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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Meyrink schreibt keinen Roman

Es klopft. So beginnt und endet ein Buch, das sich »Der unsicht­ba­re Roman« nennt, geschrie­ben hat es Chri­stoph Poschen­rie­der. Wer da klopft, ist kein Klopf­geist, obwohl der, um den es geht, sich her­vor­ra­gend in dem Milieu aus­kennt. Ein rea­ler Mensch klopft an eine rea­le Tür am Haus des Schrift­stel­lers Gustav Mey­rink, der gera­de eine spi­ri­ti­sti­sche Sit­zung abhält. Die Apo­the­kers­wit­we glaubt, der da klopft, sei ihr ver­stor­be­ner Mann. Der Pfand­schein für den Schmuck, wo hat er ihn ver­steckt? Nur Ja-Nein-Fra­gen sind erlaubt. Es hört nicht auf zu klop­fen. Mey­rink muss die Sean­ce kurz unter­bre­chen. Wer da vor sei­ner Tür steht, ist ein Abge­sand­ter des Aus­wär­ti­gen Amtes in Ber­lin mit einem per­sön­li­chen Brief: »Sie sol­len einen Roman schrei­ben.« Er müs­se sich schnell ent­schei­den, denn es eilt.

War­um? 1918, der Erste Welt­krieg, noch längst nicht been­det, man braucht einen Schul­di­gen. Mey­rink ist irri­tiert, denkt an sein Image – aber es kommt auf die Hono­rie­rung an. Wer soll schuld sein? Die Frei­mau­rer. Es hät­ten auch die Juden sein kön­nen. »Nicht alle Juden sind Frei­mau­rer, aber vie­le Frei­mau­rer sind Juden«, sagt Herr Hahn vom Aus­wär­ti­gen Amt. Frei­mau­rer, »ein ande­rer Aus­druck für einen Juden von Ein­fluss«. Mey­rink hat weder gegen die einen noch gegen die ande­ren etwas. Für einen Okkul­ti­sten sind Frei­mau­rer zu lang­wei­lig. Hahn denkt an einen Roman, Mey­rink soll mit dem spie­len, was die Men­schen glau­ben wol­len. Er wis­se immer noch nicht, sagt er, was das Amt damit bezweckt. Er sieht sich als Sati­ri­ker, schreibt im Sim­pli­cis­si­mus. Aber das Geld kann er brau­chen. Sein Haus am Starn­ber­ger See will unter­hal­ten wer­den, sein Auto­mo­bil, sei­ne Boo­te – alles das, was ihm vor allem sein Best­sel­ler »Der Golem« 1915 ein­ge­bracht hat. Der Erfolg hielt nicht an.

Poschen­rie­der schreibt einen Roman über einen Autor, der einen Roman schrei­ben will, nein soll, einen Roman, der die Kli­schees im Kopf kennt – die frei­mau­re­ri­sche Welt­re­gie­rung. Aber wie schreibt man das? Poschen­rie­der streut immer wie­der Doku­men­te ein, vom Bun­des­ar­chiv in Ber­lin-Lich­ter­fel­de bis zur Hand­schrif­ten­ab­tei­lung der Baye­ri­schen Staats­bi­blio­thek in München.

Tat­sa­che ist, Poschen­rie­der hat das nicht erfun­den, den Auf­trag gab es. Mey­rink erhielt nicht nur Geld, auch Mate­ri­al zum The­ma vom Amt in Ber­lin. Nur, hat er über­haupt in die Schrif­ten geschaut? Poschen­rie­der sug­ge­riert: nein. Mey­rink schob sein Schrei­ben auf, bis ein Brief vom Aus­wär­ti­gen Amt ihn drin­gend mahnt, man wol­le doch wenig­stens noch vor Beginn der Frie­dens­ver­hand­lun­gen Mit­te Janu­ar her­aus­kom­men – alles, auch das Papier sei reserviert.

Eines ist Mey­rink klar, wenn er über­haupt etwas schreibt, dann mit der Maschi­ne, nicht wie sonst mit der Hand. Das wäre zu per­sön­lich. Wie anfan­gen? Auch die zwei Stun­den Yoga am Mor­gen hel­fen ihm nicht. Man müss­te den Golem neu erfin­den. Er beginnt: »Es klopft«, und schon stockt er. Wie wei­ter? Mey­rink fährt immer mal nach Mün­chen, trifft im Café Freun­de, dar­un­ter Erich Müh­sam, der ihn mit poli­ti­schen Neu­ig­kei­ten ver­sorgt und von der Revo­lu­ti­on schwärmt. Müh­sam ist in den Roman­plan ein­ge­weiht – nicht ganz. Wer am Krieg schuld sei? Na, »die Juden, wie immer und an allem ande­ren auch«. Das bringt ihn nicht wei­ter, das hat­te er schon – im Golem. Ach was, Frei­mau­rer. Mey­rink schreibt, was er kennt, über sich. Und die Maschi­ne klap­pert, das Farb­band lässt nach – aber es flutscht gera­de so gut. Er schreibt wei­ter, auch wenn nichts mehr zu erken­nen ist. Frau Mena fragt, war­um er so viel arbei­te, wenn doch nur lee­re – aber num­me­rier­te – Sei­ten dabei her­aus­kom­men? Die Lösung des Problems.

