Gaul« eine »Erzäh­le­rin ersten Ranges«.

Dann aber kommt eine Text­stel­le, die vie­le Ossietzky-Lese­rin­nen und -Leser ver­stö­ren dürf­te: »Wie blaß dage­gen die gerühm­te Kunst­pro­sa Chri­sta Wolfs. Sakri­leg! Aber wir ste­hen hier und kön­nen nicht anders: Für Knefs Memoi­ren gäben wir die gan­ze Kas­san­dra.« Sprach’s wie Luther und hak­te die Schrift­stel­le­rin ab. Wie zuvor schon Grass und Böll und Lenz.

Den­noch, trotz die­ser Anmer­kun­gen, »Die Schlan­ge im Wolfs­pelz« ist gro­ßes Kopf­ki­no: Man kann das Buch auf­schla­gen, wo man will, jede Sei­te lädt dazu ein, Zeit und Raum zu ver­ges­sen. Wo auch immer man hin­ein­liest: Wie ein Audio­gui­de in einer Aus­stel­lung dem Besu­cher den Zugang zu einem Gemäl­de eröff­net, so schafft es Maar, die lite­ra­ri­schen Wer­ke auf­zu­schlüs­seln und auf­zu­schlie­ßen: in Stil und Form.

Wie nahe Maar am Ende aber tat­säch­lich dem Geheim­nis gro­ßer Lite­ra­tur gekom­men ist, dem Zau­ber, der nicht nur dem Anfang inne­wohnt, das muss jede Lese­rin, jeder Leser für sich selbst entscheiden.

 

Micha­el Maar: Die Schlan­ge im Wolfs­pelz, Rowohlt Ver­lag 2020, 655 S., 34 .