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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Höhenflüge in Halle

Nur der eine war pro­mi­nent. Sein Tod mit 32 Jah­ren jährt sich jetzt zum 50. Male, und wie es aus­sieht, wird er ein Rät­sel blei­ben. Peter Sin­der­mann, gelern­ter Schau­spie­ler, war bis zuletzt am Lan­des­thea­ter in Hal­le enga­giert, wo er auch wohn­te. Der dun­kel­haa­ri­ge Flo­rett­fech­ter, Rei­ter und Flie­ger könn­te man­chen West­deut­schen, von Por­trät­fo­tos her, an den dor­ti­gen Berufs­kol­le­gen Horst Buch­holz erin­nern. In der Tat wird Sin­der­mann oft als »Frau­en­schwarm« bezeich­net. Er trat auch in zahl­rei­chen Fil­men auf, ange­fan­gen 1959 mit »Bevor der Blitz ein­schlägt«. Im Übri­gen war er von Jugend an Akti­vist der »Gesell­schaft für Sport und Tech­nik« (GST), in Nach­schla­ge­wer­ken meist als »para­mi­li­tä­ri­sche Mas­sen­or­ga­ni­sa­ti­on« aus­ge­ge­ben. Die Nach­ru­fe rüh­men ihn als hei­ter und lebens­be­ja­hend, char­mant und akro­ba­tisch, wit­zig und hilfsbereit.

Sei­ne Stun­de der Wahr­heit kam am 17. Okto­ber 1971, als er in Hal­le-Oppin in Beglei­tung eines erst 18jährigen GST-Genos­sen, Gün­ter Heley, ein Klein­flug­zeug des Typs Zlin (aus der Tsche­cho­slo­wa­kei) bestieg. Wahr­schein­lich war Heley sein Flug­schü­ler, denn dafür besaß Sin­der­mann neu­er­dings die erfor­der­li­che Lizenz. Die Trau­er­an­zei­ge der GST für die bei­den »pflicht­be­wuss­ten Genos­sen« wird wenig spä­ter etwas viel­deu­ti­ger ver­si­chern, sie sei­en »bei der Erfül­lung eines Flug­auf­tra­ges« umge­kom­men. Sie hät­ten sich immer mutig und lei­den­schaft­lich für den Schutz ihrer sozia­li­sti­schen Hei­mat eingesetzt.

Kurz nach dem Start, noch an der Stadt­gren­ze der Groß­stadt Hal­le, wird der Unter­richt durch­kreuzt. Am Steu­er sitzt Sin­der­mann, wie ich einem Gedenk­ar­ti­kel von Stef­fen Kön­au in der MZ vom 14. Okto­ber 2006 ent­neh­me. Plötz­lich sehen Ang­le­rIn­nen – die es womög­lich genau­so hät­te tref­fen kön­nen wie etwa die Benut­ze­rIn­nen der nahen Auto­bahn – das Sport­flug­zeug mit den bei­den GST-Kämp­fern an Bord ins Tau­meln kom­men. Gleich dar­auf ver­neh­men sie einen dump­fen Schlag. Sie ver­ges­sen ihre Beu­te und ren­nen hin. Die Maschi­ne ist aus rund 300 Meter Höhe auf eine Wie­se gestürzt. Flug­zeug zer­schellt; Insas­sen spä­te­stens auf dem Weg ins Kran­ken­haus tot.

