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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Klassenbezüge

Eben ver­su­che ich den, wie ich fin­de, sen­ti­men­ta­len, um nicht zu schrei­ben: hart am Kitsch vor­bei­rau­schen­den Schluss von Chri­sti­an Barons Roman zu ver­dau­en. Mei­ne Hoff­nung für ihn ist: ein lan­ges Leben mit ent­spre­chen­der Erfah­rung, so dass sein letz­tes Wort nicht »Papa« sein wird.

Ich fra­ge mich, ob der Titel nicht eine Art Par­odie auf einen ande­ren Buch­ti­tel ist: »Füh­rer sei­ner Klas­se«. Kei­nes­wegs möch­te ich hier anre­gen, sich mit die­sem zu beschäf­ti­gen, es wird noch dau­ern, bis wir zu einer ver­nünf­ti­gen Ein­schät­zung des­sen »Lei­stun­gen« (!) kommen.

Eine ande­re Bio­gra­fie fällt mir ein, die über Hein­rich Brand­ler. Eher im besten wie im tra­gi­schen Sinn ein Mann sei­ner Klas­se für-sich.

Wo und wann spielt Barons Roman? Eine fast gegen­wär­ti­ge Jugend (70er Jah­re ff.) in der Arbei­ter­klas­se, sozio­lo­gisch gespro­chen in der Unter­schicht, der Vater ist Möbel­packer, gewalt­tä­tig und Alkoholiker.

Poli­ti­sches Klas­sen­be­wusst­sein ist hier nur mehr als Ver­falls­sym­ptom erkenn­bar, im besten Sin­ne im Ver­trau­en auf Oskar Lafon­taine. Aber das ist zu wenig.

Der­ar­ti­ge Milieu­schil­de­run­gen haben in letz­ter Zeit Kon­junk­tur, man den­ke an Didier Eri­bon oder Édouard Lou­is, und sie zei­gen zurecht die im Dun­keln. Nur zei­gen sie die­se ohne das (mög­li­che) Licht, das aus der Zukunft zu uns strahlt, und ein klein wenig aus der Ver­gan­gen­heit. Anders geschrie­ben zei­gen sie, was aus der Arbei­ter­klas­se oder Tei­len der­sel­ben Mitte/​Ende des letz­ten Jahr­hun­derts wur­de. Ohne eine sozialistische/​kommunistische (Selbst-)Organisation und Per­spek­ti­ve ver­kommt das Leben, und was Baron schreibt, kommt einem manch­mal noch hoff­nungs­lo­ser vor als bei Gor­ki. Die ein­zi­ge Per­spek­ti­ve scheint – aus­nahms­wei­se – der sozia­le Auf­stieg, gegen alle Wider­stän­de, die nicht nur von Oben kommen.

Dabei bleibt die Per­spek­ti­ve imma­nent, Ankla­ge gegen die herr­schen­de Ideo­lo­gie, die man­che ern­ster neh­men, als sie gemeint ist.

Auch wenn ich Sym­pa­thien habe für Wagen­knechts und ande­re Vor­stel­lun­gen (z. B. Här­ing) einer sozia­len Markt­wirt­schaft, glau­be ich, die­ser Zug ist abge­fah­ren, wir wer­den weder zurück noch vor­wärts zu einer gerech­ten oder gerech­te­ren Markt­wirt­schaft kom­men. Was selbst­ver­ständ­lich nicht hei­ßen darf, dass es hier nichts zu ler­nen gebe. Und: es kann nicht scha­den die bür­ger­li­che Ideo­lo­gie ab und zu mit ihrer Wirk­lich­keit zu konfrontieren.

Wie ent­steht Klas­sen­be­wusst­sein, wel­che Rol­le kön­nen Intel­lek­tu­el­le hier und heu­te spie­len? Die rück­sichts­lo­se Kri­tik am Bestehen­den, den Kon­flikt mit den vor­han­de­nen Mäch­ten nicht scheu­en, ohne die Dia­lek­tik von Stra­te­gie und Tak­tik zu ver­ges­sen. Aber das ist mehr als ich im Moment sehen kann. Anbie­de­rung und Oppor­tu­nis­mus fast über­all, eher pro­te­stie­ren nach­denk­li­che Men­schen ohne Klassenbezug.*

Chri­sti­an Baron: Ein Mann sei­ner Klas­se, Ber­lin 2021, 288 S., 12 €.

Becker, Jens: Hein­rich Brand­ler. Eine poli­ti­sche Bio­gra­phie, Ham­burg 2001, 440 S., 38 €.

*Pas­send in die­se Zeit: »Recht früh erkann­te Brand­ler (…), dass man das klein­bür­ger­li­che Pro­test­po­ten­zi­al nur durch eine strin­gen­te, vor­wärts­ge­rich­te­te Stra­te­gie an sich bin­den kön­ne. Anson­sten droh­te es zu einer Gefahr für die Arbei­ter­be­we­gung zu wer­den, weil es zur reak­tio­nä­ren oder faschi­sti­schen Kon­ter­re­vo­lu­ti­on über­lau­fen könne.«