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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Nationalverfassungen contra EU-Nationalismus

Mei­ne ver­glei­chen­de Unter­su­chung wich­ti­ger Natio­nal­ver­fas­sun­gen in der Euro­päi­schen Uni­on (mit­hil­fe des »Wis­sen­schaft­li­chen Dien­stes« im Bun­des­tag, Az: WD 300 077/​16) ergab: Über­all, wo der Faschis­mus geschla­gen war, wur­den ein­an­der ähneln­de »rote Ver­fas­sungs­kei­me« (Abend­roth) erkämpft. In Ita­li­en, wo Alli­ier­te mit anti­fa­schi­sti­schen Par­ti­sa­nen die Wehr­macht ver­trie­ben hat­ten, floss 1947 am kon­se­quen­te­sten die Erkennt­nis in die Ver­fas­sung ein, von wel­cher Über­macht aus Mus­so­li­nis Faschis­mus hoch­fi­nan­ziert wor­den war. Seit­her »kann das Gesetz bestimm­te Unter­neh­men … die lebens­wich­ti­ge öffentliche Dien­ste … Ener­gie­quel­len betref­fen oder die eine mono­po­li­sti­sche Stel­lung inne­ha­ben … von Anfang an dem Staa­te, öffentlichen Körperschaften oder Arbei­ter- und Ver­brau­cher­ge­mein­schaf­ten vor­be­hal­ten oder auf die­se übertragen«. (Arti­kel 43)

Wirt­schafts­de­mo­kra­tisch, wenn auch divers, klingt es über­all, wo natio­na­le Arbei­ter­be­we­gun­gen vom Faschis­mus stran­gu­liert wor­den waren. Im deut­schen Grund­ge­setz sind in die­ser Hin­sicht bedeut­sam: das Angriffs­kriegs­ver­bot; die demo­kra­ti­sche Gewal­ten­tei­lung (die das EU-Recht kaum kennt); die Macht-Begren­zung des Finanz­ka­pi­tals (des­sen ter­ro­ri­stisch­ster Flü­gel, laut Dimit­row, im Faschis­mus an der Macht war) durch Arti­kel 14 und 15: »Grund und Boden, Natur­schät­ze und Pro­duk­ti­ons­mit­tel kön­nen zum Zwecke der Ver­ge­sell­schaf­tung durch ein Gesetz … in Gemein­ei­gen­tum … über­führt wer­den« (also Groß­ban­ken zu Spar­kas­sen, Woh­nungs­wirt­schaft öffent­lich recht­lich wer­den und Ähnliches).

Am 20. Juli 1954 prä­zi­sier­te das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt »die sozia­le Markt­wirt­schaft« – auch für Anti­im­pe­ria­li­sten rekla­mier­bar (damals bereits gegen die FDP!): »Die gegen­wär­ti­ge Wirt­schafts- und Sozi­al­ord­nung ist zwar eine nach dem Grund­ge­setz mög­li­che Ord­nung, kei­nes­wegs aber die allein mög­li­che.« Bis heu­te gilt dies und bleibt, wenn auch ver­schüt­tet, dem werk­tä­ti­gen All­tags­be­wusst­sein »unter­ge­mischt«; auch als Ver­tei­di­gung von Natio­nal­staat­lich­keit und Aver­si­on gegen die­se EU. Deren Lis­sa­bon­ver­trag will ein­zig den »unver­fälsch­ten Wett­be­werb« als kapi­tal­li­be­ra­le Wirt­schafts­ord­nung und ist wegen EU-Ein­stim­mig­keits­vor­satz irrever­si­bel. Daher for­dert der DGB, wenig­stens eine »Sozi­al­char­ta« zwi­schen ein­zel­nen EU-Natio­nen zu beschließen.

Wo schein­pro­gres­si­ve Sprech- und Schreib­agen­ten heu­te Natio­nal­staats­gren­zen zer­stö­ren wol­len, opfern sie unwei­ger­lich und meist wis­sent­lich, was Wil­ly Brandt, Wolf­gang Abend­roth und Kurt Bach­mann unter­schied­lich als »lin­ke Les­bar­keit des Grund­ge­set­zes« her­aus­ge­ar­bei­tet hat­ten – aber damit auch lin­ke All­tags-Denk­po­ten­tia­le. Engels for­mu­liert dies als: »Iro­nie der Welt­ge­schich­te … Die Ord­nungs­par­tei­en … rufen ver­zwei­felt ›die­se Gesetz­lich­keit bringt uns um‹ … wäh­rend wir … pral­le Mus­keln … bekom­men … wenn wir nicht so wahn­sin­nig sind, ihnen zu Gefal­len uns in den Stra­ßen­kampf trei­ben zu las­sen, dann bleibt ihnen zuletzt nichts ande­res, als selbst die­se ihnen so fata­le Gesetz­lich­keit zu durch­bre­chen.« (MEW, Band 22, S. 525) Und genau dies tut die EU! Zum Bei­spiel gegen Streik- und Tarifrecht.