Poschen­rie­ders Buch spielt mit Fak­ten und Fik­tio­nen, mit Sati­re und bit­te­rem Ernst, gespie­gelt durch den kri­ti­schen Blick Gustav Mey­ers, der sich spä­ter Mey­rink nennt. Poschen­rie­der gelingt es, den Autor Mey­rink selbst­über­heb­lich, lako­nisch, manch­mal albern, in all sei­nen Wider­sprü­chen dar­zu­stel­len, wobei er lust­voll in des­sen Maß­an­zü­ge schlüpft. Wider­sprü­che, die gab es auch beim Aus­wär­ti­gen Amt in Ber­lin. Ein Brief vom Lega­ti­ons­rat von Hahn an Mey­rink – ohne Datum, aber in den Akten des Bun­des­ar­chivs ver­merkt. Von Hahn schick­te ihm gleich­zei­tig Mate­ri­al der Groß­lo­ge für Deutsch­land. Sein Kom­men­tar: »In wel­chen ver­schwom­me­nen Uto­pien bar jeder Men­schen- und Welt­kennt­nis und jeden poli­ti­schen Instinkts die deut­sche Frei­mau­re­rei sich bewegt«, die deut­sche, wohl­ge­merkt, »wäh­rend die roma­ni­sche und angli­ka­ni­sche mit nüch­ter­ner Berech­nung poli­ti­sche Arbeit ver­rich­tet«. Ant­wort von Mey­rink (laut Bun­des­ar­chiv): »Das Frei­mau­rer­preis­buch reizt einen bei­na­he, es abzu­schrei­ben und als Gro­tes­ke neu her­aus­zu­ge­ben.« Etwas spä­ter, als von Hahn Mey­rink am Starn­ber­ger See besucht, heißt es plötz­lich, er sol­le jetzt nur noch die Frei­mau­rer der »Feind­staa­ten« ins Visier neh­men. Ein guter Grund für Mey­rink, alles hin­zu­wer­fen, zu sagen: Alles umsonst. Dabei hat er noch nichts vor­zu­wei­sen. Order: »Sie koope­rie­ren von nun an mit den Frei­mau­rern im Reich.« Eine Abord­nung wich­ti­ger Per­sön­lich­kei­ten soll er emp­fan­gen. Meh­re­re Recher­che­n­o­ti­zen aus den Akten des Aus­wär­ti­gen Amts bestä­ti­gen das. Der Lega­ti­ons­rat weist Mey­rink auf die Ver­än­de­run­gen im Reich hin. Ver­hand­lun­gen über einen Waf­fen­still­stand lau­fen. Er erwähnt die auf­säs­si­gen Matro­sen in Kiel. »Und Sie haben hier ja auch so einen Auf­rüh­rer.« Mey­rink denkt, dass nur Eis­ner gemeint sein kann, zu einer sei­ner Reden hat­te ihn Müh­sam mit­ge­schleppt. Müh­sam und Eis­ner – eine Art Kon­kur­renz­ver­hält­nis. Mey­rink stand der Revo­lu­ti­on skep­tisch gegen­über, der Bay­er sei zu trä­ge dafür. Müh­sam sagt, er habe die Revo­lu­ti­on schon vor Eis­ner aus­ge­ru­fen, nicht nur ein­mal. Zu Mey­rink gewandt, ver­zwei­felt: »Eis­ner hat mir die Revo­lu­ti­on gestoh­len.« Dann treibt Müh­sam ihn zur Eile, das Buch fürs Aus­wär­ti­ge Amt betref­fend: »Eis­ner macht Ernst mit der Kriegs­schuld­sa­che. Er will gehei­me Reichs­do­ku­men­te ver­öf­fent­li­chen, die angeb­lich bewei­sen, dass Deutsch­land den Krieg begon­nen hat. Im Aus­wär­ti­gen Amt toben sie.«

Mey­rink beeilt sich. In drei Wochen schafft er den Text, den er für sich jetzt den »unsicht­ba­ren Roman« nennt. Aber, die Schuld­fra­ge sei ein »totes Pferd«, so Müh­sam zu sei­nem Freund. Denn mit der Ver­öf­fent­li­chung der Schuld­do­ku­men­te habe sich Eis­ner kei­nen Gefal­len getan. »Wir sind doch nicht besiegt«, schrei­en die Leu­te. Und der Eis­ner, »die­ser ver­schla­ge­ne, strup­pi­ge klei­ne Ber­li­ner Jude, beschmiert uns mit Dreck«. Müh­sam weiß mehr, er fragt Mey­rink, wer denn am hef­tig­sten gegen Eis­ner pole­mi­siert habe, und beant­wor­tet die Fra­ge selbst: Na, »Ihre Freun­de und Auf­trag­ge­ber, das Aus­wär­ti­ge Amt«! Wei­te­re Fra­ge: »Was steht in Ihrem Roman?«

Mey­rinks »unsicht­ba­rer Roman« erschien nie. Aber ein sicht­ba­rer, Anfang 1919, von Fried­rich Wichtl, einem öster­rei­chi­schen deutsch­na­tio­na­len Poli­ti­ker, unter dem Titel: »Welt­frei­mau­re­rei – Welt­re­vo­lu­ti­on – Welt­re­pu­blik«. Kein Roman, eine Pro­pa­gan­da­schrift, die vie­le Auf­la­gen erlebte.

Chri­stoph Poschen­rie­der: »Der unsicht­ba­re Roman«, Dio­ge­nes Ver­lag, 271 Sei­ten, 24 €