Natür­lich spricht sich die »unglaub­li­che Nach­richt«, so der Nach­ruf in der Libe­ral-Demo­kra­ti­schen Zei­tung vom 21. Okto­ber, in Win­des­ei­le her­um – zumal der Pilot ein Sohn des lang­jäh­ri­gen all­ge­wal­ti­gen SED-Chefs des Bezirks Hal­le, Horst Sin­der­mann, war. Der Vater war gera­de erst noch höher auf­ge­stie­gen, näm­lich nach Ost­ber­lin, in den Vor­stand des DDR-Mini­ster­ra­tes. Rudel von Ermitt­lern der Poli­zei und der Sta­si rücken auf der Unfall­wie­se an. Aber sie sind rat­los oder geben sich jeden­falls so. Sie fin­den nicht einen Anhalts­punkt für Feind­ein­wir­kung, etwa Sabo­ta­ge oder Spio­na­ge. Selbst die bekann­ten schnö­de­ren Unfall­ur­sa­chen schlie­ßen sie Stück für Stück aus. Sin­der­mann galt als erfah­re­ner Flie­ger. Das Wet­ter war gut. Bei­de Pilo­ten stan­den nicht unter dem Ein­fluss von Dro­gen, Krank­hei­ten, Lebens­mü­dig­keit. Das Flug­zeug selbst wies eben­falls kei­ne tech­ni­schen Män­gel auf, wird jeden­falls behaup­tet. So wer­den die Ermitt­lun­gen nach zwei Mona­ten ein­ge­stellt. Der Abschluss­be­richt spricht, nach Kön­au, ver­wa­schen davon, die Maschi­ne sei über dem Kanal­ge­biet »in eine unkla­re Flug­la­ge gera­ten«. Beim Kur­ven­flug mit ver­rin­ger­ter Geschwin­dig­keit hät­ten die Pilo­ten jähes Tru­deln nicht mehr ver­hin­dern kön­nen. Das sind Berich­te, gut für zahl­rei­che Gerüchte.

Selt­sa­mer­wei­se, wie ich fin­de, über­ge­hen fast alle mir zugäng­li­chen Quel­len Sin­der­manns per­sön­li­che Ver­hält­nis­se. Nur Wiki­pe­dia erwähnt eine Ehe­frau und einen Sohn des sport­li­chen Schau­spie­lers, Micaë­la und Andre­as. Der Ein­trag erweckt den Ein­druck, die­se Ehe habe beim Unfall nach wie vor bestan­den. Das ist aller­dings nicht der Fall, wie mir freund­li­cher­wei­se ein Ver­wand­ter des Flie­gers mit­teil­te. Danach war Sin­der­mann in zwei­ter Ehe mit der Berufs­kol­le­gin Jut­ta Peters ver­hei­ra­tet. In der fami­liä­ren Trau­er­an­zei­ge wird sie als Jut­ta Sin­der­mann-Peters ange­führt. Mein Gewährs­mann ver­si­chert auch, die Ehe sei glück­lich gewe­sen – somit jeden­falls kein Selbst­mord­grund. Eine sol­che Annah­me wäre natür­lich schon wegen des Mit­ster­bers reich­lich wag­hal­sig. Im Übri­gen erweist sich der Gewährs­mann als loy­al, wenn er dem Abschluss­be­richt sein vol­les Ver­trau­en schenkt und außer­dem ent­schie­den ver­neint, Funk­tio­närs­sohn Peter Sin­der­mann sei in sei­ner gan­zen Lauf­bahn jemals unlau­ter begün­stigt wor­den. Sicher­lich hat­te jeder VEB-Kan­ti­nen­koch zu Hau­se (oder bei der GST) sein Pferd und sein Sport­flug­zeug im Stall, gera­de so wie in Wil­ly Brandts Westdeutschland.

In die­ser Hin­sicht wäre es unter Umstän­den auf­schluss­reich, die Ver­hält­nis­se des Mit­ster­bers zu beleuch­ten. Aber für die Such-Robo­ter die­ses Pla­ne­ten ist ein »Gün­ter Heley« noch weit­aus unbe­rühm­ter als ein Tab­wa-Häupt­ling aus Sam­bia. Auch der Gewährs­mann ver­si­chert, die Fami­lie Sin­der­mann hät­te den jun­gen Mann nicht gekannt. Ob sie die­sem Man­gel viel­leicht im Nach­hin­ein abzu­hel­fen ver­such­te, habe ich lie­ber nicht gefragt. In der zeit­ge­nös­si­schen Pres­se taucht Heleys Name zwar durch­aus auf, selbst im Neu­en Deutsch­land – doch das war es denn auch. Man erfährt noch nicht ein­mal, was Kön­au Jahr­zehn­te spä­ter aus­gräbt: der 18jährige sei Elek­tro­lehr­ling gewe­sen und habe den ver­häng­nis­vol­len Unter­richt genom­men, weil er Flug­in­ge­nieur wer­den woll­te. Das scheint alles zu sein. Damit bleibt Heley bei­na­he so ein Rät­sel wie das Unglück überhaupt.

Der Autor arbei­tet an einem umfang­rei­chen Buch­ma­nu­skript mit dem Titel »Lexi­kon der Früh­ver­stor­be­nen«. Inter­es­se darf bekun­det werden.