Die libe­ral­dem­ago­gi­sche Ver­wechs­lung von »Pro-Euro­pa« mit dem EU-Impe­ria­lis­mus zielt vor­der­grün­dig gegen die anti­fa­schi­stisch erstrit­te­nen Sozi­al­staa­ten in den Natio­nal­ver­fas­sun­gen, denn »der Kapi­ta­lis­mus kolo­nia­li­siert die letz­te Pore der Lebens­welt« (César Ren­du­e­les: »Sozio­pho­bie. Poli­ti­scher Wan­del im Zeit­al­ter der digi­ta­len Uto­pie«, über­setzt von Paul Zelik, Suhr­kamp 2690, Vor­wort). In Wahr­heit aber sol­len so die »sozi­al­staat­li­chen Stütz­punk­te« im All­tags­den­ken aus­ge­löscht wer­den, damit anti­mo­no­po­li­sti­sche Auf­klä­rung dort kei­ne natio­na­le Anknüp­fung mehr fin­det: »Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Pro­le­ta­ri­ats gegen die Bour­geoi­sie zunächst ein natio­na­ler. Das Pro­le­ta­ri­at eines jeden Lan­des muß natürlich zuerst mit sei­ner eige­nen Bour­geoi­sie fer­tig wer­den.« (»Mani­fest der Kom­mu­ni­sti­sches Par­tei«, S. 473) Stimmt! Nur in sei­ner jeweils »natio­na­len Form« war pro­le­ta­ri­scher Kampf in sei­ner inter­na­tio­na­len Geschich­te jemals erfolg­reich, auch gegen reak­tio­nä­ren Nationalpopulismus.

Beson­ders anti­fa­schi­stisch wur­de die por­tu­gie­si­sche Natio­nal­ver­fas­sung mit der »Nel­ken­re­vo­lu­ti­on« 1974. Das por­tu­gie­si­sche Staats­ge­richt stütz­te sich 2016 auf sie und die Mas­sen­pro­te­ste und wies erfolg­reich die EU-Kür­zungs­dik­ta­te, etwa bei Leh­rer- und Rich­ter­ge­häl­tern, zurück (»… Unter­ord­nung der wirt­schaft­li­chen Macht unter die demo­kra­ti­sche Staats­ge­walt«, Art. 81).

Wäh­rend der Erset­zungs­pha­se Rajoys durch die sozia­li­sti­sche Min­der­heits­re­gie­rung war in Spa­ni­en wie­der ver­mehrt die Rede vom »Ver­fas­sungs­pa­trio­tis­mus«: »Die öffentliche Gewalt fördert … die für den sozia­len und wirt­schaft­li­chen Fort­schritt und für eine gerech­te­re Ver­tei­lung des regio­na­len und persönlichen Ein­kom­mens günstigen Bedin­gun­gen. Ganz beson­ders betreibt sie eine auf die Vollbeschäftigung aus­ge­rich­te­te Poli­tik.« (Art. 40 Abs. 1)

Die fran­zö­sisch-gaul­li­sti­sche Ver­fas­sung kon­kre­ti­siert (für »jeder­mann«, nicht nur für Fran­zo­sen): »… Rech­te und Inter­es­sen durch gewerk­schaft­li­che Tätigkeit zu ver­tei­di­gen … Jedes Vermögen, jedes Unter­neh­men, des­sen Bereich die Eigen­schaft einer natio­na­len öffentlichen Dienst­lei­stung oder eines tatsächlichen Mono­pols hat oder erlangt, muss Eigen­tum der Gemein­schaft wer­den.« Um 1981 Volks­front-Prä­si­dent zu wer­den, brach­te Mit­te­rand – und mit ihm Sozia­li­sten und Kom­mu­ni­sten – die­se Pas­sa­ge in aller Mun­de. Kürz­lich wur­de sie von »Gelb­we­sten« wie­der hochgehalten.

Auch das mit dra­ko­ni­schen Frei­heits­stra­fen bewehr­te »Angriffs­kriegs­ver­bot« (GG Art. 26) wur­de eine Verfassungs-»Idee, die die Mas­sen ergreift«; es wur­de sogar zum Wahl­pla­kat. Als näm­lich Wil­ly Brandt und die SPD als Frie­dens­par­tei 1972 unter der genia­len Wahl­kampf­füh­rung von Albrecht Mül­ler mit 45,8 Pro­zent das jemals beste Ergeb­nis ein­fuhr. Aber: Die­se Ein­gren­zung auf rei­ne Ver­tei­di­gung (Art. 87a Abs. 2) sowie der Par­la­ments­vor­be­halt (Art. 24) gegen jeg­li­chen Mili­tär­ein­satz müss­ten einem noch freie­ren EU-Impe­ria­lis­mus geop­fert wer­den, wür­de hier natio­na­les Recht in EU-Stan­dards übergehen.

In den EU-Wahl­kampf mit aus­ge­lei­er­tem Phra­sen­froh­sinn (»soli­da­risch, mensch­lich …«) zu zie­hen, gin­ge an den real­exi­stie­ren­den Vor­be­hal­ten der Werk­tä­ti­gen aller euro­päi­schen Natio­nen gegen die EU vor­bei. Es dürf­te zwar kurz inner­par­tei­li­che Kon­flik­te erlah­men. Aber auch Wäh­ler­schaft! (Wolf­gang Fritz Haug: »Der hilf­lo­se Anti­fa­schis­mus«, Suhr­kamp, 1967). Wo die Lin­ke die oben auf­ge­führ­ten, nur natio­nal­staat­lich absi­cher­ba­ren Ver­ge­wis­se­run­gen ver­nach­läs­sigt, tritt sie auch das damit ver­bun­de­ne All­tags­den­ken kampf­los ab: an kapi­tal­li­be­ra­le Medi­en­dem­ago­gen. Somit auch an die AfD.