Jeder ist allein. Keiner ist allein. Je näher ich einem Menschen komme, desto reichhaltiger fühle ich mich. Die Fähigkeit zur Nähe und zur Distanz, das tiefste menschliche Vermögen, entwickelt sich beim Austausch mit der Welt. Je mehr Energie zum Kontakt in mir ist, desto mehr Platz habe ich für andere. Ich werde frei. Ich werde zum Souverän. Ja, ich kann sogar zum Bewusstseinsfürsten werden.
Ideologien sind groß. Menschen sind es nicht. Im freien Europa der zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts sind Attentäter der Gegensatz zum Bewusstseinsfürsten. Jeder Gewalttäter steigert, Tag für Tag, seine beschränkte Wahrnehmung der Welt und wird so immer kontaktgestörter. Durch die extreme Beschränkung gewinnt er Sicherheit. Bevor der Attentäter zum Täter wird ist er ohne emotionalen Boden. Er ist ein selbstunsicherer, eckig, kantiger Frankenstein. Jetzt will er töten. Jetzt gewinnt er endlich den Boden unter den Füßen, den er nie hatte.
Rechte Terroristen wollen Deutschland retten. Islamisten wollen die Welt von den Ungläubigen befreien. Fühlst du dich klein und ohnmächtig, kannst du durch jede Ideologie groß und mächtig werden. Warum? Weil du und die, die genauso denken, immer glauben, Recht zu haben.
Wenn du tötest, hast du Macht. Macht über das Leben anderer. Du setzt dich in ein Auto, trittst auf das Gaspedal und rast los. Eben noch war alles sinnlos. Eben noch fühltest du dich beschränkt, einsam und ohnmächtig. Jetzt hast du Macht. Du tötest. Das Auto wird dir zur Waffe. Oder auch das Messer, die Pistole, das Gewehr.
Alle Attentäter, Terroristen, Amok-läufer haben eine sehr spezielle Familiengeschichte. Karl Ove Knausgard beschreibt in seinem lesenswerten Essay »Der monofone Mensch« den Attentäter von Oslo als einen endlos ohnmächtigen Charakter. Scheidung der Eltern im Kleinkindalter, Vater war nie da, Mutter schlief neben ihrem Sohn, am nächsten Tag war diese Nähe nicht mehr willkommen, das Kind wurde wieder weggestoßen. Ein endloses Her und Hin. In der Jugendzeit hatte er keine Freundin und keinen Freund. Keine Bindung nirgends. Die Sexualität blieb unausgelebt. Beruflich erreichte der Oslo-Attentäter nie das, was er sich erträumte. Alles blieb haltlos, ja sinnlos.
Bis das rassistische Denken kam. »Zu den wichtigsten Dingen, die man in der Kindheit lernt«, schreibt Knausgard, »gehört die Fähigkeit, seine Gefühle zu beherrschen.« Werden die Gefühle ständig zurückgewiesen, verkümmern sie. Was drinnen übrigbleibt, das sind allein gebliebene Gedanken, die ohne Pause, und immer schneller, im Kopf des Betroffenen herumrasen. Alle Gefühle sind ein einziger Matschepampeklumpen, der sich stetig weiter mit Ärger und Wut anfüllt. Das einzig übrig gebliebene Gefühl, das durch diesen ständigen Zufluss größer wird, ist ein abgrundtiefer, im Grunde zielloser Hass, der dann »irgendeine« Richtung sucht – und leider manchmal auch findet.